Muß ein Engel immer artig sein?

Ulrich Bach, Kierspe-Rönsahl
Muß ein Engel immer artig sein?

Nachmittags, kurz vor fünf – und ich hatte immer noch keine Idee. Die Dame, die sich für 17 Uhr angesagt hatte, und ich kannten uns lange. Wir arbeiteten in verschiedenen Gruppen kooperativ miteinander. Plötzlich war Sand im Getriebe, es knirschte erheblich. Die Vorwürfe gegen mich und Verdächtigungen mußten ausgeräumt werden. Dazu die heutige Verabredung. Klar ist in solchen Lagen, daß man nicht sofort das heiße Eisen zur Sprache bringen sollte; vorher brauchen beide die Gelegenheit zu ein paar ungefährlichen Plauder-Sätzen. Das Wetter kam als Thema nicht in Frage, möglicherweise hätte sie das als primitiv und deshalb kränkend empfunden. Mit ihrem Sohn stand ich in direkter Verbindung, so war ich über sein Studium bestens informiert – auch er kam nicht in Frage. Was tun?

Punkt 17 Uhr schellt es. Immer noch ohne Einfall. Wie soll das nur werden!?  Ich öffne die Tür: „Oliver!“ „Da bin ich mal wieder.“ Blitzschnell  spult sich in meinem Kopf, rascher als im Zeitraffer-Film, unsere gemeinsame Geschichte ab, Olivers und meine. Oliver hatte ich vor wenigen Jahren konfirmiert; ihm war es zu „verdanken“, daß die zwei Jahre des kirchlichen Unterrichts in seiner Klasse für mich anstrengender wurden als alle anderen Jahrgänge. Oliver hatte im Alter von etwa acht Jahren einen schweren Verkehrsunfall, lag mehrere Wochen im Koma. Inzwischen sah man ihm seine Behinderung äußerlich kaum noch an, aber daß er zu der Gruppe gehört, die man heute „Menschen mit herausforderndem Verhalten“ nennt, bestätigt er Tag für Tag. Mehrere Unterrichtsstunden brachte er zum Platzen. Etwa an einem 6. Dezember; ständig brüllte er in die Klasse: „Wo‘s mein‘ Niklaus-Tütäää?“; zweimal rasch hintereinander, die letzte Silbe mit verstärktem Druck. Bis ich den „Stoff“ fallen und die Gruppe ihre Nikolauserlebnisse aus der Schule erzählen ließ. Es gab Stunden in denen mir die Gruppe sagte: dem müssen Sie einfach mal eine scheuern. Meine Antwort war die Wiederholung des Satzes. den ich in der ersten Stunde als Spielregel eingeführt hatte: „Bei uns darf jeder so sein wie er ist.“ Die Gruppe verstand es im Lauf der Zeit, mit diesem Satz umzugehen: Als ich gelegentlich einem Schüler seinen gekonnt geistreichen, aber den Fluß des Gesprächs sabotierenden Einfall mit einem schmunzelnden „Ich-zerreiß-dich-gleich-in-der Luft“-Blick quittiert hatte, sagte sein Kamerad, eingeleitet mit einem singenden „Herr Bach“: Bei uns darf jeder so sein wie er ist.

Als es auf die Konfirmation zuging, fragte die Klasse: Aber nachher geht der Unterricht doch weiter? Das sei nicht üblich, sagte ich, merkte aber, daß die Gruppe ihre Frage deutlich als Bitte gemeint hatte. Für die Kinder der Volmarsteiner Behinderten-Schule gehörten unsere Unterrichtsstunden fest in den schulischen Stundenplan. Darum war die Bitte der Konfirmanden für den Schulleiter kein Problem: Er musste für die wenigen Wochen zwischen Konfirmation und Schuljahresende keinen neuen Stundenplan erstellen. Die drei externen Kinder (aus Mitarbeiter-Familien) fragten ihre Eltern und bekamen ebenfalls grünes Licht. Wir trafen uns also weiterhin, bei gutem Wetter gelegentlich auch in unserem Garten. Als meine Frau einmal für jeden ein Schüsselchen mit Eis auftischte, war das natürlich ein besonderer Höhepunkt der zwei Jahre.

Aber auch zwei Jahre sind dann doch irgendwann zu Ende. Zur Schlußrunde trafen wir uns noch einmal im gewohnten Klassenzimmer; wie üblich sangen und beteten wir. Dann erzählte ich eine Geschichte, die ich vor Jahrzehnten erlebt hatte. Über sie kamen wir in ein intensives Gespräch. Zu meiner Freude fand die Gruppe heraus, daß als Überschrift unser Satz passen könnte: Bei uns / bei Gott, darf jeder so sein wie er ist. Nach einem Abschluß mit vielen guten Wünschen rollte ich aus der Klasse heraus und setzte mich auf der Flurseite neben die Tür, ich wollte allen noch einmal die Hand geben und jedem ein, zwei Sätze sagen. Als erster kam Oliver, hatte es aber nicht eilig, sondern stellte sich nach unserem Händedruck auf die andere Türseite und lehnte sich etwas schlaksig an den Türrahmen. Genau schaute er hin und hörte er zu, wie jeder einzelne sich von mir verabschiedete. Ursula, der Gymnasiastin, sagte ich, sie sei ja wohl in den zwei Jahren nicht auf ihre Kosten gekommen. Darüber solle ich mir mal keine Gedanken machen, sagte sie; sie habe in dieser Gruppe unheimlich viel gelernt. Als auch der letzte gegangen war, lehnte Oliver noch immer an der Tür. Sollen wir uns noch einmal verabschieden?, fragte ich. Und er: Wissen Sie, wie das ist? Wie auf  `ner Beerdigung. Die Gruppe hat dir gut getan, ja? Von Oliver kam nur:  wie auf `ner Beerdigung. Ich versuchte, ihm klarzumachen, daß bei einer Beerdigung der Abschied um so schwerer wird, je wichtiger der Mensch war, den man nie wieder erleben wird; ihm habe offenbar sehr gut getan, daß die Gruppe ihn so sein ließ wie er ist. „Wie auf `ner Beerdigung.“ Oliver lehnte weiter am Türrahmen. Nach einer Weile sagte ich: mir kommt gerade ein Gedanke. Oliver, könnte es dir vielleicht gut tun, wenn du mich einfach mal ganz feste drückst? Der Satz war kaum raus, da lag Olivers Kopf auf meiner rechten Schulter und an meinem Hals wurde es etwas feucht. Du, wir setzen uns noch mal in die Klasse. Ich gab ihm Taschentücher und wir saßen einfach beisammen mit wenigen sparsamen Sätzen. Nach kurzem schon war es so weit, daß wir uns verabschieden konnten.

Bald nach den Sommerferien schellt es mittags an der Tür. Oliver will mal nachschauen, wie es mir geht. Wir sitzen in meinem Zimmer mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser. Für ihn ist gerade die mittägliche Schulpause, da ist Gelegenheit zu solchen Besuchen. Er war nie sehr gesprächig, einfach nur ein lockeres Hin-und-Her; dann wird es Zeit zur nächsten Schulstunde. Diese Besuche wiederholte Oliver von Zeit zu Zeit; gelegentlich brachte er die Flasche Wasser schon mit. Inzwischen ist er von Volmarstein weggezogen, unser Kontakt findet jetzt stärker übers Telefon statt. Nur wenn er sowieso gerade in Volmarstein ist, macht er auch schon mal, so wie heute, einen Abstecher zu mir: Da bin ich mal wieder.

Oliver verstand sofort meinen Hinweis darauf, daß ich gleich einen unaufschiebbaren Termin hätte, wollte direkt kehrt machen; aber wir plauderten dann doch miteinander, bis es erneut schellte. Die Besucherin fragte ich, ob sie sich an das Gesicht des jungen Mannes erinnern könne. Das zwar nicht; aber sie ging sofort, gelernte Pädagogin, mit interessiertem Fragen auf meine knappen Angaben ein. Wir mussten achtgeben, nicht zu ausführlich zu werden, wir hatten ja ein anderes Thema. Als wir dieses angingen, zeigte sich, daß das Oliver-Thema hervorragend den Boden bereitet hatte für ein offenes, verständnisvolles, eine faire Lösung suchendes Gespräch.

Abends dachte ich zurück an den Tag; klar wurde mir: Heute hat mich ein Engel besucht. Oliver war keineswegs eine Art „ Sargnagel“, wie es mir vor Jahren nach besonders drastischen Erlebnissen mit ihm in den Sinn kommen konnte; vielmehr war er der Engel, mit dem mir Gott über eine Blockade hinweggeholfen hat. Ich kann mir einen besseren „Einstieg“ in unser schwieriges Gespräch, auch wenn ich mir Mühe gebe, nicht vorstellen. Oliver „paßte“ einfach vorzüglich zu diesem Gast, zu unserer schwierigen Gesprächs-Situation, und er kam zum schlechthin idealen Zeitpunkt.

Beim weiteren Nachdenken kam mir ein Oliver-Erlebnis in den Sinn, an das ich länger nicht gedacht hatte. Das war am Tag der Konfirmation; wir trafen uns eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes in der Sakristei zur inneren Sammlung, zu letzten Absprachen, zum Gebet. Oliver stand links halb hinter meinem Rollstuhl. Plötzlich beugte er sich zu mir: Herr Bach, wissen Sie, daß Sie einen Platten haben? Ich fühle nach. Stimmt. Auch das noch! Dazu machte er ein „unschuldiger-Engel“-Gesicht, wie er das nach Dummheiten perfekt konnte. Ich wollte und konnte ihm nichts beweisen; jetzt mußte jemand organisiert werden, der mir das Rad wieder aufpumpte. Übrigens hielt diese Luft mehrere Wochen; es kann also kein Schleich-Platten gewesen sein, es mußte jemand das Ventil geöffnet haben. Jetzt im Rückblick denke ich: War Oliver in diesem Augenblick nicht ebenfalls mein Engel? Hatte er mir nicht auch dieses Mal aus einer Blockade heraus geholfen? Denn eins ist mir immer klar gewesen: Konfirmations-Gottesdienste sind bei mir mit einem enormen Druck verbunden (bist du deiner Verantwortung gewachsen? Hast du die Gruppe richtig vorbereitet, was immer man unter „ richtig“ verstehen mag?).

Dieser Druck kann mich geradezu blockieren in meinem Verhältnis zur Gruppe: Ich, der wichtige Verantwortungs-Träger, dort die, „Kleinen“, für die ich Verantwortung trage. Jetzt der Platten! Mit einem fast hörbaren „Peng!“ stieß er mich von meinem stolzen Podest. Verantwortung hin, Verantwortung her, jetzt sind plötzlich wir alle darauf angewiesen, daß andere Verantwortung für uns übernehmen. Ich habe es sogar nötig, daß mir jemand kompetent Luft in den Reifen pumpt. Oliver sorgte dafür, dass ich mit den anderen wieder eine Gruppe wurde. (Diese Nähe spürte man im Gottesdienst offenbar deutlich; so wurde mir nachher von verschiedenen Seiten gesagt). Ja, Oliver war auch an dem Tag, an dem ich ihn konfirmierte, Gottes Engel für mich. Wirklich?, das Öffnen des Ventils war aber doch ein ausgesprochen ungezogener Dummer–Jungen-Streich!  Ja und?, dürfen Engel denn niemals Unfug treiben?

Neuere Rasiertexte

Ulrich Bach
Neuere Rasier- (und andere Kurz-) Texte

Bin vierundsechzig,
und jetzt: Lungenentzündung.
Nach vierzehn Tagen
zum ersten Mal wieder
einige Minuten im Rollstuhl.
Nach einer Viertelstunde
fragt mein Sohn:
Wie ist es Dir jetzt?
Vielleicht lachst Du, sage ich,
aber es ist so:
Ich bin stolz,
daß ich
schon wieder so viel leiste.
Na, siehst Du!, sagt er
und hilft mir zurück ins Bett.

(Okt. 1995)


Zug um Zug sein Leben verpassen

Weil niemand merken sollte: er kann nicht tanzen,
schlug er die begehrte Einladung zur Party aus.
Er war ein Kauz.

Er fürchtete, in sein Haus könne eingebrochen werden;
darum ließ er es in Flammen aufgehen.
Er war krank.

Er hat Angst, sein Augenlicht verlieren zu können;
das macht ihn kopflos.
Er ist normal.

(1996 / 1998)

Meine Serviette als Siegertreppchen

Schließlich fanden wir doch zum Hotel.
Bis kurz vor Luxemburg – kein Problem.
Dann aber – offenbar verpaßten wir eine Abfahrt.
Nach etlichem Hin und Her fanden wir’s doch.
Netter Abend mit letzten Planungen für „morgen“.
Am nächsten Tag dann das Treffen der Kranken-Seelsorger.
Meine These: Krankenseelsorge beginnt bei Gesunden:
Wer als Gesunder glaubt: Hast du was, bist du was,
der muß sich wie ein „Mensch zweiter Wahl“ vorkommen,
wenn er die Gesundheit verlor.
Lange sprachen wir über: Ich habe, also bin ich,
und über: Ich werde gehalten, also bin ich.
Glaube kontra Leistungsideologie,
Kirche nicht als gesellschaftlicher Stabilisator,
sondern als humane Kritik, als Lobby der „kleinen Leute“.
Ein langer Tag, gute Gespräche, ehrliche Begegnungen.
Dann waren wir eingeladen zum Abendessen im Leitungsteam.
Mehrere Gänge, fast nicht mehr diakonisch,
trotzdem (oder deshalb) – es schmeckte vorzüglich.
Spät abends,
als meine Frau mir vom Rollstuhl ins Bett half:
Was hast Du denn da?
Auf meinem Schoß lag die vornehme Stoff-Serviette
aus dem Restaurant, fünf Stockwerke tiefer.
Ich hatte vergessen, sie wieder auf den Tisch zu legen.
Geklaut hatte ich sie also nicht – ehrlich.
Aber sie zurückgeben? – Kommt nicht in Frage!
Rollstuhl kann auch gewisse Vorteile haben.
Wer hat schon zu Hause
eine Hotel-Serviette, die er nicht klaute?
Ich, ich habe eine!
So ‚was hat so rasch kein zweiter.
Und manchmal,
wenn meine Frau mir eine besondere Freude machen will,
legt sie mir abends
meine luxuriöse Luxemburgische Serviette neben den Teller.
Und tief innen
spüre ich in mir eine diebische Freude:
Hast du was, bist du was!


Nachruf

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?
      Zwei Sträußchen Blumen
      – immerhin –
      lagen dabei.

Gabriele Z.,
seit sieben Monaten lebte sie bei uns,
auf der vierten Etage des Altenheims.
Eine der Altgewordenen,
für die man sonst keinen Platz hat:
Altenheim, Etage vier, Endstation.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z., eine von denen,
die man „altersverwirrt“ nennt.
Was die einem so alles erzählen!
Das Personal ist knapp.
Wer soll zwischen Betten und Waschen
und Füttern und Abtopfen
denn zuhören können
auf all diese Geschichtchen?

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z. eine der vielen:
schrullig wie manche,
mit persönlicher Note, wie man’s öfter erlebt.
Sie behauptete, was keiner sonst sagte:
Sie sei Sekretärin gewesen,
in Düsseldorf sei sie Sekretärin gewesen.
im Ministerium.
Geschichten. Hinfällig. Verschroben.
Jeder, der’s hörte,
empfand ‚was wie Mitleid.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z., vor acht Tagen gestorben.
Außer den Bestattern vier Menschen noch,
die ihr die letzte Ehre erwiesen:
der Pfarrer, zwei Mitarbeiterinnen von vier,
der Organist.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z., der Nachlaß –
machte keinerlei Mühe.
Viel zu regeln gab es nicht.
Doch da fand sich ein Brief, handgeschrieben.
Ein handgeschriebener Brief, zwei Seiten lang,
geschrieben und unterschrieben
vom damaligen Innenminister des Landes.
Der freundliche Herr
bedankte sich;
dankte für jahrzehntelange treue Dienste;
für die Dienste unserer Frau Gabriele Z.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?
    Zwei Sträußchen Blumen
    – immerhin –
    lagen dabei.

(Volmarstein 1992; Rönsahl 2008)


Die Gerechten

Menschen stehen vor dem Haus,
beratschlagen: Was können wir machen?
Aus dem Haus dringt Qualm
und die Stimme einer älteren Frau:
Hilfe, Hilfe!
Jedenfalls erst mal klingeln!
Man schellt, man klopft, man ruft,
schellt erneut.
Einer geht los, Polizei
und Feuerwehr zu informieren.
Ein junger Mann kommt vorbei.
Da schreit doch einer!
Er tritt eine Scheibe ein,
verschafft sich Zugang.
Schon bald öffnet sich die Haustür.
Der junge Mann schiebt die alte Frau
im Rollstuhl ins Freie.
Die schimpft sofort gegen die Gruppe los:
Und warum haben Sie mit nicht geholfen?
Wir nicht geholfen? Geschellt haben wir,
geklopft, gerufen,
Feuerwehr und Polizei alarmiert –
was sollten wir denn noch?!
Einfach tun, was der Junge tat;
den könnt Ihr Euch zum Vorbild nehmen.
Den – zum Vorbild – wir?
Sind Ihnen denn etwa
seine Fingernägel nicht aufgefallen?
So etwas Ungepflegtes!

(7.4.05)


Wenn Sie als Rollstuhlfahrer jünger aussehen als Sie sind, und Sie sagen Ihrem Gegenüber auf seine Frage nach Ihrem Alter wahrheitsgemäß „67“, und Sie sehen seinen mitleidig-ratlosen Gesichtszügen an, wie es in ihm klarer und klarer wird: ‚mit Zahlen kann der also auch nicht umgehen‘, dann, sage ich, dann spüren Sie wieder einmal: das Leben ist mehrschichtig interessant.

(August 1998)


Irma schickte mir ein altes Urlaubs-Foto:
links im Bild, auf sonnen-hellem Sand,
ein verlassener Rollstuhl, mit „Blick“ zum See,
dessen ruhiger Ausläufer fast die Räder erreicht.
Im nahen Hintergrund: Wald und Gebüsch.
Gemeinsam hatten unsere Familien Südschweden besucht,
gern verbrachten wir halbe Tage am wenig besuchten See.
Martin hatte mich also ins Schlauchboot gehoben.
Wie so oft besuchte ich stundenlang Schilfinseln und Möwen,
genoß im Schatten des Ufers gegenüber
den Frieden dieser wie einladend schweigenden Landschaft.
Irmas Zeilen zum Foto:
„Bist Du einfach ausgestiegen?
Weggegangen über die Wellen?
Nahm eine Wildgans
Dich mit auf ihren Flügeln?
Hoffnung!“
Schön.
Gut tat das – .
Und dennoch: Hoffnung?
Diese Hoffnung kenne ich nur noch als Versuchung,
als Einladung zur Flucht aus meinem tatsächlichen Leben.
Ich mußte lernen, die Hoffnung aufzugeben,
wie Lagerlöfs Klein-Nils von Wildgänsen getragen zu werden
in traumweite Fernen,
oder über die Wellen zu gehen wie der Gottessohn.
Ich mußte lernen zu hoffen,
nicht etwa: den Rollstuhl lieben zu können,
aber: dem Rollstuhl zum Trotz
im Rollstuhl mein Leben zu lieben,
meine Tage sinnvoll gestalten zu können
– und Freunde zu finden, die meine Hoffnung füttern,
indem sie – zum Beispiel – ins Schlauchboot mich setzen. wie Martin.
Klar ist das und richtig.
Und trotzdem:
Irmas Zeilen sind schön.
Sie tun mir gut.
– Und das dürfen sie dann auch,
danke, Irma.

(2005 / 2006)

D e n k s t e !

Haben Sie sicher auch schon gehört:
Woanders soll’s ja nicht so sein.
In Spanien hat’s nicht so viel geregnet.
In Kanada ist viel mehr Einsamkeit.
Und in Schweden ist man zu Behinderten ganz anders.
Denkste!

Ich machte jetzt Urlaub in Schweden.
Einmal besuchten wir eine Ausstellung,
waren gerade wir wieder auf dem Parkplatz,
neben uns hielt ein schwedischer Bus mit jungen Leuten.
Ich sah, wie mich ein Mädchen anschaut,
dann die Hand vor den Mund hält,
dann ihren Vordermann anstupst.
Was sie sagt, kann ich natürlich, durch die Scheibe,
                        nicht verstehen.
Der Vordermann glotzt meinen Rollstuhl an,
und auch er hält sich die Hand vor den Mund.

Und ich?
Ich entdecke,
daß ich mich freue.
Zum ersten Mal in meinem Leben
freue ich mich
über solche blöden Blicke.
Zu Hause –
wie oft erlebe ich das da!
Aber in Schweden
soll’s ja ganz anders sein,
erzählten mir Bekannte.
Denkste!
Wie gesagt, ich hab‘ mich richtig gefreut.
Sozusagen für Deutschland gefreut.
Ich bin kein Nationalist,
bestimmt nicht.
Aber diese Fußtritt-Blicke auch in Schweden –
das hat mir richtig gutgetan.
Die kochen eben auch bloß mit Wasser.

Und dann öffnen sich die Türen,
und es strömt aus dem Bus
prustend und lachend.
„Eis gibt’s da vorne!“
„Toiletten sind hier links rum, hab ich schon vom
                        Bus aus gesehen!“
„Ich geh‘ mal erst ‚was kaufen!“
Da werde ich
innerlich
ganz kleinlaut.
Auch den Backfisch von eben
höre ich,
meine Muttersprache im Mund.
Was sollte ich jetzt denken?
Ich konnte nur noch
anderswohingucken.


Menschen
sind dir
– vielleicht –
anvertraut.
Nimm ihnen
das Gefühl,
sie seien dir
– bestimmt –
ausgeliefert.

(1986)


Das höchste Glück auf Erden ist ein Trostpreis.
Mehr als ein Trostpreis steht uns nicht zu.
Mehr als einen Trostpreis kann keiner erreichen.
Trostpreis – was willst du mehr?
In diesem Leben gibt es nur Trostpreise –
wer’s anders sieht, ist noch nicht aufgewacht.


S i e  erziehen Ihre Kinder doch sicher auch so.
Ich meine: Wichtig ist, daß sie einem Hitler
                            nie in die Hände arbeiten.
Wenn meine Tochter zu mir sagt: alter Blödmann,
dann schau ich in den Spiegel,
blinzele mir zu und sage oder denke:
Meine Tochter wenigstens wäre nichts für einen Hitler.
Denken Sie gewiß auch, wenn Ihr Sohn
Zwerg-Nelke zu Ihnen sagt oder so ‚was.
Nur:
Wer für einen Hitler nichts ist,
der ist eben  n i c h t s  für einen Hitler,
möglicherweise noch
eine Vorform von Seife.
Erziehen, versteh’n Sie,
erziehen ist ein heißes Geschäft.
Heißer jedenfalls, als mir lieb ist.
Soll ich also meine Tochter dazu bringen,
nichts für Hitler zu sein,
auf die Gefahr hin,
daß man eines Tages,
falls es einen zweiten Hitler gibt,
Seife aus ihr macht oder eine Rauchwolke?
Oder soll ich mich bemühen,
für alle Fälle,
sie dahin zu bringen, geeignet zu sein,
aus anderen Menschen
Rauchwolken zu machen?
Man selbst
– immerhin –
könnte überleben dabei.
Überleben – um solchen Preis?
Ein heißes Geschäft,
so oder so,
ist das Erziehen.
Heute jedenfalls macht es mich froh –
oder bin ich nur mutig?
Seien wir mutig und sagen:
Heute macht es mich froh,
wenn meine Tochter zu mir sagt:
alter Blödmann du.


Wenn ein Halbsatz, den ein Behinderte mir sagte –
gerade finde ich den Zettel, auf den ich den Satz vor Jahren schrieb –
wenn ein solcher Satz mir wichtiger sein kann
als ein Buch, das ein Nichtbehinderter schrieb –
sagen Sie selbst –
Dann kann mein Schreibtisch
doch nicht aufgeräumt sein.


Das sind Erinnerungen.
Ich konnte schon laufen,
als Hitler an die Macht kam.
Ich konnte noch laufen,
als er sich –
      nach Tausend Jahren –
die Kugel gab.
Das sind Erinnerungen.


Volkstrauertag.
Friedhöfe mit namenlosen Gräbern,
Bundestage mit Rednern ohne Gesicht –
was eigentlich ist schlimmer?
Frage zum Volkstrauertag.


Weihnachtswunsch 1990

Vor wenigen Tagen
erreichte mich
aus einer kirchlichen Chefetage
– so etwas gibt es –
ein „Weihnachtsbrief 1990“.
„Ein Jahr der Wunder Gottes
liegt hinter uns.“
So beginnt dieser Brief.
Dann geht es weiter mit
„Öffnung der Grenzen“
und „Fall der Mauer“ und
„politischer Einheit“.
Danach dann noch einmal:
„Es war ein Jahr
der Wunder Gottes!“

Nun weiß ich,
endlich,
was ich mir wünsche
und denen, die ich mag:
Ein Christfest,
das ein
„gesegnetes“
genannt werden könnte,
weil wir Menschen finden,
mit denen zusammen
wir die Verwegenheit wagen,
dem Seichtsinn zum Trotz
„Christi Narren“ zu sein,
die bei „Wundern Gottes“
immer noch
an Bethlehem denken
und Golgatha.

(20.XII.1990)

Mt 25 – … und ich will bei euch wohnen

Evangelischer Kirchentag Berlin
(Regional-Kirchentag 1987 in Ost-Berlin)

Kirchentags-Losung: … und ich will bei euch wohnen

Bibelarbeit  über  Matthäus  25
Ulrich Bach

Liebe Schwestern und Brüder,

zwar möchte ich Sie nicht sofort zu Beginn dieser Bibelarbeit hinauskomplimentieren, möchte aber dennoch die Frage stellen: Meinen Sie wirklich, Ihr Herkommen habe sich für Sie gelohnt? Kirchentag – gut und schön, vielleicht mehr noch: großartig. Beim Kirchentag eine Arbeits-Gruppe zur Diakonie – ebenfalls eine unter sämtlichen Aspekten nur zu begrüßende Angelegenheit. Innerhalb der Arbeits-Gruppe Diakonie eine Bibelarbeit – dieses scheint mir sogar besonders positiv zu vermerken zu sein: Ist denn die Diakonie nicht oft in Gefahr, die finanziellen Möglichkeiten und Sorgen, die gesetzlichen Grundlagen, die organisatorischen Schwierigkeiten und die personellen Engpässe so intensiv zu bedenken und zu diskutieren, daß für einen ausführlichen Blick in die Bibel kaum noch Zeit bleibt – vielleicht manchmal auch kein Interesse? Bibelarbeit – also auch zu begrüßen. Aber – und jetzt kommt’s – eine Bibelarbeit ausgerechnet über Mt 25, muß das wirklich sein? Diesen Text dürfte doch jeder kennen. Und wer auch nur ein kleinwenig diakonisch interessiert ist, kennt ihn bereits als einen der zentralen Diakonie-Texte: Die Notleidenden als Jesu geringste Brüder, und wir werden am jüngsten Tag nicht gefragt, ob unser Glaube immer stimmte, sondern ob wir wirklich den ärmsten Brüdern Jesu gedient haben. Ich darf gewiß davon ausgehen, daß jeder von Ihnen mindestens eine Predigt oder einen Vortrag über die diakonischen Impulse dieses Kapitels gehört hat. Lohnt es sich, diese Dinge nun noch einmal auszubreiten?

Mag sein, das lohnt sich tatsächlich nicht. Und trotzdem behaupte ich, es lohnt sich, dieses Mt-Kapitel noch einmal sehr aufmerksam zu lesen. Denn es könnte ja sein, daß Mt in diesem Text etwas ganz anderes predigt. Und nun sage ich Ihnen meine Grund-These zu diesem Kapitel, vielleicht sind Sie sehr überrascht, vielleicht denken Sie, Sie hörten nicht richtig, ich meine es aber wirklich so: In dem Kapitel Mt 25 werden wir Christen nicht aufgerufen, uns um die Notleidenden zu kümmern, weil diese von Jesus seine „geringsten Brüder“ genannt werden; vielmehr bezeichnet uns Jesus hier als seine geringsten Brüder, mutet uns zu, in dieser Welt so erbärmlich arm zu sein, daß sogar Nicht-Christen zuweilen für uns sorgen müssen, und er erklärt sich mit uns auf Gedeih und Verderb solidarisch.

Natürlich muß das recht ausführlich begründet werden. Bevor ich aber einzelne Argumente bringe, möchte ich Sie an Zeichnungen erinnern, die Sie gewiß kennen, an Zeichnungen, die plötzlich „umspringen“. Ich denke etwa an das Bild: ‚zwei Gesichter oder ein Kelch?‘ Stellen Sie sich ein schwarz umrandetes Quadrat vor; darin sind rechts und links zwei Gesichter gezeichnet, Profile, die einander anschauen. Wichtig ist zweierlei, daß nämlich die Profile sauber symmetrisch gezeichnet sind, und daß zweitens beide Gesichter tief schwarz eingefärbt sind, während die Fläche zwischen den Gesichtern weiß bleibt. Sie schauen das Bild an: klar, zwei Menschen schauen einander an. Und plötzlich kann das Bild umkippen: Das sind ja gar nicht zwei Gesichter, das ist ein Kelch. Plötzlich sehen Sie also nicht die schwarzen Flächen als die vom Zeichner gemeinten Gegenstände – und dazwischen ist freier weißer Raum, sondern dieses Weiße erkennen Sie als den Gegenstand, um den es hier geht: einen schönen weißen Kelch vor schwarzem Hintergrund. Dann brauchen Sie sich nicht viel Mühe zu geben, um das Bild erneut umspringen zu lassen: Sie sehen wieder zwei Gesichter. Beide Bilder sind möglich, und es ist gar nicht so einfach zu entscheiden, welches das richtige, das vom Zeichner eigentlich gemeinte ist.

Ähnlich verhält es sich bei Mt 25. Schauen wir uns das bekannte Bild an: Jüngster Tag, alle Menschen erscheinen zum Gericht, und für den Welten-Richter Jesus ist die Frage entscheidend: Wer von uns hat den Notleidenden ihre Not gelindert? – Ich stelle drei Fragen: Wer wird geprüft? Alle Menschen, auch wir Christen. In welcher Rolle sind wir zu Lebzeiten? In der Rolle der einigermaßen Reichen; wenigstens sind wir so gut gestellt, daß wir den Hungernden zu essen, den Frierenden Kleidung geben können; daß wir nicht eingelocht sind, sondern so viel Freiheit haben, Gefangene zu besuchen. Und drittens: Was sollen wir Christen als die Haupt-Aussage dieses Textes hören? Den ethischen Appell: Ruht euch nicht aus auf eurer Rechtgläubigkeit, auf euren Missions-Erfolgen, auf eurer Geduld im Leiden. Nicht danach werdet ihr am Jüngsten Tag gefragt, sondern nach euerm Reagieren auf die Not der Notleidenden; bildet euch nicht ein, durch Taufe, durch den Christus-Bund, auf ewig Jesu Brüder zu sein; Jesu Brüder sind die Geringsten dieser Welt, die Notleidenden, für die ihr sorgen sollt; tut ihr das nicht, dann seid ihr auf ewig verloren. – Nun versuchen Sie bitte einmal, das Bild umkippen zu lassen: Jüngster Tag, der Weltenrichter Jesus kommt, und in seiner Nähe sind wir Christen: ärmlich, abgemagert, sehr gering. Vor dem Weltenrichter stehen die anderen, die Völker, die Heiden. Sie werden gerichtet, nur sie; im Blick auf sie ist die Frage von entscheidender Bedeutung: Wer von ihnen hat zu Lebzeiten einem von uns, einem dieser jämmerlich armseligen Christen seine Not ein bißchen gelindert? Stellen wir auch bei diesem Bild unsere drei Fragen von eben. Wer wird geprüft? Nur die Heiden, nicht alle Menschen. (Wir Christen wurden vorher schon geprüft, oder wir werden anschließend geprüft, auf jeden Fall nicht jetzt.) In welcher Rolle sind wir zu Lebzeiten? In der Rolle der Hungernden, der Frierenden, der Kranken und Gefangenen – kurzum: wir sind die Geringsten. Und drittens: Was ist die Haupt-Aussage des Textes, die wir Christen hören sollen? Der tröstende Zuspruch: Mögt ihr noch so gering sein, ihr seid die Brüder Jesu und bleibt in Ewigkeit Jesu Brüder, mit denen er sich so sehr solidarisiert, daß für einen Heiden die Entscheidung über ewiges Leben oder ewigen Tod von der Frage aus entschieden wird, ob er -auch wenn er eurer Botschaft nicht glaubte- euch in eurer Not beigestanden hat.

Zwei total verschiedene „Bilder“ bzw. Aussagen. Und wie bei der Zeichnung ‚zwei Gesichter oder ein Kelch?‘ ist es auch hier nicht einfach zu entscheiden, welche Sicht die richtige, die von Matthäus gemeinte, ist. Ich behaupte: Die zweite Sicht wollte der Evangelist predigen: Er will uns ansprechen als die „geringsten Brüder“ Jesu, er will uns trösten mit dem Zuspruch, daß Jesus auch in unserer größten Not alle Tage bei uns ist bis an das Ende der Welt. Oder als These formuliert, die ich anschließend mit einigen Argumenten stützen möchte: In Mt 25, 31ff geht es um die „Aussage“, daß nicht nur Jesu armseliges Bodenpersonal (seine mickrigen Apostel, seine Kirche in Ketten, seine geringsten Brüder) das Reich ererben, sondern auch alle Heiden, die, ohne an Jesu Botschaft (bzw. die der Jünger) zu glauben, den Christen das Elend ein bißchen erträglicher gemacht haben.

Ich halte kurz inne und betone:
Mit dieser These ist eine Ekklesiologie („Lehre von der Kirche“) angelegt, die jedem noch so vorsichtigen Schritt in Richtung „ecclesia triumphans“ (triumphierende Kirche) schroff widerspricht. Darum ist es verständlich, daß wir dieser (schmerzenden) These gern ausweichen. Unsere Frage darf aber nicht heißen: was schmerzt, und wonach jucken uns die Ohren?, sondern nur: was predigt Matthäus in seinem 25. Kapitel wirklich? – Ich nenne nun einige Argumente für meine These, daß Matthäus in unserem Text predigen will: Christus hält seinen Jüngern, also seinen „geringsten Brüdern“, die Treue, auch wenn ihre Not so groß ist, daß sie Hilfe zuweilen auch von Heiden annehmen müssen.

Argument 1:

Laut Vers 32 werden sich „alle Völker“ vor dem Weltenrichter versammeln. Es geht hier also nicht um die Frage, ob alle Christen (alle Herr-Herr-Sager, Mt 7,21) in den „Himmel“ kommen oder nur diejenigen Christen, die den Willen Gottes tun (ib.); vielmehr geht es um die Frage, nach welchem Kriterium „alle Völker“ gerichtet werden.

Das scheint mir eindeutig so zu sein. Nicht sicher bin ich in folgendem: Mt scheint in seinem Evangelium vorauszusetzen, daß jeder Jünger ins Reich eingeht, falls er nicht in benennbarer Weise aus der Gnade herausfällt (dazu zwei Beispiele: der Geladene, der kein „hochzeitlich Kleid“ trug, Mt 22, 11-14; der Schalksknecht, als er den relativ geringen Betrag nicht erlassen konnte, Mt 18, 28-35). Könnte nun Matthäus andererseits vielleicht sagen wollen: Jeder Heide bleibt vom Reich ausgeschlossen, falls er nicht in benennbarer Weise für Christus etwas tut? Diese „Weise“ würde Jesus dann in unserem Text bestimmen: seine mickrigen Apostel speisen, sie im Gefängnis besuchen usw.

In unser Jahrhundert übertragen, hieße das etwa: Es geht nicht um die Frage, ob Bonhoeffer im Luftschutzkeller von Berlin-Tegel dem Gefängniswärter gelegentlich eine Zigarette anbot (und darum ins „Reich“ eingeht), sondern um die Frage, ob der Gefängnis-Beamte Briefe Bonhoeffers aus dem Gefängnis schmuggelte und darum ins „Reich“ eingeht, auch wenn er überzeugter Atheist war.

Argument 2:

Was meint das Wörtchen „diese“ (geringsten Brüder)? Ich versuche, mir das Bild von Mt 25 vorzustellen. Fünf Bild-Teile begegnen einander: a) des Menschen Sohn; b) seine Herrlichkeit (vielleicht identisch mit „a“?); c) seine Engel bei ihm; d) die „geringsten Brüder“; e) die Völker. Wenn es heißt: „diese“ geringsten Brüder, und wenn den Völkern gegenüber so geredet wird, dann können „diese“ geringsten Brüder nicht identisch sein mit den Völkern, auch nicht mit einem Teil von ihnen; sie müssen sich von ihnen abheben. Das Gericht ergeht also nicht an den Brüdern oder an einer größeren Einheit, von der die „Brüder“ nur ein Teil sind. Das Gericht ergeht – im Blick auf die Brüder! – an den Völkern.  Es werden also nicht Menschen nach den Konsequenzen des gehörten Evangeliums gefragt, sondern Menschen werden gefragt, ob sie (auch bei nicht gehörtem Evangelium, oder gar bei abgelehntem Evangelium) die mickrigen Brüder Jesu (etwa: den Apostel Paulus in Cäsarea) im Gefängnis besucht haben.

Auch hier wieder: So weit scheint mir die Sache eindeutig zu sein. Nur: Wo bringe ich die „geringsten Brüder“ innerhalb der Bild-Teile unter, die in den Versen 31 und 32 genannt sind? Die Völker (also „e“) kommen nicht in Frage (vgl. den vorangehenden Absatz). Der Menschensohn auch nicht. Aber sie müssen doch in den Versen 31 und 32 schon gegenwärtig sein, wenn das „diese“ einen Sinn hat (anderenfalls müßte es erwähnt werden, wenn sie erst mit Vers 40 aus der Kulisse auf die Bühne gezogen würden). Könnten sie also in den Stichwörtern „Herrlichkeit“ und „Engel“ mit gemeint sein? Immerhin gibt es im Judentum die Vorstellung (4 Esra 7,28), daß der Messias bei seiner Offenbarung von bestimmten Menschen begleitet wird (etwa von Henoch oder von Elias) (vgl. Strack-Billerbeck I 973).

Argument 3:

Nach der üblichen Interpretation muß man in den Versen 40 und 45 eine recht komplizierte Belehrung voraussetzen, weil nämlich in einem anschaulichen Satz gleichzeitig zwei Korrekturen enthalten sein müßten.

Ich denke zunächst an Vers 40: Herr X weiß am jüngsten Tage, daß er Y versorgt hat; er weiß aber weder, daß er Jesus, noch: daß er einen seiner Brüder versorgt hat. Ihm wird von Jesus zweierlei gesagt: 1.: Y ist mein Bruder, denn jeder Hilfsbedürftige ist mein Bruder; 2.: mit meinem Bruder solidarisiere ich mich so sehr, daß mir geholfen hat, wer Y geholfen hat. Entsprechendes gilt von Vers 45: A weiß, daß er B nicht versorgt hat: er weiß aber genau: Wenn der Weltenrichter ihm so begegnet wäre, daß für A ein Doppeltes klar sein mußte: der vor mir stehende B ist der Weltenrichter, und: dieser Weltenrichter hat jetzt Hunger, dann hätte „ich“ ihn versorgt. Jesus sagt zu diesem A: B war mein Bruder, denn jeder Hungernde ist mein Bruder; und: mit meinem Bruder solidarisiere ich mich so sehr, daß mir nicht zu essen gegeben hat, wer B, meinem Bruder, nicht zu essen gegeben hat.

Dagegen wird in meiner Interpretation durch Jesu Sätze (Vers 40 und 45) jeweils nur ein Punkt korrigiert: X und A wußten (im Gegensatz zu eben), daß sie es mit Jesu Brüdern (Missionaren, Freunden …) zu tun hatten (und die von ihnen Versorgten/nicht Versorgten scheinen sie jetzt in „diesen“ geringsten Brüdern problemlos wiederzuerkennen (vgl. oben: „Argument 2“); aber beide dachten: da haben wir es ja „nur“ mit seinen mickrigen Missionaren zu tun. Jesu einzige Korrektur (in beiden Versen): Mit meinen mickrigen Missionaren solidarisiere ich mich so sehr, daß mir (nicht) geholfen hat, wer einem von ihnen (nicht) geholfen hat.

Ergeht die Botschaft Jesu nicht überall in den Evangelien so eindeutig, so schlicht und verständlich, daß es höchst unwahrscheinlich ist, für unser Kapitel anzunehmen: in einem knappen und auf Anhieb doch verständlichen Satz sollen plötzlich zwei Korrekturen gleichzeitig verborgen sein?

Argument 4:

In meiner Interpretation wird es überflüssig, eine Geheimnis=volle Konstruktion aufzubauen, auf die man sonst nicht verzichten kann.
 

Daß Jesus sich mit seinen Jüngern (mindestens sofern sie seine Missionare sind) identifiziert, ist allgemein neutestamentlich: Wer euch hört, der hört mich; usw. Dogmatisch nennen wir das: Gegenwart Christi in seinem Wort (bzw. in Wort und Sakrament). Durch Mt 25 wird es in der üblichen Auslegung aber nötig, von einem „Geheimnis“ der „doppelten  Gegenwart Christi“ zu sprechen (etwa: J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, S. 148): „Identifizierung Christi mit der Gemeinde der Glaubenden“ („Wer euch hört, der hört mich“) und parallel dazu: „Identifikation des Weltenrichters mit den Geringsten“ („Wer sie besucht, besucht mich“) (Moltmann, aaO, S. 146) (diese doppelte Gegenwart Christi findet sich schon bei Wendland und bei Harbsmeier).

Müßte es uns nicht äußerst hellhörig machen, daß man sich für diese doppelte Gegenwart Christi immer nur auf Mt 25 berufen kann? Wenn sie sich sonst im NT nicht findet, findet sie sich dann wirklich hier? Diese verwegene Konstruktion erübrigt sich bei meiner Sicht: Christus identifiziert sich mit seinen Boten (sagt das NT auch sonst), und zwar umfassend (das unterstreicht diese Perikope): nicht nur, sofern die Boten predigen, sondern auch, sofern die Boten Menschen sind, die Hunger haben und Durst, die krank werden und im Gefängnis sitzen können: Christus solidarisiert sich total mit den Jüngern: Wer euch hört, der hört mich; und: Wer euch hilft, der hilft mir.

Gegenwart Christi in seinen Boten – ja!

Doppelte Gegenwart Christi – in den Boten und in den Geringsten – nein!

Sondern: Gegenwart Christi in seinen Boten ist seine umfassende Gegenwart in ihnen (Christus ist schließlich kein griechischer Idealist): seine Gegenwart in ihren Worten und in ihrem körperlichen Ergehen.

Argument 5:

Wo im Mt-Evangelium ist eigentlich die Rolle der Jünger eine ansehnliche Rolle? „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen…“ (Mt 5,11). Der Jünger ist ein ganz besonders typischer Jünger, wenn er eingelocht ist. Das Paradigma dazu ist Mt 11,2-6 (Johannes der Täufer im Gefängnis): Typisch für den Jünger ist nicht, daß Jesus ihn aus dem Loch befreit; typisch für ihn ist, wenn er in der Jesus-Jünger-Solidarität bleibt, obwohl Jesus ihn aus dem Loch nicht herausholt. (In Klammern: Wenn Matthäus die Perikopen Mt 10 und Mt 11 äußerlich nah aneinanderrückt, dürften für ihn auch Mt 11 und Mt 25 zusammengehören, da nämlich Mt 10 und Mt 25 ebenfalls eng miteinander verwandt sind, wie sich gleich noch zeigen wird; vgl. „Argument 6“.) Typisch für den Jünger ist, daß er zuweilen ohne Rock und ohne Mantel dasteht (Mt 5,40). Die Rolle derer, die wie Schafe unter die Wölfe geschickt werden (Mt 10,16), ist in der Tat keine ansehnliche Rolle. Es ist die Rolle der Bedürftigen, eine Rolle, die nur darum keine verzweifelte Rolle ist, weil der Vater dabei ist, der unsere Bedürfnisse kennt (Mt 6,32). Er ist „unser Vater“, der uns „heute“ das „tägliche Brot“ gibt (Mt 6,11), der die Haare auf unserem Kopf gezählt hat (Mt 10,30). Um das Reich dieses Vaters geht es in Mt 25 (vgl. Vers 34). Anteil an seinem Reich habe ich als einer der geringsten Brüder: ich bin nicht reich, sondern arm; ich bin nicht frei, sondern in Ketten; ich soll keine Vorräte anhäufen, sondern hoffen, daß mein Vater mir heute das tägliche Brot geben wird. Und zwar wird er es mir zuweilen geben durch die Hand eines Heiden (der wird mich speisen, tränken, kleiden, besuchen). Darin hat auch der Heide Anteil an dem Reich des Vaters.
Auch am Jüngsten Tag also wartet auf die Jünger kein Triumph; vielmehr: Heiden und sie gehen als Gleichberechtigte in das Reich des Vaters ein: der gefangene Apostel und der heidnische Gefängnis-Wärter, der ihm eine Essens-Ration zuschmuggelte. – Kurz: nicht der notleidende Heide ist Jesu Bruder; sondern der Not lindernde Heide ist ein „Gesegneter“: Er hatte die Chance, auch ohne Taufe Jesus zu dienen, und er hat diese Chance genutzt: Er ist nicht verloren, ihm ist das Reich „bereitet“ – diese Art Welt-Gericht über die Völker paßt zu dem, der die Feindesliebe gepredigt hat, Mt 5,44.

Argument 6:

Wenn sich im Mt-Evangelium an anderer Stelle klare Parallel-Aussagen wenigstens zu einem Teil unseres Textes finden, dann legt es sich zwingend nahe, diese andere Stelle zur Interpretation von Mt 25 mit heranzuziehen. Ich denke an Mt 10: Die Jünger werden ausgesandt, und eindeutig ist ihre Rolle die Rolle der Armen, der auf Speisung Angewiesenen: „Ihr sollt nicht Gold noch Silber noch Kupfer in euern Gürteln haben, auch keine Tasche zur Wegfahrt, auch nicht zwei Röcke, keine Schuhe, auch keinen Stecken“ (Mt 10, 9f). Spannend in unserem Zusammenhang sind besonders die Schlußverse des Kapitels: „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf… Und wer einen dieser Geringen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt darum, daß er mein Jünger ist, wahrlich, ich sage euch: es wird ihm nicht unbelohnt bleiben“ (Mt 10, 40a und 42). Da ist also wieder von der Armut der predigenden Jünger die Rede (a), aber nun werden zwei weitere Aussagen dazugestellt; und zwar Aussagen, die auch in Mt 25 begegnen (b und c). Also:

a) Es werden Leute genannt. die so arm sind, daß sie darauf angewiesen sind, aufgenommen zu werden, einen Becher mit frischem Wasser gereicht zu bekommen. Diese Armen werden in Vers 42 „diese (!) Geringen (!)“ genannt.

b) Es kommen andere zur Sprache, die solche armen Leute aufnehmen, bzw. die ihnen den Becher kalten Wassers geben.

c) Solches „Aufnehmen“ bzw. „Tränken“ wird „nicht ohne Lohn bleiben“ (Mt 10,42).

Wenn das keine Parallelen sind (Mt 10/Mt 25), dann weiß ich nicht, was Parallelen sind. In Mt 10 ist aber zweifellos klar: „Diese Geringen“ sind die von Jesus ausgesandten Jünger. Die Helfenden sind andere Leute; von diesen wird zwar gesagt, daß sie wissen: hier habe ich es mit einem Jesus-Schüler zu tun (vgl. Vers 42: „darum, daß er mein Jünger ist“); es bleibt aber völlig offen, ob sie die Botschaft Jesu in irgendeiner Weise angenommen haben. Den „Lohn“ jedenfalls bekommen sie nicht, weil sie vielleicht selber Jünger wären (davon findet sich keine Andeutung); den „Lohn“ bekommen sie ausdrücklich dafür, daß sie anderen, den geringen Jüngern Jesu, geholfen haben.

Mt 25 nicht in Parallele zu Mt 10 zu lesen, scheint mir völlig unmnöglich zu sein. Stattdessen dürfte klar auf der Hand liegen: Das Denk-Schema von Mt 10 (Nichtchristen werden „Lohn“ empfangen dafür, daß sie den „geringen“ Jüngern Jesu geholfen haben) ist auch das Denk-Schema von Mt 25.

Neben-Erwägungen

Außer den genannten sechs Punkten scheint es noch anderes zu geben, was das Bild abrundet, ohne allerdings in sich ein bedeutendes Argument zu sein. Ich denke an zweierlei:

a) Wenn meine These richtig ist, erledigt sich eine Frage von selbst, die ja häufig gestellt wird: Wieso sind diejenigen, die vor dem Weltenrichter stehen, eigentlich überrascht über den Maßstab, nach dem sie gemessen werden – die „Spielregeln“ für das Endgericht stehen doch seit den Tagen des Mt in unseren Bibeln? Hier liegt natürlich dann kein Problem vor, wenn die „Völker“ gar nicht mit der bibellesenden Gemeinde identisch sind (wenn die Gemeinde nicht einmal ein Teil der „Völker“ ist).

b) M.E. paßt meine Interpretation von Mt 25 ganz ausgezeichnet zu dem sich bei Mt findenden Universalismus, und zwar in dem Sinne, daß dieser Universalismus Mt 25 beleuchtet und auch umgekehrt. – Der schon in der Abraham-Verheißung angelegte Universalismus („in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“, 1.Mos 12,3) wird bekanntlich bei Mt mehrfach aufgenommen: Heidnische Sterndeuter finden als erste zum neugeborenen König (Kap 2); Gottes Heil ist nicht auf Israel beschränkt, es gilt auch dem „kanaanäischen Weib“ (Kap 15). Die Jünger sind bei diesem Übergang des göttlichen Segens auf die Heiden im allgemeinen nicht positiv beteiligt: Kapitel 2 waren sie noch gar nicht berufen; Kapitel 15 wirken sie eher bremsend: „Laß sie doch von dir, denn sie schreit uns nach.“ – In dieser Hinsicht spielt Kapitel 28 eine gewichtige Ausnahme: „Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker.“ Hier sind die Jünger diejenigen, die das Heil zu den Heiden bringen sollen. – Wenn meine These zu Kapitel 25 richtig ist, bedeutet dieser Text eine ergänzende Parallele zu diesem Jünger-Auftrag von Kapitel 28 und gleichzeitig eine auf die Jünger-Schar aktualisierte Parallele zu Kapitel 2. Zunächst zu Kapitel 25: Den Jüngern, die mit der Christus-Botschaft zu den Heiden gehen sollen, wird hier ergänzend gesagt: Auch wo ihr mit der Predigt nicht „landet“ (weil der andere sie ablehnt oder noch nicht versteht; weil ihr unterschiedliche Muttersprachen sprecht; oder weil ihr im Augenblick durch Krankheit oder Gefängnis am Predigen gehindert seid…) – auch da hat euer Zusammensein mit Heiden für diese Heiden Heilsbedeutung, wenn ihr die Rolle der Geringsten nicht verweigert, in der ihr auf Hilfe von Seiten der Heiden angewiesen seid. – Diese Rolle ist für die Kirche Christi keine imposante Rolle, aber sicher eine wichtige; auch der Satz: „Ihr seid das Salz der Erde“ (Mt 5,13), redet ja nicht von Ansehnlichkeit, nur von Wichtigkeit. Das Evangelium, der Zuspruch für die Gemeinde, liegt hier in der Brüderbezeichnung: Wenn ich, Christus, euch diese Rolle zumute, dann stoße ich euch damit nicht von mir, sondern ziehe euch in meine Nähe; ich habs euch doch vorgemacht (wenigstens Mt stellt die Dinge so dar; und damit komme ich zu Kap 2): Da lag ein Wickelkind, das mit seiner Predigt wirklich noch nicht „landen“ konnte; aber die Sterndeuter kamen in Kontakt mit mir, indem ich die Rolle dessen übernahm, der sich von ihnen beschenken ließ; und auch dazu waren diese Heiden brauchbar: sie verhinderten, daß Herodes mir vorzeitig auf die Spur kam; wenn ihr also die Rolle der Geringsten nicht verweigert (wenn ihr die Größe habt, klein sein zu können, so klein, daß ihr das Brot nötig habt, das euch ein Heide reichen kann), dann seid ihr Brüder des Wickelkindes, das ich vor 30 Jahren war, dann seid ihr meine Brüder. –  Das hieße: Mt spannt nicht nur den bekannten Universalismus-Bogen von Kap 2 zu Kap 28 (dieser Bogen vollzieht sich auf der Wort-Ebene: anbeten, Kap 2; predigen, lehren…, Kap 28), sondern einen zweiten Universalismus-Bogen zwischen Kap 2 und Kap 25 (und dieser Bogen vollzieht sich auf der Tat-Ebene, aber in der Weise, daß es um das Annehmen von Taten geht: Jesus ließ sich von den Heiden beschenken, Kap 2; die Jünger müssen sich von Heiden versorgen lassen, Kap 25). – (Den nächsten Gedanken setze ich vorsichtshalber in Klammern, da er mir selber etwas nach Spekulation „riecht“. Aber man kann tatsächlich den Eindruck gewinnen, Mt wollte erreichen, daß wir bei Mt 25 an Mt 2 zurückdenken. Denn fast im direkten Anschluß an unseren Text erzählt er von der verschwenderischen Salbung in Bethanien. Wo im Mt-Ev wird erzählt, daß Jesus „köstliche“ Gaben angenommen hat? Mir fallen nur diese beiden Stellen ein: Mt 2 und 26. Mt 26 halten die Jünger die Salbung für Vergeudung: das kostbare „Wasser“ hätte man verkaufen und das Geld den Armen geben sollen; Jesus aber nimmt das ihn verehrende Tun, das für heute einmal nicht an die Armen denkt, deutlich vor den Jüngern in Schutz: Mt 26,8-12. Sonderbar: Ausgerechnet in Mt 26 wird also die soziale Vollmundigkeit der Jünger von Jesus zurückgepfiffen; sollte er sie dann in Kap 25 selber haben auslösen wollen?! – Ein weiteres Argument von Kap 26 her: Wenn Jesus dort, V. 11, sagt: allezeit werdet ihr Kontakt mit Armen haben, nicht aber mit mir, dann kann Mt 25 niemals sagen wollen: ihr werdet allezeit Kontakt mit mir haben, denn ihr habt ja allezeit Kontakt zu Armen.) – So weit meine Argumente für die Richtigkeit der mehrfach genannten These.

Damit stehen wir allerdings vor einer weiteren Frage, der wir jetzt noch nachgehen müssen:

Was wird dann aber aus der Diakonie?

Natürlich muß uns bewußt sein: Mit meiner These würde einer Unzahl von Diakonie-Predigten, Diakonie-Vorträgen und Diakonie-Denkansätzen die geistig-geistliche Basis entzogen. Trotzdem aber behaupte ich zweierlei:

a) Wohl keine einzige unserer diakonischen Aktivitäten müssen wir abblasen. Das, was ich Ihnen vortrug, spricht absolut nicht gegen 3.-Welt-Programme oder gegen einen 100-Mark-Dauerauftrag zugunsten irgendeines diakonischen Projektes, auch nicht gegen kirchliche Krankenhäuser oder evangelische Behinderten-Einrichtungen. Nur: Das alles kann sich nicht auf Mt 25 berufen. Mt 25 ist in der üblichen Interpretation gewiß eine Bibelstelle, von der her sich das alles besonders leicht und anschaulich ableiten läßt (mag sein: in dieser Hinsicht sogar die brauchbarste, die am flottesten zu handhabende). Aber Mt 25 ist ja wirklich nicht (ganz gleich in welcher Interpretation) der einzige biblische Beleg dafür, daß die genannten Dinge wichtige Aufgaben für den einzelnen Christen und für die christliche Kirche sind. Also nicht: Abblasen der diakonischen Aktivitäten!, sondern: Für den Diakonie-Sonntag einen anderen Text wählen! Denn für diese Gelegenheit ist Mt 25 offenbar absolut unbrauchbar – mindestens auf den ersten Blick.

b) Mt 25 kann unserer Kirche dazu verhelfen, daß ihre Diakonie ein wirkliches Dienen bleibt, daß Diakonie ohne Herrschafts-Allüren und ohne Dünkel auskommt, daß sie als eine Spielart der Jesus-Nachfolge verstanden werden kann. Und hier sofort die Kehrseite dieser Behauptung: Mt 25 ist in der üblichen Interpretation eine zwar wohlschmeckende, aber den klaren Blick stark vernebelnde Droge mit katastrophalen Auswirkungen.

Ich sagte eben, Mt 25 sei bestimmt nicht der einzige Bibeltext, der uns (in der üblichen Auslegung) dazu verpflichtet, Notleidenden zu helfen. Aber er ist der einzige Text, der (in dieser Auslegung) als Begründung angibt: Im Notleidenden als einem Bruder Jesu dienen wir Jesus Christus. Und diese Begründung bedeutet für die Diakonie unserer Kirche m.E. die Gefahr einer absoluten Katastrophe. (Von einer zweiten Katastrophe will ich heute nicht weiter reden, die in der Abzielung des Helfens auf einen sicheren Platz im „Reich“ besteht. Denn erstens ist darüber endlos oft gesprochen worden; und zweitens – das mag die Folge von „erstens“ sein – ist diese Sicht der Dinge mindestens in der evangelischen Kirche vielleicht noch nicht „ausgestorben“; aber sie ist, wenn ich das richtig sehe, in keiner Weise mehr so wirksam wie die genannte Begründung). Warum ist diese genannte Begründung so katastrophal für die Diakonie unserer Kirche? Und auch hier sofort die Kehrseite dieser Frage: Inwiefern könnte Mt 25 in meiner Interpretation diese Katastrophe verhindern, reparieren, lindern? – Ich versuche eine Antwort:

„Christen helfen Notleidenden, denn die Notleidenden sind Jesu geringste Brüder, und wer ihnen dient, dient Christus“. In diesem Satz (bzw. in dem entsprechenden Denken) stehen sich Christen und Notleidende gegenüber. Normalerweise sind Christen demnach nicht krank, sondern sie bauen Krankenhäuser und ergreifen Pflege-Berufe. Schon die simple Tatsache, daß die ernsteren Christen (soweit sich das überhaupt so sagen läßt) auch in evangelischen Krankenhäusern zuweilen sich in den Betten befinden und nicht -pflegend- vor den Betten, schon diese Tatsache paßt nicht in unseren schönen Gedankengang; am liebsten würden wir sie verschweigen; wenn wir sie nennen, tun wirs nebenbei, gewissermaßen als Fußnote. Schwieriger noch wird für manche Christen eine andere Tatsache: daß gelegentlich ein in Not (Krankheit…) geratener Christ sich weigert, seine Situation als eine unnormale, von Gott nicht gewollte Situation anzusehen. Konkret: Seit Jahren behaupte ich, die beiden Umstände, daß ich nämlich einerseits auf den Rollstuhl angewiesen bin, andererseits aber hören und sehen kann, beide Umstände sind in gleicher Weise Lebensbedinungen, die Gott mir zugewiesen hat: beides hat den gleichen Abstand (Nähe, Ferne) zu Gott, Schöpfung, Sündenfall, Gnade und wie immer unsere theologischen Begriffe heißen mögen. Dieser Behauptung aber wird von manchen Theologen, auch von Theologen innerhalb der Diakonie, scharf widersprochen. Ich habe diesen Widerspruch lange nicht verstehen können. Die übliche Mt-25-Sicht macht mir das verständlich: Christen sind eben normalerweise im Gegenüber zu Notleidenden, zu Blinden, zu Rollstuhlfahrern. Unser Metier ist nicht der Hunger, sondern die Großküche, mit der wir Hungernde retten und versorgen. Macht uns dieses schöne und stabilisierende Fundament bloß nicht kaputt!

Damit Sie nicht denken, meine Phantasie sei soeben mit mir durchgegangen, nenne ich Ihnen eine Stilblüte aus jüngster Zeit: In der EKD-Umfrage von 1984 „Was wird aus der Kirche?“ findet sich (auf den Seiten 138/9) eine Aufstellung zu der Frage, für welche Zwecke die Befragten am liebsten etwas spenden würden: für Arme und Alte (74%), es folgen Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime (hier sind wir bei 55% angekommen); erst in beträchtlichem Abstand sind die Orgel in der eigenen Gemeinde (26%) und die Kirchengebäudeerhaltung (17%) genannt. Über diese Zahlen kann man sich gewiß nur freuen. Aber nicht mehr über den unüberbietbaren Kommentar: „Die Meinung ist eindeutig: Die Kirchenmitglieder würden ihr Geld eher für soziale und diakonische als für binnenkirchliche Zwecke geben“!! Das hieße doch: Alt-sein und Gefährdet-sein, Krank-sein und Erziehung-nötig-haben: das alles gehört nicht mehr in den „Binnen“-Raum der Kirche Jesu! Natürlich gerät es damit automatisch in Gefahr, in unseren Augen exotisch zu werden. Ob alte und gefährdete Menschen tatsächlich Randgruppen sind und bleiben müssen, ist eine Frage für sich. Was mich im Augenblick aufregt, ist dieses: Es gibt kirchliche Verlautbarungen, durch deren skandalöse Sprache solche Gruppen zu Randgruppen werden. Schlagen wir eigentlich nie mehr unsere Bibel auf? Im Alten Testament zum Beispiel ist das Bewußtsein lebendig, daß wir alle Fremdlinge „sind“ (!) (1. Chr.29); von hier aus veränderte sich dann das Verhalten der Israeliten zu den Fremdlingen in ihrer Mitte. Ebenso veränderte sich das Verhalten den Knechten gegenüber durch das Wissen: Von Hause aus sind wir alle Sklaven (zu diesen AT-Bezügen ausführlicher: U.Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, S.206). In dieser Linie sehe ich Mt 25: Von Hause aus „sind“ wir Christen arm und hungrig, frierend, krank und gefangen. Natürlich darf ich mich freuen, wenn das im Augenblick nicht auf mich zutrifft (wenigstens nicht alles gleichzeitig); aber „exotisch“ ist von alledem gar nichts. Die Erkenntnis, daß Armut und Gefängnis (und solche Dinge) von Hause aus unsere Rollen sind, läßt Diakonie nicht scheitern; im Gegenteil: Jetzt entweichen unsere geistlichen Blähungen; jetzt kann eine Diakonie ohne Dünkel wachsen; möglich wird nun wirkliche Solidarität.

Fatal ist also die Übertragung des Ausdruckes „geringste Brüder“ auf andere. Wer sind wir dann? Auf jeden Fall: weniger geringe Brüder, vielleicht auch gar nicht so geringe Brüder, sondern einfach „Brüder“; eindeutig also etwas Besseres als „die da“, als diese Notleidenden. – Wie bringen wir z.B. Mt 25 (die „geringsten Brüder“) mit Barmen III zusammen (Kirche ist eine „Gemeinde von Brüdern“)? Nach Barmen III sind Christen nichts Besseres: Wir sind in der „Welt der Sünde“ nicht die ganz oder halb Sündlosen, sondern die „Kirche der begnadigten Sünder“. Besser ist auf unserer Seite (wenn man angesichts der dick unterstrichenen Solidarität bei Barmen III überhaupt von „Seiten“ sprechen darf) ausschließlich: Wir können ein Lied davon singen, was Gnade heißt. Unser Standort jedoch ist keinen Zentimeter höher als der Standort der anderen. Dieser nüchterne Denkansatz müßte dann wohl beim Nachdenken über Diakonie sauber durchgehalten werden. Wie aber lautet eine Zwischenüberschrift in dem Votum des theologischen Ausschusses der EKU „Gemeinde von Brüdern“ (Barmen III, Band 2; 1981, Seite 118)? Im Abschnitt „Der Diakonat der ‚Gemeinde von Brüdern'“ (Seite 114ff) heißt es: „In der Diakonie tritt die ‚Gemeinde von Brüdern‘ in die Gemeinschaft mit den ‚geringsten Brüdern‘ Jesu ein.“ Wenn hier nicht an Oben/ Unten zu denken ist, dann mindestens an: weniger unten/ganz unten; das Stichwort „geringste“ wenigstens trifft nicht auf uns zu, sondern auf die, die auf uns angewiesen sind. Deutlich zeigt sich hier ein Gefälle und eben nicht mehr das auf-der-gleichen-Stufe-Stehen von Barmen III. – Haben Sie einmal erlebt, wie etwa in einem Pflegeheim bei Jahresfest oder Jubiläum in Vortrag, Predigt oder Grußwort plötzlich Mt 25 und speziell „die geringsten Brüder“ bemüht werden? Vor einiger Zeit bestand der Kommentar einer Zuhörerin darin, daß sie kopfschüttelnd den bekannten Satz zitierte, mit dem ein Westdeutscher Politiker ein Grußwort in Afrika begonnen haben soll: Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger! – Und das sind nicht nur einzelne Entgleisungen. Klopfen Sie doch einmal diakonische Grundsatz-Papiere daraufhin ab, ob Ihnen nicht in fataler Häufigkeit folgender Grundgedanke begegnet: Gott ist in Christus unterwegs zu den Menschen in Not. (Soweit ja richtig.) Der nächste Gedankenschritt: Diakonie heißt: „wir“ gehen diesen Weg Gottes mit (!). Merken Sie? Unter der Hand wird jetzt behauptet: die Notleidenden, zu denen Gott in Christus unterwegs ist, sind nicht wir alle, sondern irgendwelche „die da“ – eben „die geringsten Brüder“. Wir  aber gehören auf die Seite Gottes, der zu den Notleidenden unterwegs ist; wir sind nicht Objekte der göttlichen Diakonie, sondern deren Mit-Subjekte. Daß wir selber hilfsbedürftig sind; daß auch wir es nötig haben, daß andere den Weg Gottes zu uns mitgehen, alles das wird hier total ausgeblendet, könnte aber von Mt 25 her sofort vor Augen stehen. – Jesus und wir, ausstaffiert mit dem göttlichen Missions- und Diakonie-Auftrag, auf der einen Seite – und uns gegenüber die böse Welt, die es zu bekehren, und die geringsten Brüder, denen es zu helfen gilt: Wovor eigentlich haben wir Angst? Ist unser Glaube an die Liebe unseres himmlischen Vaters wirklich so gering, daß wir meinen, wir dürften auf diese schreckliche Konstruktion nicht verzichten?

Abschließend füge ich noch vier Schlußbemerkungen an:

a) Geht, wenn wir unser Helfen mit dem Hinweis auf die geringsten Brüder begründen, in denen wir doch Christus dienen, nicht die Selbstverständlichkeit unseres sozialen Tuns verloren? Unserem Ehepartner halten wir selbstverständlich die Tür auf. Einem Blinden halten wir auch die Tür auf; aber jetzt ist uns das ein Stück Reich-Gottes-Arbeit; jetzt dienen wir in diesem geringsten Blinden unserem Herrn Jesus Christus. Wird der Blinde dann überhaupt noch ernstgenommen? – Vor Jahren wurde in Volmarstein ein Diakonen-Schüler von einem Heim-Bewohner gefragt: Warum tust du das alles – sogar noch am Sonntag schreibst du Briefe für uns!? Antwort: Weil ich meinen Heiland so lieb habe. Da sagte der andere: ach du Scheiße, ich hatte gehofft, du hast uns ein bißchen lieb. – Ich behaupte: Diakonie ist nur dann Diakonie, wenn sie diese Reaktion des Heimbewohners bejahen kann.

b) Das zweite: Verunmöglicht nicht zuweilen schon unsere Aktivistensprache das Entstehen einer diakonischen Kirche, in der jeder gebend und nehmend sein darf? Dann wird aus dem neutestamentlichen „dienet einander“ der „Dienst“, der jetzt einseitig begriffen wird. Und neuerdings wird diese Einseitigkeit vollends festgezurrt durch die doppelt genannte Aktivität: Diakonie wird umrissen als „Hilfehandeln“ – jetzt muß ich stark sein; keinesfalls darf ich die Rolle des „geringsten Bruders“ übernehmen – ich wäre ja untauglich für jede Diakonie.

c) Erst, nachdem der Entwurf dieser Bibelarbeit fertig war, machte ich in der theologischen Literatur interessante Entdeckungen: Natürlich fand ich schon in der alten Kirche Belege für die bekannte Interpretation von Mt 25: Helft den Armen, dann helft ihr Christus. Daneben aber fand ich nachträglich auch andere Stimmen. Um 1900 gab es Exegeten, für die völlig klar gewesen ist: die „Geringsten“ von Mt 25 sind die Jünger; und nur beiläufig erwähnen sie andere Neutestamentler, die nicht dieser Meinung sind. Mehr allerdings gab mir zu denken, daß vor mehr als zehn Jahren ein in der Diakonie bekannter Autor die gleiche These (wenn auch mit recht anderer Argumentation) vertrat, die ich Ihnen heute vortrug; er hat das auch veröffentlicht (Dietfried Gewalt, Linguistica Biblica, Juli 1973). Warum hat man das nicht gehört? Ich fragte ihn: Hat das nicht eingeschlagen wie eine Bombe? Nein, hatte es nicht.

d) Damit bin ich beim letzten Punkt. Kann es sein, daß es in uns Sperren gibt? Geistliche Sperren? Oder sollten wir ehrlicher sagen: Religiöse Sperren? Wir auf der Seite Gottes, auf der Seite des Erlösers, wir als Mit-Retter der verkorksten Menschheit – ja! Ja natürlich, das gibt uns Auftrieb. Aber wir als die Geringsten, die Gottes Gnade nicht immer nur weiterreichen sollen, sondern selber auf sie angewiesen sind – das ist uns doch ein wenig zu mickrig! – Wovor eigentlich haben wir Angst? Brauchbar für Gottes Sache sind wir nur, wenn wir Nicht-Könner sein können wie die Kinder; wenn wir nicht Aktivisten sind, sondern Menschen mit leeren Händen; Menschen, die Gottes Gnade nicht haben, sondern erbitten. Bittet, so wird euch gegeben: Das ist kein Satz, schön für unsere „Klienten“; das ist ein Satz, nötig für uns alle.

Mt 25 – Jesu Kirche als Patientenkollektiv

Ulrich Bach
Jesu Kirche als Patienten-Kollektiv

25. Deutscher Evangelischer Kirchentag,
München (9. bis 13. Juni 1993)

(Kirchentags-Losung: Nehmet einander an)

Überlegungen zum Kirchentags-Bibelarbeits-Text Mt 25, 31 – 46

(Hinweis: Dieser Text war gedacht als eins von mehreren Referaten auf einem vorbereitenden „Kichentags-Bibelarbeiter-Treffen“. Da dieses Treffen kurzfristig abgesagt werden mußte, wurde mein Text als Kopie denen zugeschickt, die für eine Bibelarbeit zu Mt 25 vorgesehen waren.)

Meine Damen und Herren!

Sie kennen die Anekdote: Ein hochrangiger deutscher Politiker beginnt seine Rede in Afrika mit den Worten: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“ Was hat dieses Geschichtchen mit Mt 25 zu tun? – Da muß ich etwas ausholen: Unser Bibeltext hat mir lange Zeit Unbehagen bereitet. Ich konnte nicht sagen, was mich da störte, bis mir vor Jahren eine Mitarbeiterin ein Licht aufsteckte: Wir saßen da, eine recht große Gemeinde, beim Festakt zum soundsovielten Jubiläum eines Behinderten-Wohnheimes. Der Redner erging sich, wie es in der Diakonie keine Seltenheit ist, in dankbaren und lobenden Worten über unsere Behinderten-Arbeit, was man gern mit Mt 25 garniert: Die Mitarbeiter haben dem Ruf Jesu Folge geleistet und sich hingewandt zu Jesu „geringsten Brüdern“. Niemanden schien es zu stören, daß mit den „geringsten Brüdern“ ja wohl die Männer gemeint sein mußten, die, in ihren Rollstühlen sitzend, zahlreich im Raum zugegen waren. Zehn Jahre im Heim wohnen, das heißt also (der Festredner sagt es, und alle scheinen zuzustimmen): zehn Jahre „geringster Bruder“ derer sein, die vielleicht Brüder sind, aber beileibe keine geringsten Brüder. Nein, jemand stimmte nicht zu; die Mitarbeiterin, die hinter mir saß, brachte ihren Protest nicht laut vor, doch so, daß ich’s verstehen konnte; sie zitierte einfach jenen Satz: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“

Plötzlich war mein undefiniertes Unbehagen auf den Punkt gebracht: Mögen noch so viele diakonische Aktionen auf Mt 25 zurückgehen, da mischt sich noch anderes hinein, total Undiakonisches, etwas Stolzes, Dünkelhaftes, Abständiges: Wir, die einen: die Stärkeren, die Normalen, die irgendwie Besseren – die anderen: die Schwächeren, die nicht ganz Normalen, die – wie sagte Jesus so schön? – die „Geringsten“.

Hat Jesus das wirklich gesagt? Und mir fallen Situationen ein, die mir in dieser Hinsicht Unbehaben bereiteten:

a) Der Diakonen-Schüler, der von einem schwerbehinderten Mann im Wohnheim gefragt wird: Warum machst du das alles – noch an deinem freien Wochenende schreibst du Briefe für die, die nicht schreiben können! Antwort: Ich mach das, weil ich meinen Heiland so lieb habe. Noch heute freue ich mich über das, was er da zu hören bekam: Ach du Sch…!, ich hatte gedacht, du hast uns ein bißchen lieb.

b) Die EKD-Umfrage (1984). Da wird erkundet, für was die Befragten am liebsten spenden würden. Reichlich für Altenheime und Behindertenhilfe; spärlich für die Renovierung der Orgel. Der offizielle Kommentar: Man spendet lieber für diakonische Aufgaben als für „binnenkirchliche“ Zwecke! Das heißt also: Alte Menschen und behinderte Menschen kommen nicht im Binnenraum der Kirche vor; das heißt also: Von der Kirche Jesu können wir reden, ohne daß wir von Alten und Behinderten reden! Kein Wunder, daß diese Gruppen dann in die Nähe der Exoten geraten.

c) In den Kommentaren der EKU zu Barmen III gibt es Ausführungen zum Thema Diakonie, und hier bezieht man sich auf Mt 25. Interessant, wie man das beides zusammenbringt: die Kirche der Brüder (der Geschwister), Barmen III, und: die Sache mit den geringsten Brüdern, Mt 25. Wie das zusammenzubringen wäre, muß von Barmen III her klar sein: Wenn wir inmitten der Welt der Sünder die Schar der begnadigten Sünder sind, dann gibt es absolut kein Gefälle von oben nach unten: Wir sind nicht besser, wir sind allenfalls besser dran: wir können ein Lied davon singen, was Gnade heißt (die anderen sind nicht schlechter, sie hatten nur keine Gelegenheit, dieses „Lied“ kennenzulernen). Und der EKU-Kommentar? Er behauptet, Diakonie bestehe darin, daß die Kirche der Brüder Verbindung aufnähme zu den geringsten Brüdern Jesu! Die „Brüder“ auf dem Wege zu den „geringsten Brüdern“: plötzlich ist ein Gefälle da, in krassem Gegensatz zu Barmen (aber etwa in Übereinstimmung mit Mt 25?).

So also sieht es aus, wenn es die „Damen und Herren“ auf der einen, die „lieben Neger“ auf der anderen Seite gibt. Und damit sind wir – wieder einmal – abgerutscht in eine Apartheidstheologie: da stehen die einen oben, die anderen unten; da sind die einen Gott näher und lassen sich von ihm zu den anderen, zu den Ferneren, senden; da plant die „Kirche der Brüder“ ihren diakonischen Großeinsatz zugunsten der „geringsten Brüder“. Aber hat es Matthäus nicht tatsächlich so gepredigt? Hat er nicht gesagt: Am Jüngsten Tage werde Jesus kommen, und dann stehen alle vor ihm: Christen und Heiden? Hat er nicht gesagt, Jesus werde dann alle fragen, was sie getan haben, was sie den Menschen in Not, was sie seinen geringsten Geschwistern, getan haben? Hat er damit nicht gesagt, daß die Menschen in Not Jesu „geringste“ Geschwister sind? Nein, er hat etwas total anderes gesagt. Zunächst aber eine Zwischenüberlegung:

Von welcher Seite betrachten wir das gotische Fenster? 

Von wem der folgende Vergleich stammt, weiß ich nicht mehr (Karl Jaspers?), jedenfalls sieht er so aus: Da stehen viele Menschen an einem sonnigen Tage vor einem mittelalterlichen Dom. An dieser Stelle möchte ich den Vergleich sofort ändern und von einem mittelalterlichen, in gotischem Stil kunstvoll gebauten Hospital sprechen. Die vielen Menschen betrachten nun, herumrätselnd, die herrlichen farbigen Glasfenster des Hospitals, können sie aber nicht eindeutig erkennen. Da sie auf der Sonnenseite stehen, sehen sie nur dunkle, farblich kaum zu unterscheidende Flächen; sie kommen über ein kontroverses Fragen und Deuten nicht hinaus. Schließlich geht einer von ihnen in das Hospital hinein; jetzt ist er da, wo man Eiter und Verstümmelungen sieht; jetzt ist er da, wo es nach menschlichen Ausscheidungen und Ausdünstungen riecht; jetzt steht er auf der Schattenseite, was aber eben auch bedeutet: Er sieht die Fenster gegen den hellen Himmel, sieht die leuchtenden Farben der Fenster. Damit sind die Geheimnisse aufgelöst; die Bilder geben keine Rätsel mehr auf: dieses ist ein Weihnachtsbild, jenes eine Osterdarstellung, das sieht doch jedes Kind.

Aus welcher Perspektive lesen wir die Bibel, zum Beispiel Mt 25? Wenn wir auf der Sonnenseite stehen, können wir dieses Kapitel vielleicht nicht anders verstehen, als eben angedeutet. Das Bild ändert sich aber radikal für den, der im Hospital zu Hause ist; für den also, der davon ausgeht (das ist keine späte, einmalige, erst durch Mt 25 vermittelte Erkenntnis), daß Jesus sich mit den Verachteten und an den Rand Gedrängten solidarisiert. Mögen im Neuen Testament recht unterschiedliche Akzente gesetzt sein; eins wird nie behauptet: daß die Starken Gott näher seien als die Schwachen. Die Verachteten und Kleinen sind nicht etwa die „Ferneren“, zu denen die „Brüder“ gesandt werden; sie sind Jesu naher Geschwisterkreis. Sie sind ihm so nahe, daß die anderen entweder mit ihnen Jesu Gemeinde sind, oder sie sind es gar nicht.

Aber ist nicht auch dieses eine Art Apartheidstheologie, dieses Mal nur anders herum? Sind jetzt die Schwachen die „eigentlich“ zu Jesus Gehörenden, und die übrigen wären es nur indirekt? – Ich glaube, nicht. Ich glaube nicht einmal, daß man im Hospital sein muß, um das zu sehen, was diejenigen sehen, die im Hospital wohnen. Manche der draußen Stehenden warten geduldig bis zum Abend; wenn dann, nach Sonnenuntergang, die Kranken aktiv bleiben und etwas Licht machen, kann man auch von außen die Bilder erkennen. Man muß also vielleicht nicht selber ins Hospital gehen; nötig aber scheint zu sein, sich geduldig ein bißchen abhängig zu machen von den Kranken; darauf zu warten, daß die Kranken tätig werden und dadurch den Gesunden die Augen öffnen. Kurz: Nötig ist heute für uns alle, für Kirche und Theologie, ein Perspektivenwechsel. Es ist der gleiche, von dem unsere Geschwister in Lateinamerika reden: das Evangelium von den Armen her lernen. (Das ist kein lateinamerikanisches Thema, das ist ein ökumenisches Thema.)

Nehmen wir also dieses „Glasfenster Mt 25“ aus der Innen-Perspektive des Hospitals in Augenschein:

Der Weltenrichter erscheint „in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm“. Ich schaue die Begleitung des Weltenrichters an und erkenne Petrus und Paulus und andere Jünger. Mir fällt ein, daß auch im übrigen Judentum diese Vorstellung zu finden ist: Wenn der Messias kommt, wird er etwa von Henoch und Elias begleitet (4. Esra 7,28). Hier kommt Jesus als der Weltenrichter: Jesus, als König der Juden, trug bekanntlich eine Dornenkrone. Wenn Jesus nun, wenn dieser König, zum Weltgericht erscheint, besteht seine Herrlichkeit im Kranz der geringsten Brüder; die elend mickrigen Apostel bilden die Ehrengarde des auferstandenen Gekreuzigten (vgl. oben: die Geringsten sind Jesu naher Geschwisterkreis). Denn tatsächlich, diese Begleitung des Weltenrichters wird von ihm so genannt: meine „geringsten Brüder“. (Schon 1901 konnte es H. J. Holtzmann in seinem Synoptiker-Kommentar, S. 288, nur so sehen, daß „die Gäubigen selbst … bereits beim Thron des Königs außerhalb des Gerichts stehen … von ihrer Sichtung war ja schon früher die Rede“: 24,51; 25,12-30.) Mir fallen Jesu Zeigefinger auf: Seine Hände weisen seitlich nach unten, wie wir es kennen vom Thorvaldsen-Christus. Anders ist nur, daß er mit den Zeigefingern auf die Umstehenden zeigt: was ihr diesen meinen geringsten Brüdern getan habt. Gericht, aber Ruhe; großer Ernst, aber Friede – das sind die „Farben“ dieses Bildes.

Ich überlege: Wie bewegt Jesus wohl seine Hände bei jenem anderen Verständnis, wenn also alle Menschen in Not seine geringsten Brüder genannt würden? Dann müssen sich die Gemeinten, dann müssen sich diese Menschen irgendwo zwischen denen befinden, die hier „alle Völker“ heißen. Denn eine umgrenzte Gruppe können sie nach dieser Interpretation kaum bilden, da sie weder „alle Völker“, noch die auf die linke Seite, noch die auf die rechte Seite Sortierten sind; sie müssen sich irgendwo und überall zwischen den unzählig Vielen befinden; sehr gewagt ist es, trotzdem „diese“ zu sagen, als sei doch von einer Gruppe die Rede. Mit einem Mal gerät daher in meiner Phantasie der Weltenrichter notgedrungen in eine sagenhaft verkrampfte Hektik: was ihr diesen und diesen und diesen „geringsten Brüdern“ getan habt: Jesu Finger hopsen von hierher nach dorthin; er pickt, aufgeregt gestikulierend, in die Menge. – Hektik oder Ruhe: welches Bild ist das von Matthäus gepredigte? – Da fällt mein Blick auf ein anderes Fenster: Es stellt Mt. Kap. 10 dar, und Jesus nimmt eine sehr ähnliche Körperhaltung ein: Wer einem von „diesen“ (!) Geringen (!), einem von meinen Jüngern, auch nur einen Becher Wasser reicht, dem soll es am Ende der Tage nicht unbelohnt bleiben. Sonderbar: Dieses „Fenster“ wird auch von „außen“ so erkannt, daß hier „diese Geringen“ fraglos Jesu Jünger sind. Ist das bei Mt 25 so viel schwerer zu erkennen? In beiden Fällen drei Personen bzw. Gruppen: Jesus, seine geringen Jünger und die anderen; und es geht beidemal um die Frage, ob „die anderen“ den Jüngern Jesu ihr Elend ein wenig gemildert haben oder nicht. Was für dieses „Fenster“ klar ist, kann bei jenem nicht plötzlich total anders gemeint sein. Demnach zeigt auch in Mt 25 Jesus auf seine Jünger, wenn er von seinen „geringsten Brüdern“ spricht.

Das Bild strahlt nicht nur Ruhe aus, auch Trost. Wer euch hört, der hört mich – Jesus solidarisiert sich mit seinen Predigern, das kennen wir. Wie aber, wenn die Prediger nicht predigen können, weil sie krank sind; nicht predigen können, weil man sie ins Gefängnis warf; nicht predigen können, weil sie in fremde Länder entweichen mußten, wo sie die Sprache nicht beherrschen – wie dann? Hat unser Meister uns jetzt vergessen? Der Evangelist predigt: Auch dann solidarisiert sich Jesus mit uns; so sehr tut er das, daß der Heide, der uns unser Elend ein bißchen erleichterte, von Jesus angesehen wird als einer, der Jesus geholfen hat. – Ist es Zufall, daß mein Blick auf ein anderes „Fenster“ fällt, auf das Fenster von Mt 2? Da liegt das Wickelkind, und vor ihm knien die Heiden. Heiden, die reicher sind als das Kind. Heiden, die dem Elend dieses Kindes ein bißchen aufhelfen können. Die Sterndeuter bringen dem Kind neben Weihrauch und Myrrhe eben auch Gold; und dieses Zahlungsmittel wird bald gebraucht werden für die Flucht nach Ägypten. Was wäre geworden aus unserem Weltenretter, wie hätte er jemals der Weltenrichter werden können, wenn ihm Heiden nicht das getan hätten, was sie taten: sie finanzierten seine Flucht? – Das also predigt Matthäus: Laßt euch die Hilfe der Heiden gefallen; vertraut euch dem himmlischen Vater an, der Sonne und Regen gibt; der die Lilien auf dem Felde kleidet (wie eigentlich?: mit Sonnenschein und Regen), der auch euch versorgen kann (wie eigentlich?: mit den Raben, die dem Elia Speise bringen; mit Sterndeutern, die dem Krippenkind Gold brachten; mit einem Gefängniswärter, der dem Paulus in Cäsarea eine Sonderration zuschiebt; mit einem Gestapo-Mann, der für Bonhoeffer einen Brief nach draußen schmuggelt). Vertraut euch dem himmlischen Vater an; seid nicht besser als die Heiden, steht nicht ein paar Stufen über ihnen; gönnt ihnen die Rolle, euch zu helfen; seid nicht zu stolz, ihnen „danke“ zu sagen – dann seid ihr meine Brüder, Brüder des armseligen Krippenkindes; dann seid ihr meine „geringsten Brüder“.

An anderer Stelle führte ich für diese These noch weitere Begründungen an („Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein“, S. 73 ff). Natürlich bin ich nicht der einzige, der sie vertritt. Klaus Wengst sagte mir telephonisch, sie finde sich auch im jüngsten Mt-Kommentar (von Graham N. Stanton, 1992). Zusätzlich zu dem dort („… Traum …“) Gesagten jetzt noch ein weiteres Argument. Ich frage nach dem Motiv: „Indem ich den Armen etwas gebe, gebe ich Christus etwas“. Dieses Motiv wird in Mt 25 als ein zweifellos ehrenwertes Motiv eingesetzt. Wie ist es zu erklären, daß dieses Motiv auch kränken kann (ich erinnere an das, was ich vom Diakonenschüler erzählte)? – Wenn ich die Dinge richtig erspüre, kommen wir der Sache auf den Grund, wenn wir den Satz „ich habe mit ihm (im Grunde) nichts zu tun“ (bzw.: „ich habe mit ihm etwas – oder: sehr viel – zu tun“) ins Spiel bringen. Zwei Beispiele: a) Nach einem Streit bitte ich meine Frau um Verzeihung. Wenn sie dann sagen würde: ich verzeihe dir, denn du bist ein Bruder Jesu, dann müßte mich das kränken (eben weil zwischen den Zeilen gesagt ist; im Grunde habe ich mit dir nichts zu tun). b) (Dieses Beispiel beruht auf Tatsachen:) Mein Onkel lädt im Mai 1945 einen amerikanischen Soldaten der Besatzungsmacht privat zum Kaffee ein, von dem er per Zufall hörte, daß er (wie er selber) evangelischer Pfarrer sei. Auch diese Begründung (mindestens, wenn sie deutlich ausgesprochen wird) denkt im Muster: an sich haben wir miteinander nichts zu schaffen; und trotzdem wurde sie nicht als Kränkung empfunden – warum nicht? Der Grund kann nur darin bestehen, daß hier zwei Menschen durch das Argument „wir sind doch beide …“ näher zusammengerückt werden; im Beispiel „a“ dagegen wurde durch das gleiche Denkmuster eine lange bestehende enge Verbindung gelockert. – Wenn Mt 25 so verstanden wird: Wir (auch wir Christen) sollen den Notleidenden helfen, denn sie sind Jesu Geschwister, dann wird damit (ungewollt) behauptet: an sich haben Christen mit Notleidenden nichts zu tun – das wäre eine unbiblische und unmenschliche Aussage (diese Aussage hat zumal in einem Evangelium, das auch den Satz Mt 7,12 bringt, keinerlei Chance). Wenn dagegen Mt 25 anders verstanden wird, nämlich so: Heiden lindern gelegentlich die Not, in die Christen geraten, und sie tun es mit der Begründung, daß diese anderen Christen, daß sie Brüder Jesu sind, dann ist auch jetzt mitzuhören: an sich haben wir (Heiden) mit euch Christen ja wenig zu schaffen; aber diese Aussage ist durchaus legitim: Die Sache Jesu hat mich noch nie überzeugt; aber geschadet hat sie gewiß auch nichts, jedenfalls will ich nicht zulassen, daß Jesu Leute Hunger leiden. Mit solchem Denken und dem entsprechenden Tun bringen sich Heiden in Verbindung mit der Sache Jesu, und zwar so eindeutig, daß diese Verbindung am Jüngsten Tage vom Weltenrichter als fest bestätigt wird. – Und was ist mit alledem den Christen gesagt (Matthäus hält keine Rede an die Heiden, er predigt nicht zum Fenster hinaus)? Den Missionaren Jesu wird der Blick dafür geöffnet, daß sie unter Umständen auch dann Missionare bleiben, wenn sie keine Gelegenheit zum Predigen haben (s.o.): Ihr streckt eure Hände nicht nur aus, um andere zu taufen und sie so in Verbindung mit Christus zu bringen; ihr streckt gelegentlich die Hände aus, um ein Stück Brot zu erbetteln, und auch auf diese Weise bringt ihr Menschen mit Christus in Verbindung. (Ein Nebengedanke: Der unmittelbare Kontext, Mt 25, 14-30, könnte einen Apostel, der krank oder gefangen ist, ängsten: Sind jetzt die mir anvertrauten Pfunde nicht gegen meinen Willen vergraben? Bin ich somit vielleicht ein „böser und fauler Knecht“ [Vers 26]? Nein, denn unser Herr erntet auch da, wo er nicht gesät hat [Vers 24.26]: Gott kann – durch seine Apostel! – auch da Menschen mit sich in Verbindung bringen, wo die Apostel das Wort nicht „ausstreuen“ konnten; noch einmal: 24 und 26.) – Vorhin sahen wir: Bewohner des Hospitals sind zuweilen Jesu Boten, die den anderen die Augen öffnen. Dem entspricht jetzt: die Apostel bleiben, auch wenn es sie ins Hospital verschlagen hat, Jesu Boten. Denn Jesus solidarisiert sich umfassend mit seinen Jüngern: nicht nur für die Situationen, in denen sie predigen (können), sondern auch für die Zeiten, in denen es ihnen elend geht.

„Jesu geringste Brüder“ – das ist unser Würdename, darüber kommen wir nicht hinaus. Mehr kann es nicht geben für einen, der dem nachfolgen will, vor dem die Sterndeuter knieten. Mehr kann es nicht geben für einen, der sich zu dem zählt, der seine Jünger gebeten hat: wacht eine Stunde mit mir; der sich von einem heidnischen Soldaten sterbend den Schwamm reichen ließ.

Die „geringsten Brüder“ – Titel für Exoten oder Nomen Ecclesiae?

Habe ich den Text jetzt zerstört, mindestens für den vorgesehenen Zweck? War er nicht für den Kirchentag ausgesucht als ein Text, der uns aufruft zu mehr Menschlichkeit: Helft den Arbeitslosen; kümmert euch um Asylanten; protestiert, wenn „Spastis geklatscht“ werden; mischt euch ein bei den Nord-Süd-Fragen! Ist Matthäus 25 jetzt für all so etwas nicht völlig unbrauchbar geworden? Auf den ersten Blick: gewiß ja; denn unmöglich geworden ist jedes forsche „los, ihr Brüder und Schwestern, Ärmel hoch; wir wollen den geringsten Geschwistern helfen, denn in ihnen helfen wir unserem Herrn“. Aber vielleicht ist das gerade gut so? Gut auch für die Diakonie, gut für alles kirchliche Sozial-Engagement? Vielleicht wird jetzt erst Solidarität wirklich möglich.

Denn wenn „ich“ zu den Kranken und Hungernden gewiesen werde, setzt das voraus, daß ich selber nicht krank bin, keinen Hunger leide. Ich sehe mich auf einer Ebene, die vielleicht nicht leid-frei ist, aber da gibt es relativ wenig Leid. Das massive Leid gehört nicht zu mir, gehört überhaupt nicht in den „Binnen“-Raum (s.o.) der Kirche. Das Gering-Sein ist nicht typisch für uns, es ist typisch für die unterschiedlich „fernen Nächsten“; es bleibt ein bißchen exotisch; es ist die Ausnahme, nicht die Regel: Die Not der „Geringsten“ wird global in der „Dritten Welt“ gesehen und lokal nur am Rande unserer Gemeinden. Wir wollen zwar helfen, aber wir helfen aus einer abgesicherten Position heraus. Aus einem binnen-kirchlichen Schon-Raum senden wir unsere Liebesgaben an andere, nach „draußen“. – Dagegen die Predigt des Matthäus: Hunger haben, eingelocht sein – nun, Matthäus sagt nicht geradezu, das seien die „notae ecclesiae“ (die unverzichtbaren Kennzeichen der Kirche). Matthäus sagt nicht: nur am Elend kann man Kirche erkennen. Aber so viel sagt er: diese Dinge sind typisch für uns, nicht nur typisch für irgendwelche anderen; nichts davon ist in der Kirche Jesu (in ihrem Binnen-Raum) exotisch. – Ich glaube schon, wir dürfen (und sollen!) uns freuen, wenn wir satt zu essen haben, wenn uns niemand bespitzelt, wenn wir für heute und morgen keines Arztes bedürfen. Aber die Selbstverständlichkeit, jedes: „Das ist doch klar so, warum sollte es denn anders sein?“, dieser naive Schön-Wetter-Glaube wird uns gründlich zerschlagen. Und gerade damit werden wir zu Geschwistern der Menschen in Not, wenn uns (anthropologisch) die Rolle der Care-Paket-Schicker genommen wird.

Bei meinem Freund lernte ich, daß so etwas in Ansätzen Wirklichkeit werden kann. In einem gemeinsamen Urlaub sagte er mir: „Wie gut, daß ich nicht im Rollstuhl sitze!“ Nein, diesen törichten Satz sagte er eben nicht. Er sagte ihn ähnlich, und damit sagte er es total anders: „Wie gut, daß nicht auch ich im Rollstuhl sitze; dann ging’s doch gar nicht mehr mit uns.“ Ein andermal sagte er: „Wir beide haben zusammen zwei gesunde Beine, und das reicht für diese vier Wochen.“ Unausgesprochen war da unüberhörbar mitgesagt: „Wir beide haben zusammen einen Rollstuhl, und das ist zu verkraften für diese vier Wochen.“ – Daß er kräftig war, war gut; aber nicht „gut für ihn“, so daß er sich in seiner Stärke sonnen könnte; es war „gut für uns beide“. Wir schmissen zusammen (wenigstens für vier Wochen) und stellten fest: es reicht für uns beide.

Liegt das nicht genau auf der Linie von Mt 25? Mir geht immer stärker auf die theologische Bedeutung des mehrmaligen „ich“ in diesem Kapitel. Jesus sagt: „ich“ war krank, gefangen, Flüchtling … Das bedeutet zunächst etwas für die Christologie: Wie wir nach 1945 mühsam gelernt haben, daß „Gottes-Sohn-Sein“ und „Jude-Sein“ keine Gegensätze sind (Jesus war ein Jude), so müssen wir endlich lernen, daß „Gottes-Sohn-Sein“ und „Krank-Sein“ keine Gegensätze sind; Jesus sagt: ich war krank (ob er es jemals tatsächlich war, weiß ich nicht). Jesus sagt: ich war gefangen (und das blieb bekanntlich nicht nur ein Satz). Jesus sagt: ich war Flüchtling (Matthäus ist der einzige Evangelist, der vom Flüchtlingskind Jesus in Ägypten erzählt). – Für die Ekklesiologie ist von großer Bedeutung, daß wir hier nicht ausweichen, sondern den Mut finden, die „geringsten Brüder“ auf die Jünger Jesu zu beziehen; damit wird nämlich klar: Krank-Sein, Hunger-Haben, Flüchtling-Sein – das alles gehört eindeutig in den Binnenraum von Kirche. Kirche versammelt sich nicht vor dem Hospital, um für die darin Lebenden zu sammeln. Kirche ist das Hospital. Luther sagte: Die Kirche ist der Ort und das Krankenhaus der Kranken und Heilungsbedürftigen; erst der Himmel ist der Fürstenhof für Gesunde und Gerechte (Luther, Clemen-Ausgabe, Band 5, S. 243. – Aus diesem Zitat entwickelte ich den Ausdruck „Kirche als Patienten-Kollektiv“, zuerst: „Volmarsteiner Rasiertexte“, 1979, S. 74 und: „Boden unter den Füßen hat keiner“, 1980, S. 203). – Auch für die Anthropologie scheint mir das zur Christologie Gesagte enorm wichtig zu sein: Wenn sich Gottes-Sohn-Sein und Krank-Sein nicht gegenseitig ausschließen, dann erst recht nicht Mensch-Sein und Krank-Sein: Ein Kranker, ein Behinderter ist ein normaler Mensch, ein gutes Geschöpf Gottes; auch der Schwerstbehinderte ist ein „ganzer“ Mensch. Von da aus müßten wir uns gründlich verabschieden von allen Entwürfen, nach denen Krankheiten etwas Gegengöttliches, etwas nicht zum wahren Menschsein Passendes bedeuten. Gesund-Sein und Krank-Sein: beides ist in Gottes guter Schöpfung so normal wie Wind-Stille und See-Sturm. Wie stark ist unsere Theologie eigentlich ideologisch verseucht, wenn wir zwar die Tatsache rühmen, daß Christus sich mit den Kranken identifiziert, aber wir scheuen uns, daraus die anthropologische Konsequenz zu ziehen: „ich“, der Mensch, „bin“ krank, könnte (als Normalfall) krank sein? – Zugegeben, es ist lästig, behindert zu sein (und „lästig“ ist noch eine sehr vorsichtige Formulierung). Aber das ist eine Aussage über unsere Gefühle, Nerven und Erfahrungen; damit ist noch nichts gesagt über Gottes Tun und Planen mit uns Menschen; davon aber redet unser Matthäus-Text, indem er ansagt: Keine Krankheit, keine Behinderung ist ein anthropologisches Malheur.

Ich blicke noch einmal auf das, was ich von meinem Freund erzählte, und es wird schnell deutlich, daß unser Text für die Diakonie äußerst wichtig sein könnte, allerdings nicht in der Weise, daß wir in unseren humanitären Impulsen biblisch unterstützt würden, sondern so, daß uns der Text in die Buße führt. Denn wer wagt es schon, für dauernd und nicht nur für vier Wochen, zudem in allen in Mt 25 genannten Beispielen und nicht nur im Blick auf einen einzelnen (zudem sogar befreundeten) Rollstuhlfahrer, solche Sätze zu sagen? Ich denke an einen Obdachlosen. In Parallele zu den Sätzen meines Freundes müßte ich sagen: wie gut für uns beide, daß wenigstens ich eine Wohnung habe; die wird reichen für uns zwei. Im Blick auf einen Sozialhilfe-Empfänger: wie gut für uns beide, daß wenigstens ich ein ordentliches Gehalt beziehe; wenn wir deine Unterstützung und mein Gehalt zusammenschmeißen und halbieren, wird es für uns alle reichen. – Ich spüre: ich wenigstens will so lieber nicht reden (allenfalls sehr selten, also als Ausnahme, und dann auch nur in streng eingegrenztem Rahmen).

Ich weiß nicht, ob der Text Mt 25 unbedingt diakonisch „gemolken“ werden soll. Nur: wenn, dann müßten wir gewiß so reden, wie ich es gerade anklingen ließ. Jedenfalls dürfte unsere Gewohnheit, von diesem Text abzuleiten, daß wir Krankenhäuser bauen (zum allergrößten Teil übrigens mit staatlichen Geldern), und andere sind die Patienten (eben die „Geringsten“, die uns [nicht etwa der Staat, sondern] der Herr anvertraut hat), diese Gewohnheit dürfte ein arges Mißverständnis des Textes sein.

Matthäus 25 – unbrauchbar für diakonische Impulse? Keineswegs. Dieser Text ist sehr brauchbar für solche Sachen: ungemütlich brauchbar, zum Weglaufen brauchbar. Oder vielleicht auch: zum bußfertigen „kleine Schritte probieren“ brauchbar.

Hilfe-Handeln – oder: Sich-gegenseitig-nötig-Haben?

Ich komme zum Schlußteil. Deutlich gibt es in meinen Ausführungen zwei Tendenzen: Eine Einladung, den Text Mt 25 aus der Perspektive der Hospitalbewohner zu lesen (dann sind mit „geringste Brüder“ die christlichen Gemeinden, dann sind „wir“ gemeint); und gleichzeitig eine Warnung davor, diesen Text nur von „draußen“, von der Sonnenseite aus, in Augenschein zu nehmen (dann ist bei „geringste Brüder“ an andere, nämlich an alle Menschen in Not gedacht). Da in den vorangehenden Ausführungen die „Einladung“ deutlich im Vordergrund stand, soll nun noch die „Warnung“ thematisiert werden:

Wovor eigentlich warne ich? Ich weiß es selbst nicht genau. – Möglichkeit 1: Ich warne insgesamt vor der üblichen Auslegung, da es gar nicht ausbleiben kann, daß sie in Apartheids-Theologie abrutscht. – Möglichkeit 2: Ich warne nur vor Auswüchsen dieser Auslegung, sofern sie in Apartheids-Theologie abrutscht.

Ob sie dahin abrutschen muß, weiß ich aber eben nicht. Ich kann nur sagen: Was (nicht nur im Bereich der Diakonie) zu Mt 25 oft gesagt wird, kann kaum im Sinne der Matthäus-Predigt sein, weil sich nämlich offenbar ein Apartheids-Gefälle, mindestens gewisse Versatzstücke einer Apartheids-Theologie sozusagen automatisch einstellen. – Das ist natürlich noch keinerlei Beweis.

Ein Hinweis allerdings soll es sein, wenn ich abschließend auf Jürgen Moltmanns Auslegung zu sprechen komme (Kirche in der Kraft des Geistes, 1975, S. 141ff). Ich wähle diesen Text aus doppeltem Grunde: Er gehört nicht zu den Diakonie-Texten im engeren Sinne; und (dieses ist mir der wichtigere Grund): in J.Moltmann sehe ich einen der wenigen bekannten Theologen, die sehr deutlich angehen schon gegen das, was ich Apartheids-Gefälle nennen möchte. Das sei belegt mit einem Satz aus „Diakonie im Horizont des Reiches Gottes“, 1984 (S. 27): „Wir finden das Reich Gottes mit Jesus, wenn wir in die Gemeinschaft der Armen, Kranken, Traurigen, Schuldigen eintreten, sie als Reichsgenossen anerkennen und [jetzt kommt die m.E. entscheidende Stelle] von ihnen als Brüder angenommen werden.“ Hier ist aller Einbahnstraßen-Diakonie gründlich der Abschied gegeben. Nicht nur: der andere braucht mich, sondern ebenso: ich brauche den anderen, ich habe es nötig, von ihm als Bruder (als Schwester) angenommen zu werden.

Nun aber zu Moltmanns anderem Text (1975). Auch hier ist eindeutig, daß er kein Gefälle entstehen lassen möchte. Aber kann er es verhindern? Moltmann übernimmt die Blickrichtung der üblichen Auslegungen (die „geringsten Brüder“ sind nicht wir, sie sind überhaupt nicht hier; sie sind dort: dort draußen, allenfalls: dort an unseren Rändern), wenn er von einer doppelten Gegenwart Christi redet: im Apostolat („wer euch hört, der hört mich“) und in den Geringsten („wer sie besucht, besucht mich“) (S. 146). Wenn es auf der gleichen Seite heißt: „Der Elende ist keineswegs das Objekt christlicher Nächstenliebe und moralischer Pflichterfüllung“, dann soll damit die diakonische Einseitigkeit wiederum klar abgewehrt sein. Kritische Frage jedoch: Ist dieses Nein zur diakonischen Einseitigkeit so „dicht“, daß keinerlei Spalt bleibt für das Eindringen des Apartheids-Gefälles? Oder gibt es diesen Spalt doch; könnte er bereits in der Behauptung einer „doppelten“ Gegenwart Christi zu sehen sein, in dem Gegenüber von Apostolat und Geringsten? Zwar werden (S. 148) die „zwei Bruderschaften Christi“ („Bruderschaft der Gemeinde“, „Bruderschaft der Geringsten“) wieder zusammengefügt als „doppelte Bruderschaft Christi“. Woher aber kommen trotz allem die Anklänge an ein Apartheids-Gefälle – oder sind es nicht nur Anklänge? Ich frage etwas ratlos, was gemeint ist mit einem Satz von Seite 148: „Das Apostolat sagt, was die Kirche ist. Die Geringsten sagen, wohin die Kirche gehört.“ Die Geringsten, mögen sie noch so wichtig sein, gehören also nicht auf die Seite des Apostolats. Spitz gefragt: Sind sie etwa für das Wesen der Kirche nichts-’sagend‘?! Das wäre freilich eindeutige Apartheids-Theologie, aber so kann es wohl nicht gemeint sein. Was aber ist hier gemeint?

Mit diesen Fragen bin ich bei einer These, die seit etwa 1970 in den Befreiungstheologien und auch sonst in der Ökumene entdeckt worden ist: Die Geringsten sind Boten des Evangeliums, sie gehören durchaus auf die Seite des Apostolats. 1975 (im gleichen Jahr erschien Moltmanns Buch) sagte man bei der Weltkirchenkonferenz in Nairobi: „Wie kann die Kirche sich dem Zeugnis öffnen, das Christus durch diese [gemeint: behinderten; U.B.] Menschen ablegt?“ (Nairobi-Dokumente, S. 29). Kirche ist also nicht schon fertig, bevor sie ins Hospital geht. Vielmehr lernt sie gerade da (nicht von den Aposteln, sondern von den Kranken – und darin werden die Kranken zu Aposteln), was Kirche ist. – Eine alte Kirchenordnung sagt, laut Rolf Zerfaß (Lebensnerv Caritas, 1992, S. 64 und 196), der Diakon sei das Auge der Kirche. Eine Kirche, die den Blick auf die Kranken nicht täglich (aus- und ein-)übt, ist blind; sie kann dann auch nicht für sich selbst sagen, „was Kirche ist“ (das könnten allenfalls gescheite Schreibtisch-Definitionen sein).

Wenn ich die Befreiungstheologien nicht völlig falsch verstehe, ist das Aufregende an diesem Punkt: beides fällt zusammen. Indem ich (nur indem ich) ins Hospital hineingehe, erkenne ich, was Kirche ist; und: wenn ich erkenne, was Kirche ist, bin ich sofort im Hospital. – Gerhard Ebeling sagte schon vor etlichen Jahren:

„Es ist ein Grundirrtum, es für zweierlei Ding zu halten: das Evangelium zu verstehen und es dann dahin zu bringen und verständlich zu machen, wo es ausgerichtet werden soll. Wir müssen endlich begreifen, daß das nicht zweierlei sondern eines ist. Was es um das Evangelium ist, versteht nicht nur der andere, sondern verstehen auch wir selbst als Theologen nur dann, wenn wir uns auf die Welt der Menschen einlassen, denen das Evangelium gilt, und deren Welt, selbst wenn sie scheinbar nicht die unsere ist, doch um Jesu willen unsere eigene Welt ist. Die tiefsten und verborgensten Verständnisschwierigkeiten, die uns Theologen selbst erwachsen, haben darin ihren Grund, daß wir mit unserer Theologie am falschen Ort sind.“ (Gerhard Ebeling, „Hauptprobleme der protestantischen Theologie in der Gegenwart“, ZThK 1961, 123-136; Zitat: S. 135)

Ein anderes Moltmann-Zitat (S. 146): Christus identifiziert sich auf doppelte Weise: „Im Falle des Apostolats liegt … eine Identifikation mit der aktiven Sendung vor; im Falle der Geringsten aber eine Identifikation mit der leidenden Erwartung.“ Einerseits also: Apostolat, aktiv, Sendung; andererseits: Geringste, Leiden, Erwartung.

Ich möchte dagegensetzen, was wir im Volmarsteiner Andachtskreis Bethesda bei der alten Frau N. lernten. Frau K., eine nichtbehinderte Dorfbewohnerin, die mit zum Kreis gehört, war mehrere Wochen krank gewesen; heute war sie wieder dabei und sagte, sie habe uns auch „richtig etwas vermißt“. Da macht Frau N. ein sehr nachdenkliches Gesicht und sagt drei Sätze, die ich mit ihrer Erlaubnis sofort aufschrieb: „Ist viel wert. Ist wenigstens einer, der uns vermißt. Ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.“ Hier protestierte die von Geburt an behinderte Frau N. gegen jene Zweiteilung, nach der sie als Behinderte auf die Seite des Leidens und des Wartens gehört (natürlich gehört sie auch dahin; sie kann erheblich schimpfen, wenn sie zu lange die Hilfe einer Mitarbeiterin vermissen muß): Frau K. hat es richtig gemacht. Sie hat erkannt, wie wichtig Frau N. ist: sie ist so wertvoll, sie ist so selbstverständlich meine Schwester, daß mir etwas fehlt, wenn wir länger nicht beisammen sind. – Frau N. wagt mit ihren zwei Stöcken den aufrechten Gang: Ich bin wer; euch fehlt etwas, wenn ich auf Dauer nicht bei euch bin. Man muß nicht nicht-behindert sein, um solche Sätze sagen zu dürfen. Frau N. verdrängt nicht das eine: „Geringste, Leiden, Erwartung“ (s.o.); und trotzdem nimmt sie das andere ebenfalls auch für sich in Anspruch: „Apostolat, aktiv, Sendung“ – warum auch nicht? – Und nachdem ich im Kreis diese schier revolutionäre Wende im Denken der Frau N. ausführlich zur Sprache gebracht hatte (die „Armen“ merken zuweilen ohne interpretierende Hilfe nicht, was sie da liefern, wie enorm das ist, was sie mit wenigen Worten predigen), bekam ich auch noch „mein Fett“ ab: Frau N. schaute mich kritisch-schmunzelnd durch ihre starken Brillengläser an: „Ja, Herr Pastor Bach, haben Sie mich denn etwa schon mal vermißt?!“ – Diese Geschichte der Frau N. kann gelesen werden als Illustration jenes Moltmann-Satzes (1984), nach dem wir es nötig haben, von den „Armen“ angenommen zu werden; gleichzeitig scheint sie ein kritisches Licht zu werfen auf seine früheren Sätze (von 1975).

Ein drittes Zitat von J.Moltmann nur ganz kurz (ich vermute, daß wir hier ins Zentrum der Argumentation kommen und eigentlich also besonders ausführlich werden müßten): „Im Apostolat spricht der erhöhte Herr. Sollte in den Geringsten nicht der Gekreuzigte sprechen?“ (S. 146). Schon in der Behauptung zweier Gruppen (Apostolat / die Geringsten) sah ich die Gefahr des Apartheids-Gefälles (s.o.). Wird diese Gefahr jetzt nicht noch gesteigert durch die Zuordnung von Apostolat zu Ostern und der Geringsten zu Karfreitag? Spricht im Apostolat nicht auch der Gekreuzigte (nach Joh 20,20f läßt sich der Auferstandene, bevor er die Jünger sendet, durch seine Wunden identifizieren!)? Und ist es für die Geringsten nicht von entscheidender Bedeutung, daß der Erhöhte ihnen zusagt, er sei alle Tage bei ihnen (Mt 28,20)?

Alles in allem: ich kann und will nicht beweisen, daß es unabwendbar zur Apartheids-Theologie führt, wenn man Mt 25 in der üblichen Blickrichtung (hier – dort; s.o.) liest und auslegt. Aber die Lektüre der Moltmann-Passage gibt mir doch zu denken: Wenn sogar J.Moltmann, der eindeutig ein Abschieben der „Geringsten“ in die Objekt-Rolle verhindern will (s.o.), dennoch nicht loskommt von (sehr vorsichtig gesagt) gewissen Anklängen an ein Apartheids-Gefälle, dann scheint es nicht abwegig zu sein, doch insgesamt zu warnen vor der üblichen Auslegung dieses Matthäus-Textes.

Die Befreiungstheologie des Matthäus kann offenbar nur in jener anderen Sicht in den Blick kommen: Wir sind die Geringsten. Wir sind die Brüder des Wickelkindes, das auf die Hilfe der Heiden angewiesen war. Wir sind die Kinder des Vaters, der die Lilien auf dem Felde kleidet und der „viel mehr“ auch uns kleiden (und sonstwie versorgen) kann, was hin und wieder heißen wird, daß wir für die Hilfe heidnischer Mitmenschen zu danken haben. Frei sind wir, solange der Weltenherr uns darin (ich sage nicht: deswegen) seine Geschwister nennt, seine kleinen, seine „geringsten Schwestern und Brüder“.

Diesen Namen tragen wir auch dann, wenn es uns (zur Zeit) gut geht, wenn uns weder Hunger noch Gefängnis direkt belasten. Denn die Matthäus-Predigt lädt uns ein, uns nicht in unseren Vorteilen zu sonnen, sie nicht für uns allein auszubeuten (das würde uns voneinander trennen), sondern zu wissen, zu sagen und zu praktizieren: Wie gut für uns beide (s.o.), daß es wenigstens mir einigermaßen gut geht. – Keineswegs also werden dadurch, daß wir einerseits in den „geringsten Brüdern“ von Mt 25 die Jesus-Jünger (das heißt: uns) erkennen, daß wir andererseits aber zur Zeit ohne besondere Not sind, soziale Impulse verhindert; im Gegenteil: sie können jetzt, weitab von aller Geber-Pose, ehrlich werden, solidarisch, geschwisterlich. Günter Ebbrecht sagte 1987 in anderem Zusammenhang: „Nicht, weil ich genug habe, teile ich mit denen, die nicht genug haben, sondern weil ich das Bedürftigsein mit ihnen teile, Verwundbarkeit und Verletzlichkeit in mir selbst kenne und darum weiß, wie gut es tut, Nähe und Stärkung zu erfahren. Darum kann ich mich in die Bedürftigen, Verwundeten und Verletzten hineinversetzen und kann sie teilhaben lassen an dem, dessen ich selber so dringend bedarf.“  [G.Ebbrecht, „Als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn.“ (Mt 9,36), Weisheit, Güte und Barmherzigkeit im Umgang mit kranken und gesunden Menschen, in: Veröffentlichungen der Evangelischen Akademie Iserlohn, Reihe „Studienhefte“, Aug. 1987, S. 19.]

Trost im Alter

Pastor D. Ulrich Bach, Wetter-Volmarstein

„Siehe, um Trost war mir sehr bange…
Vortrag am 11. März 1996
beim 2. Symposion Altenseelsorge ’96 (Ev, Johanneswerk)
„Trost im Alter …“ (11. bis 14.März 1996)
Seite 39-48

Um ein bißchen spitz zu beginnen: Bei Kurt Tucholsky ist über den Menschen nachzulesen (Tucholsky AW II, S. 137): „Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht, und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion.“ Denkmöglich ist es für mich. daß heute von mir erwartet wird – vielleicht nicht vom Veranstalter, aber mag sein: von dem einen oder der anderen im Zuhörerkreis -, in Tucholskys Sinne ein ordentlicher Religions-Vertreter zu sein: Wenn das Thema „Alter“ dran ist, geht es uns nun einmal „schlecht“, und darum brauchen wir jene zweite Überzeugung mit dem hoffnungsträchtigen Namen „Religion“: wie schön ist es, daß auf dieser Tagung das erste Referat von einem Theologen gehalten wird! Da, wo uns um Trost sehr bange ist, wird er gewiß den erhofften Trost zu erteilen (oder: zu verteilen) wissen. – Um, wie gesagt, ein bißchen spitz zu beginnen: Hier möchte ich mich verweigern.

Ich möchte den Trost davor bewahren, zur Vertröstung zu werden. Anders gesagt: Auch wenn der Mensch zwei Beine hat, ich möchte es gern bei einer Überzeugung belassen für schlechte und für gute Tage, bei einem Trost im Sterben und im Leben. Der Heidelberger Katechismus nennt Jesus Christus den einzigen Trost im Leben und im Sterben. Wir werden nicht verhindern können, daß viele Menschen heute anderswo Trost und Sinn, Lebensbasis und Frieden suchen (und zu finden meinen). Aber eins sollten wir zu verhindern trachten: daß man in jungen Jahren den Trost in Beruf und Gesundheit, in Karriere und Erfolg sucht, um dann fürs Alter sich auf Jesus Christus als den einzigen Trost im Sterben zu besinnen. Das wäre das Tucholsky-Schema von den zwei Überzeugungen; damit hätten wir aus dem einzigen Trost im Leben und im Sterben eine billige Vertröstung für den letzten Lebensabschnitt gemacht. nach dem Motto: Ab Rente wird Jesus aktuell. Solcherlei Lied erwarten Sie bitte nicht von mir. – Ich weiß überhaupt nicht, ob ich viel von Trost zu sagen weiß. Es ist ja durchaus möglich, daß eine ehrlich eingestandene Trostlosigkeit viel realistischer wäre. Jedenfalls will ich als Theologe nichts schönreden. Was ich sage, auch was ich über den Trost sage, will ich so sagen, daß klar bleibt: es gibt gute Gründe für ein ausführliches Referat zum Thema „Trostlosigkeit im Alter“.

Oder fällt Ihnen da irgendetwas „Tröstliches“ ein, wenn ich Ihnen vorlese, was zwei dänische Wissenschaftler 1994 schrieben: „Nach unserer Auffassung scheint es ganz natürlich, zu sagen, daß die Organe lebendiger Personen lebenswichtige Gesundheitsressourcen sind, die wie alle lebenswichtigen Ressourcen gerecht verteilt werden müssen. Wir könnten uns.daher gezwungen sehen, darauf zu bestehen, daß alte Menschen getötet werden, damit ihre Organe an jüngere, kritisch kranke Personen, umverteilt werden können, die ohne diese Organe bald sterben müßten. Schließlich benutzen die alten Menschen lebenswichtige Ressourcen auf Kosten von bedürftigen jüngeren Menschen“ (zit. nach: Feyerabend (u.a.) WN, S. 30). Das hieße: Unsere Altenheime werden eines Tages vielleicht zu „Grabbel-Tischen“, an denen sich die „Halbgötter in Weiß“ – zwecks Transplantation – preisgünstig bedienen können – um

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Trost war mir sehr bange! – Das Schlimme: Die beiden sind nur konsequent Es scheint sich heute einzubürgern, unsere Organe Ressourcen zu nennen. „Mein Bauch gehört mir“ – das wäre dann nicht nur ein dummer Satz; er wäre auch längst überholt: er stammt aus der Zeit, als die Menschenwürde noch unantastbar war – das muß ’ne Weile her sein. Dein Bauch gehört dir?, wie kommst du denn da drauf? Gar nichts gehört dir, keine Niere, keine Hornhaut, kein Knochenmark, schon gar nicht ein ganzer Bauch; du benutzt zur Zeit Ressourcen, die uns allen gehören, und die wir dir großzügig so lange gönnen, wie wir keine wichtigere Verwendung für sie haben; aber das kann sich von jetzt bis gleich ändern. – Heute, in dieser verrückten Zeit, soll ich alt werden ohne Angst? Wie macht man das?

Soll ich Ihnen zwischendurch einmal sagen, was ich vermutlich denken würde, wenn ich an Ihrer Stelle säße? Ich dächte wohl: Wann fängt der endlich mal mit seinem Vortag an? Wenn der so weiter macht, ist er heute abend noch bei seinen Vorbemerkungen – oder wie man das nennen soll, was er da im Augenblick abspult. – Tatsächlich, ich bin noch bei den Vorbemerkungen; und ich werde bei ihnen bleiben. Einen sauberen Vortrag kann ich Ihnen nicht halten: Trost und Alter in der Bibel; Trost und Alter in der Geschichte; Trost und Alter heute; Folgerungen für die Diakonie. Natürlich, so oder ähnlich stellt man sich einen Vortrag vor; das wäre auch gar nicht schlecht. Nur sehe ich mich dazu nicht in der Lage; nein, ich will es auch nicht. Warum nicht? Ich muß Ihnen kurz erzählen, woher ich im Augenblick komme. Ich komme her „aus“ (so muß ich wohl sagen) einer schweren Lungenentzündung, die mir im vergangenen Herbst arg zu schaffen machte. 64 Jahre alt, seit über 40 Jahren Rollstuhlfahrer, jetzt zusätzlich diese Erkrankung. Ein Häufchen Mensch, das da nach Luft japste. Aushusten müssen, aber (wegen des behinderungsbedingten Fehlens der Bauchmuskulatur) nicht aushusten können – total angewiesen auf Phantasie und Tatkraft meiner Frau. Lebte ich? Wurde ich gelebt? Es war eine Schwäche, die jeden Stolz zerbricht, auch noch die letzten Reste. – Heute spüre ich in mir den Impuls: sei froh, du hast es hinter dir. In mir höre ich aber auch: sei mutig, du hast vielleicht Schwereres noch vor dir. Beide Impulse möchte ich zulassen. Hielte ich es nur mit dem ersten (sei froh, du hast es hinter dir), dann versuchte ich jetzt einen zünftigen Vortrag; mit ihm feierte ich mich als Steh-auf-Männchen: im Grunde bin ich unschlagbar! Folgte ich nur dem zweiten Impuls (sei mutig, du hast noch manches vor dir), könnte mich das stumm machen, vermutlich hätte ich den heutigen Termin abgesagt, denn für Vorträge bliebe keine Zeit, ich muß mich auf mich selber konzentrieren. Wie gesagt: Ich will beide Impulse zulassen: ich will mich zum Thema äußern, dabei aber keinen Augenblick leugnen, daß ich wesentlich stärker im Thema drinbin, als es diejenigen wissen konnten, die mich vor Jahresfrist um diesen Beitrag baten. Das heißt also: ich werde es bei Vorbemerkungen belassen; oder etwas freundlicher: bei Anmerkungen zum Thema, bei Notizen zur Sache.

Lassen Sie uns zuerst ein bißchen kreisen um die Thema-Stellung: Trost, Trostlosigkeit und Alter. Ein paar Anmerkungen zur gemalten Trostlosigkeit:

„Guck mal, der da – ist das nicht schrecklich?'“ So rasch geht das oft: man blickt kurz hin, sieht etwas scheinbar Unerträgliches und wendet sich innerlich ab. Schrecklich! Schrecklich ist tatsächlich das, was ich mir da ausmale. Aber wer sagt mir denn, daß das, was der alte Herr da drüben erlebt, in sich ebenfalls schrecklich ist. – Bei Pablo Neruda fand ich die schönen Zeilen: „… so ist es: I/ müde seiner selbst, wie man genug hat / von einem total durchlöcherten Anzug…“ (Neruda LW III, S. 731). So kann es sein. Da ist einer nicht glücklich, aber es ist auch nicht schrecklich. Da ist einer am Ende. Jetzt reicht es. „Lebenssatt“ wäre geschönt. Aber: keinen Appetit mehr haben auf weitere Jahrzehnte – ist das eigentlich so schlimm? „Müde seiner selbst, wie man genug hat / von einem total durchlöcherten Anzug“. – Gemalte Trostlosigkeit, das ist ein Thema, mit dem es behinderte Menschen fast täglich zu tun haben, schon in jungen Tagen. Warum sonst hat mir die alte Dame ein Fünf-Mark-Stück in die Hand gedrückt? Ich hatte als junger Pastor einer Frauenhilfs-Gruppe eine Andacht gehalten. Vermutlich hat sie die ganze Zeit an meiner Trostlosigkeit gemalt: so jung und dann so behindert!, das ist ja entsetzlich. Sie konnte sich nicht vorstellen, was mir in jenen Jahren ein Bekannter sagte: Ich habe lange

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niemanden mehr gesehen, der so viel Blödsinn macht wie Sie. Das konnte sich auch der junge Mann nicht vorstellen, der mir, kaum hatten wir uns kennengelernt. mitteilte: An Ihrer Stelle hätte ich längst Schluß gemacht. Ich bin mir sicher, daß man dieses Phänomen der gemalten Trostlosigkeit auch im Umfeld der alten Menschen antrifft: Man beobachtet eine Situation von außen, kennt den betreffenden Menschen nicht, nimmt nur Fragmente wahr, die man nicht als Teile einer ungewohnten, aber sinnvollen Einheit verstehen kann (vielleicht auch nicht verstehen will), und gerät in Panik: gemalte Trostlosigkeit.

Zwei Beispiele dazu. Das erste entnehme ich dem Buch von ‚Walter Jens und Hans Küng, „Menschenwürdig sterben“. (Vergleiche dazu die kritische Besprechung durch Renate Schernus in „Wege zum Menschen“: Schernus ÜMB.) Da sagt Hans Küng (Jens-Küng, S. 209): „Ich möchte … nicht erleben, was mir ein … Arzt ganz freundlich zu meiner Beruhigung gesagt hat“; der hat nämlich von einem altersdementen Professor erzählt, „der nicht mehr weiß, wer er ist, und jeden Tag sich aus der Klinik entfernt und ganz munter in die Stadt geht; er trägt eine Nummer auf dem Rücken seine Telefonnummer; er geht dann in eine Bar und kommt nach ein paar Stunden wieder fidel zurück.“ Sehe ich die Dinge richtig? Vermutlich würden Sie sich glücklich schätzen, wenn Sie es in Ihren Gruppen mit lauter solchen „pflegeleichten“ Menschen zu tun hätten. Aber das nur am Rande. Küng fährt fort: „Also ehrlich gesagt, so möchte ich mich nicht eines Tages zum Gespött der Überlebenden durch Tübingen wandeln sehen!“ Nun gut, ’so möchte ich nicht‘, wer kann ihm das verwehren. Aber ist die Situation wirklich so trostlos, so uferlos schrecklich, daß man, wie es bei Küng (im direkten Anschluß an das Zitat) der Fall ist, weiterdenken muß in Richtung von „Regelungen“ der aktiven Sterbehilfe?

Weshalb ich an dieser Stelle ausführlich werde, hat seinen Grund darin, daß ich Ihnen keinen Ausspruch eines Managers im Box-Sport-Verbandswesen vorgelesen habe, sondern Sätze eines Theologen, eines der bekanntesten heute lebenden Theologen. Und zweifellos gehört es für jeden verantwortlichen Theologen heutzutage zum „kleinen Ein-mal-Eins“, den Gegensatz zu kennen zwischen den in unseren Gesellschaften üblichen Menschenbildern und der Art, in der unsere Bibel vom Menschen spricht Ich zitiere dazu ein paar Zeilen aus dem Memorandum „Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde“, das 1978 bei einer ökumenischen Konsultation in Bad Saarow (DDR) beschlossen wurde, Da heißt es am Ende bei den „weiteren Aufgaben und Erfordernissen“ unter anderem: „Kritische Reflexion der gegenwärtigen anthropologischen Leitbilder und Ideale wie Stärke, Schönheit, Leistungsfähigkeit und deren diskriminierende Wirkung auf behinderte Menschen im
Lichte des Bekenntnisses zu Jesus Christus, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist“ (Saarow Mem, S. 11/205/233). Oder: „Die christliche Gemeinde muß deshalb der Ort sein, wo solche Vorurteile und Einstellungen im Lichte eines Menschenbildes, das sich an Jesus Christus als dem leidenden Gottesknecht und Bruder der Armen und Verachteten orientiert, aufgedeckt und verändert werden.“ (a.a.O., S. 7/202/231f)

Am Rande sei schmunzelnd vermerkt, daß es offenbar schwer ist, sich vom Ideal des Könnens und der Stärke zu verabschieden. Das zeigt sich bis hin zu einem Druckfehler, den ich gerade nicht mitgelesen habe. Im Original heißt es, wir müßten unser Menschenbild orientieren an Jesus Christus, „dem leitenden (!) Gottesknecht und Bruder der Armen“ (so in allen drei Ausgaben; vgl. Literatur-Nachweise). Bleiben wir beim leidenden Gottesknecht. wie die Passionsgeschichte ihn zeichnet: Ecce homo; seht, ein Mensch!, sagt Pilatus und zeigt hin auf den geschundenen und verspotteten Mann aus Nazareth. Hier steht „der“ Mensch in seiner kaum zu überbietenden Schwachheit Aber in dieser Schwachheit vollbrachte er das ihm von Gott aufgetragene Werk. „Meine Kraft erfüllt sich in der Schwachheit“ (2.Kor.12,9); dieser bekannte Satz ist demnach kein kerniger Spruch, den unser Meister später seinem Apostel Paulus vermittelt; sondern es ist zunächst die von ihm selber durchlittene und durchkämpfte Wahrheit. – Wer heute den Mut hat, bei diesem Menschen anzusetzen, wenn er über uns Menschen

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nachdenkt, der hat es wirklich nicht nötig, schon bei einem Professor, der ein bißchen heiter und ein bißchen komisch durch Tübingen läuft, an die Spritze zu denken.

Aber nun das zweite Beispiel: Am frühen Nachmittag komme ich ins Zimmer einer alten verwirrten Dame. Ich sitze an ihrem Gitterbett, sage ihren Namen, sage meinen Namen; dann sage ich den Satz, den sie zu Beginn ihrer Verwirrtheit jedesmal sagte, wenn wir uns trafen: „wir kennen uns ja auch, wohl?“ Aber heute schuf auch dieser Satz keine Brücke. Zudem war sie beschäftigt. Auf ihrer Brust stand das Plastik-Schälchen vom Mittags-Pudding. Sie geht mit dem Zeigefmger hinein, sucht die letzten Reste und lutscht den Finger ab. Langsam. Immer wieder. Wie weit sie mich wahrnahm, weiß ich nicht. Als ich das Vaterunser sprach, schien sie einmal kurz aufzumerken. – Ich nehme es mir nicht übel, daß es in mir das Empfinden gab: so möchte ich nicht sehr gerne ‚mal daliegen müssen. Aber ich bin froh, daß bald ein anderer Gedanke in der Nähe war, ein Satz, den ich bei Bert Brecht gelesen hatte: „nur das Grab lehrt mich nichts mehr.“ (Brecht Gedichte, S. 558) Brecht will lernen, leidenschaftlich lernen, will überall lernen, von jedem lernen; er kennt nur eine Grenze: wenn jemand tot ist, dann kann ich nichts mehr bei ihm lernen: nur das Grab lehrt mich nichts mehr. – Das weckte in mir die Frage: Bin ich bereit, von dieser alten Frau zu lernen? Wenn nicht, dann habe ich sie wie eine Tote behandelt Ich glaube, das war weniger verkopft, als es jetzt klingt; ich merkte vielmehr, wie ich da saß, und bei ihr lernte: Wie macht sie das nur: so leben, so leben müssen und dann in diesem Zustand Interesse am Weiter-Leben zeigen; ja, darum ging es: sie zeigte mit ihrem Pudding-Schlecken ihr Interesse daran, weiter zu leben; das Leben kann nicht ganz daneben sein, wenn es noch Puddingreste im Schälchen gibt – unwahrscheinlich, ein unglaublicher, ein Trost-nicht-bedürftiger Mut. Wieso war sie auf meinen Trost angewiesen? Ich hatte hier zu lernen.

Um es zusammenzufassen: Sind wir mutig oder sind wir feige? Erkennen wir die Situation, in der ein verwirrter Professor, mit der Telefonnummer auf dem Rücken, in Tübingen unterwegs ist, die andere, in der ich während der Lungenentzündung nach Luft japse und vor Anstrengung heule, weil es auf dem Nachtstuhl nicht klappen will (lächerlich, da war ich eine Spottfigur), oder die dritte, in der die alte Dame die Pudding-Reste schleckt, erkennen wir diese Situationen als mögliche Lebensformen vielleicht auch für unser Leben an, oder verweigern wir uns? Malen wir die Trostlosigkeit dieser Ausprägungen von Leben in so schaurigen Farben, daß man nur noch weglaufen kann? Oder gehen wir auf solche Situationen offen und lernwillig zu: interessant, was alles zu „unserem“ Leben dazugehören kann! – Ich behaupte: Einen großen Teil der Trostlosigkeit im Alter bildet diese gemalte Trostlosigkeit, die in Wahrheit nichts anderes ist als die Mutlosigkeit der Jüngeren.

Bei meinem nächsten Punkt, der gemachten Trostlosigkeit, will ich die These voranstellen: Wir planen und gestalten unser persönliches und unser gesellschaftliches Leben so stromlinienförmig und temporeich, daß damit automatisch das Altsein der alten Menschen immer exotischer, immer absurder, immer unerträglicher wird. – Das Ideal der Jugendlichkeit zum Beispiel hat zur notwendigen Folge, daß alte Menschen als Außenseiter gelten. In einer Gesellschaft, in der es den Satz gibt: „Trau keinem über dreißig!“, gehört es sich einfach nicht, siebzig zu sein. Das hat noch nichts zu tun mit finanziellen oder personellen Engpässen, das läuft in unseren Köpfen und Herzen ab. – „An und für sich“, sagte Dieter Hildebrandt („Scheibenwischer“ im Januar 1995), „ist Altsein bei uns noch erlaubt. Nur man sieht’s nicht gerne“ (zitiert nach: Schernus HL, S. 6). Alte Menschen werden nicht verboten, aber sie müssen sich schämen. Sechzig Jahre – das geht; auf dem Friedhof liegen – auch möglich. Aber dazwischen irgendetwas. sagen wir: 89 sein und noch immer leben – was soll das eigentlich, wer hat ‚was davon? – Das ist die völlig logische Kehrseite des Ideals der Jugendlichkeit und der Leistungsstärke; das ist wirklich trostlos. Nur: Diese Trostlosigkeit haben wir alle mitgebaut. Wir alle legen in jungen Jahren großen Wert darauf, mithalten zu können bei unseren drei Norm-Idealen „Selbständigkeit“, „Gesundheit“ und „Leistungsstärke“. Ich will das nicht moralisch anprangern, ich stelle nur fest: so ist es. Wer könnte es sich denn leisten, leistungsschwach zu sein; wer ist so gesund, sich für eine Krankheit

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Zeit nehmen zu können; wer ist so selbständig, freiwillig seine Selbständigkeit einschränken zu können? Hier gibt es Zwänge und Ketten, die ein einzelner kaum sprengen kann. Hier kommt die Sklaverei in den Blick, die es nötig macht, auch in Europa eine eigenständige Befreiungstheologie zu entwickeln (vgl. dazu: Bach Thesen, und: Bach Frau N). Und wenn doch einmal einzelne diese Ketten sprengen (ich denke etwa an Albert Schweitzer, Janusz Korczak oder Mutter Theresa), dann sind wir geneigt, solche Menschen als etwas absolut Außergewöhnliches zu beklatschen, womit wir nebenbei zu verstehen geben: für mich kommt so etwas natürlich nicht in Frage. Warum eigentlich nicht?

Gott sei Dank, gibt es auch heute relativ viele, die so fragen: warum eigentlich nicht“, und die dann etwa in pflegende Berufe gehen. Nur: wie geht deren Geschichte weiter? Sind sie nicht oft sträflich alleingelassen? – Man mag es beklagen, daß die Eintritts-Zahlen bei pflegenden Berufen heute nicht höher sind, als es der Fall ist. Was ich aber viel aufregender finde, ist die Tatsache, daß so viele von denen, die einen pflegenden Beruf beginnen, die auch die Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen haben, nach einem halben Jahr schon oder nach zwei Jahren in total anderen Berufsfeldern wiederzufinden sind. Hatten wir sie nicht genügend begleitet? – Ich bin ja beim Thema der „gemachten Trostlosigkeit“
und möchte fragen, ob wir Diakoniker uns nicht der „geistigen Ausbeutung“ schuldig machen. Ich meine folgendes: Wenn es „in“ ist, jung zu sein, sind alte Menschen „out“; das sagte ich bereits ähnlich. Nun aber weiter: Wenn Jung-sein „in“ ist, ist es ebenfalls „out“, sich hauptberuflich um alte Menschen zu kümmern. Wie gehen Mitarbeiter mit diesem Konflikt um, den sie natürlich nicht nur in Begegnungen draußen spüren („was, da arbeitest du?“), sondern auch in sich selber? Auf der Gruppe gilt der Satz: Sie dürfen so hinfällig und schwach sein, wie Sie sind; so wie Sie sind, sind Sie ein guter und wertvoller Mensch. Zu Hause aber, wenn der Sohn in der Mathe-Arbeit eine „5“ hatte, ist es vielleicht gar nicht angebracht, ‚ähnlich zu reden; da ist es vielleicht richtiger zu. sagen: wenn aus dir ‚was werden soll, mußt Du dich aber tüchtig auf den Hosenboden setzen. – Das sollte nur ein Mini-Beispiel sein, an dem ich klarmachen wollte: Pflegekräfte haben es ständig, hautnah und existentiell mit zwei gegensätzlichen Menschenbildern zu tun, zwischen denen man zerrieben werden kann wie zwischen Mühlsteinen, wenn man nicht gelernt hat, diese Konflikte geistig in den Griff zu bekommen. Wer im Blick hat, daß (wie gesagt) die „gemachte Trostlosigkeit“ von uns allen hergestellt, gefördert und gefestigt wird, kann erkennen, daß Mitarbeiter im Altenbereich notwendigerweise auf beiden Seiten vorkommen: auf der Täter- und auf der Opferseite. Ich behaupte: Eine Diakonie, die Tausende in solche Konflikte schickt und sie dort nicht intensiv begleitet, macht sich der mangelnden Aufsichtspflicht schuldig – oder geistiger Ausbeutung. Auch solche Unterlassungen vergrößern noch einmal die zur Rede stehende Trostlosigkeit.

Bitte erwarten sie jetzt nicht von mir, daß ich die Trostlosigkeit auflösen könnte. Gerade weil sie in hohem Maße von uns allen gemacht ist, wird es kaum möglich sein (es sei denn, wir ändern radikal unser Leben), sie zu beheben. Die Frage muß sein: Wie können wir sie angehen, ohne in ihr unterzugehen. Das erste ist das ehrliche Eingeständnis (ich sage es noch einmal): Ich habe keine Lösung. Ich kann die Trostlosigkeit nicht wegreden. Ich weiß keinen einleuchtenden “Trost“ anzubieten. Und dennoch möchte ich noch weiterreden, weil ich nämlich davon überzeugt bin: Es gibt eine Möglichkeit, die nicht wegzudiskutierende Trostlosigkeit erträglich zu machen, oder vorsichtiger: sie wenigstens ein bißchen erträglicher zu gestalten.

Wenn ich jetzt auf die Kreuzestheologie Luthers zu sprechen komme, dann ist mir jener Tucholsky-Satz nicht etwa ein unbequemes Warnschild; vielmehr sehe ich in ihm eine ausgesprochene Hilfe: Wer Luthers Theologie des Kreuzes liest und sich von vornherein vornimmt, jede Aufspaltung in zwei Überzeugungen (eine für die guten, eine für die schlechten Tage) streng zu vermeiden, der hat bereits eine wichtige Entscheidung Luthers mitvollzogen. Luther sagt (ich möchte es einmal wagen, den Extrakt der Lutherschen Kreuzestheologie in einen einzigen Satz zusammenzupressen), Luther zeigt hin auf das Kreuz von Golgatha und sagt: da bist du selig geworden – oder: da hat Gott für dich gesorgt,

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oder: da ist Gott mit dir und du mit Gott klargekommen. Natürlich ist das eine brauchbare „Überzeugung, wenn’s einem schlecht geht“: Der (ich bleibe beim Thema) altersschwache Mensch darf hören: Du bist okay, denn Christus ist für dich gestorben. Und daß ich nichts mehr arbeiten kann, und nichts mehr behalten, vielleicht auch nichts mehr bei mir behalten kann? Das ist so, aber dadurch bist du kein bißchen weniger okay.

Nebenbei gesagt: Auch heute wird Luthers Kreuzes-Theologie zuweilen noch immer mißverstanden, als sei sie eine dunkle, nach unten ziehende, den Menschen moralisch fertigmachende Angelegenheit. Das Gegenteil ist richtig. Originalton Luther. „Das ist die Kraft seiner Passion, daß sie kecke Leute macht .. Der Tod des Christus … macht andere Leute mutig“ (Luther EV V, S. 23). In heutigem Deutsch: Luthers Kreuzestheologie trainiert mit uns den „aufrechten Gang“. – Und wenn’s einem nicht schlecht geht? Wenn man sagen kann: ich bin wer, denn ich bin soeben befördert worden; ich bin wer, denn meine Kinder schafften das Abitur; ich bin wer, denn ich laufe die hundert Meter in zehn-sieben? Dann allerdings könnte Luther unpassend kommen: Das ist so, aber dadurch bist du kein bißchen mehr okay. Tu das alles an die Seite, wenn es um deine Lebensbasis geht; denn du bist wer, weil Christus für dich gestorben ist. Tatsächlich verdirbt Luther denen die Laune, die übermütig in ihrem Leben ohne Gott auskommen wollen, die, wenn sie überhaupt von Gott reden, dann von ihm erhoffen, er werde ihren Karriere- und Gesundheits-Rummel fördern und vor Schädigungen bewahren. Solches Götzenbild wird durch Luthers Kreuzes-Theologie allerdings nachhaltig zertrümmert. – Und das ist nicht etwa nur für den  sozusagen binnenkirchlichen Bereich wichtig. Nein, was Luther hier zerschlägt, ist das, was unser Miteinander in der Gesellschaft ruiniert: Die Starken brüsten sich mit Stärke, Ansehen und Erfolgen; und für die Ärmsten am Rande bleibt immerhin als Trost der liebe Heiland. Das macht uns kaputt; das macht unsere Gesellschaft zu einer gespaltenen Gesellschaft, zu einer Apartheidsgesellschaft, in der sich die Stärkeren über die Schwächeren erheben, die Jungen über die Alten, die Könner über die Nicht-Angepaßten. Das will Luther verhindern; er will das Getrennte zusammenbringen und versöhnen. Kurzum: Luthers Kreuzestheologie muß endlich begriffen werden in ihrer sozialtherapeutisehen Funktion.

Zu meiner und gewiß auch Ihrer Freude lassen sich diese wichtigen Tatbestände auch wesentlich anschaulicher erzählen. Wir müssen nur von Luther zu Lukas wechseln.

Der dritte Evangelist erzählt vom alten Simeon (Lukas 2, 25-35). Der kommt in den Tempel in dem Augenblick, als auch drei andere dort sind: Maria, Josef, das Kind. Die Eltern wollen für das Baby das Opfer darbringen, wie es damals üblich war. – Da tritt Simeon auf sie zu: Ein alter Mann, ein frommer Mann; darf ich auch sagen: ein geduldiger Mann? Ich weiß es nicht. Simeon wartete wie viele Menschen damals auf das Kommen des verheißenen Retters, des Heilandes. Gott wird ihn senden. Aber wann? Man wartete und hoffte. Simeon – wartete und hoffte. Nur war eine Sache bei ihm anders: Gott hatte ihm versprochen: Du wirst es noch erleben. Noch zu deinen Lebzeiten soll der Messias geboren werden; du wirst ihn leibhaftig sehen. Simeon wartete und hoffte. Sein Bart wurde länger, die Haare wurden weißer. War er geduldig? Wir wissen es nicht. Schon möglich, daß dieser fromme Mann hin und wieder ungeduldig dachte: Nun wird’s aber Zeit!

Jetzt trifft er diese drei: Maria, Josef, das Kind. Simeon weiß: Gottes Versprechen ist erfüllt: Hier ist der Retter. Dieses Kind ist der Heiland. Endlich! Ach, ist das gut! Und er nimmt das Kind auf seine Arme und ist völlig in Einklang mit sich, mit seinem Leben, mit seinem Gott.

Für mich gehört Simeon zu den faszinierendsten Gestalten der biblischen Geschichte. Ich möchte so glauben können wie Simeon. Ich möchte so wie er in Einklang sein gleichzeitig mit mir und mit Gott. Unglaublich schön ist dieses Bild: Der alte Simeon, das Jesuskind auf den Händen: Herr, jetzt ist alles gut. Der freie Simeon: Jetzt habe ich Frieden und brauche auch vor dem Sterben nicht zu erschrecken.

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Ich werde bald sterben – ja und? Ich kann jetzt in Frieden Abschied nehmen. Denn das Wichtigste, was
ein Mensch überhaupt erleben kann, ich habe es erlebt: Ich habe mit meinen Augen deinen Heiland gesehen.

Komme ich ins Schwärmen? Steigere ich mich jetzt hinein in jene zweite Überzeugung für die schlechten, für die alten Tage, also in die religiöse Vertröstung? Ist vielleicht Lukas selbst ein Meister der Vertröstung? So könnte ihn nur der verstehen, der dem Evangelisten nicht weiter zuhört. Denn in seinem Evangelium erzählt er, viel später; noch von einem anderen Mann (Lukas 12, 16-21); auch der hat gesagt: Jetzt habe ich Frieden; jetzt kann mir nichts passieren; ach, ist das gut! Aber dieser andere Mann wird ein „Narr“ genannt. Und ich denke, von Simeon kann ich nur dann glauben lernen, wenn ich auch jenen zweiten Mann im Blick habe.  – Landwirt war er, Kornbauer oder besser: reicher Gutsbesitzer. Armut hatte er nie kennengelernt. Aber dann kam ein Jahr – wie aus dem Bilderbuch! Kom und andere Früchte wuchsen, es war eine Lust, die kommende Ernte heranreifen zu sehen. Die Scheunen müssen weg, sind viel zu läppisch. Großsilos müssen her, koste es, was es wolle – die Ernte bringt’s wieder rein. Und richtig: Alle Groß-Scheunen und Silos wurden voll, die Schulden sind bezahlt, unser Gutsbesitzer lehnt sich zurück, kann aufatmen; alle Mühe hat sich gelohnt. Nun habe ich Ruhe und Frieden für viele Jahre. Endlich! Ach, ist das gut!

Ein zweiter Simeon also? Das Gegenteil von Simeon! Der Gutsbesitzer konnte keineswegs in Frieden Abschied nehmen. Die Frage: wenn du heute Nacht sterben mußt, wem wird gehören, was du angesammelt hast?, diese Frage deckte seine Narrheit auf: Sein Lebensziel und sein Lebensinhalt waren volle Taschen; zugegeben: die hatte er. Aber er hatte vergessen: Das Totenhemd hat keine Taschen. – Simeon brauchte keine Taschen. Was ihn froh machte, kann man nicht in die Tasche stecken; es paßt nur in unsere Herzen. Und Simeons Herz war voller Freude und Frieden. Er hält das Gotteskind in den Armen. Er war nicht reich. Er war nicht jung. Er war weder erfolgreich noch konkurrenzfähig. Er war in Einklang mit Gott. Das war besser als alles andere.

Bei Lukas das gleiche wie bei Luther: Der Tod Jesu ist deine Lebensbasisin schlechten und in guten Tagen – oder gar nicht. Das Reich-sein-in-Gott war dem Simeon angeboten und dem Gutsbesitzer, beiden für ein ganzes Leben; wer allerdings in guten Tagen auf volle Scheunen setzt, kann auch, wenn es hart auf hart kommt, nicht in Frieden Abschied nehmen. Der Religions-Kitsch, den Tucholsky mit jenen zwei Überzeugungen bissig ironisiert, ist weder bei Luther noch bei Lukas unterzubringen.

Wer ist mein Vorbild? Simeon oder der Kombauer? Ist Gott mein Freund – dann muß auch die Armut nicht mein Feind sein, auch nicht Krankheit, Behinderung oder Alter. Oder ist die Armut mein Erzfeind, und etwas Schlimmeres ist für mich nicht denkbar? Dann habe ich nichts übrig für Gott. Denn ich kann nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon, dem gekreuzigten Gottessohn und den vollen Scheunen.

So wichtig Trost und innerer Friede sind – indem Lukas von Simeon und vom Kombauern erzählt, sagt er: Friede kann Gift sein. An dem Satz: „Ach, ist das gut, jetzt kann mir nichts mehr passieren!“, können wir Menschen auch verrecken; denn vielleicht ist da gar nichts gut; vielleicht ist da nur Lüge und Verführung. – Was heißt in meinem Leben „Friede“ und „Trost“? Lasse ich mich verführen; lasse ich mir vorlügen, ich könne sorglos und getröstet leben, wenn ich eine neue Stereo-Anlage oder einen schnittigen Wagen habe, wenn ich ohne Rollstuhl auskomme und nicht zu den Arbeitslosengeld-Empfängern gehöre? Oder lerne ich bei Simeon, was Friede in Wahrheit ist: Reich sein in Gott und darum die Kraft haben, wenn’s sein muß, alles andere loszulassen? Herr, jetzt könnte dein Knecht in Frieden sogar sterben, denn ich habe erkannt, daß du mein Freund bist.

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Zu Beginn dieses Gedankengangs zu Luther und Lukas hatte ich gesagt: Es gibt eine Möglichkeit, die nicht wegzudiskutierende Trostlosigkeit erträglich zu machen, oder sie wenigstens ein bißchen erträglicher: zu gestalten. – Wer könnte sie erträglicher gestalten? Jeder für sich, oder wir miteinander? – Dazu zwei Notizen:

Zunächst grundsätzlich: Ich halte es seit langen Jahren für die zentrale diakonische Aufgabe unserer Kirche (noch vor allem Geldsammeln, Häuser-Bauen und sozialberuflichem Tätigwerden), wieder glauben zu lernen, sich also beispielsweise Simeon schon in jungen Jahren zum Vorbild zu nehmen, oder: die erste Frage des Heidelberger Katechismus, nach der Jesus Christus der einzige Trost ist, schon im „Leben“ zu trainieren und nicht erst, wenn es dem „Sterben“ zugeht. – Darf ich mir für diese Tagung den Vorschlag erlauben, hiermit jetzt zu beginnen: indem wir uns Gedanken machen über den Trost für die „uns anvertrauten Menschen“, sollten wir offen auch davon sprechen, was uns denn „tröstet“ und hält. Leiten wir nur andere zum Schwimmen an, oder lassen wir uns selbst vom gleichen Wasser tragen? Und es kann sogar geschehen, falls ich wirklich mit ins Wasser gehe, daß (ich denke noch einmal an die alte Dame und ihr Pudding-Schälchen) – daß ich zum eigenen Schwimmen neu ermutigt werde, wenn ich sehe, wie sich andere ganz selbstverständlich vom „Wasser“ tragen lassen.

In meiner zweiten Notiz will ich den Versuch machen anzudeuten, wie das im Alltag unserer Einrichtungen aussehen könnte, wenn wir uns miteinander (Bewohner, Mitarbeiter, Leitung) daranmachen, die oft nicht wegzukriegende Trostlosigkeit gemeinsam zu bestehen.

Bei der Gelegenheit ist es für Sie vielleicht nicht uninteressant zu hören, bei welchem Ausdruck in Ihrer Zeitschrift „Johannesruf“ man stutzig werden kann, wenn man 64 Jahre zählt und bereits seit über vierzig Jahren pflegeabhängig ist. Als ich da (‚2/95, S. 14) auf „die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze“ stieß, fiel mir ein, was ich kurz zuvor in einem Bericht eines ZDL-ers gelesen hatte: „Ich kniete mich hin und zwängte meinen Zeigefinger in die engen Zwischenräume seiner rissigen, verwachsenen und brandigen Zehen – und pulte auch dort die Scheiße hervor. Vor zwei Tagen ist der Alte gestorben. Wir sind alle sehr zufrieden darüber“ (Jochen Temsch (Zivi, 23 J.), Das wird schon wieder, in: ZEIT -Punkte 2/95. S. 10). Vorstellbar wird für mich: ich bin demnächst jemand, vor dem einer von Ihnen knien muß, um zwischen meinen Zehen den Kot oder das verschüttete Gemüse herauszupulen. Vorstellbar wird für mich, daß Ihr Arbeitsplatz dadurch nicht gerade attraktiver wird. Vorstellbar also wird für mich: Vielleicht bin ich es. der Ihren ansonsten attraktiven Arbeitsplatz versaut. – Aber ich kann doch nicht dafür. Und auch Ihnen ist kein Vorwurf zu machen; natürlich haben Sie das. Recht auf einen attraktiven Arbeitsplatz, ich denke nicht daran, Ihnen das streitig zu machen. Nur: wie reimt sich beides zusammen? Ich weiß es nicht. Aber mir fällt noch jemand ein, der sich hinkniete und anderen zwischen den Zehen herumpulte. Im Johannes-Evangelium findet sich diese Geschichte, wie Jesus, wie der Gottessohn seinen Jüngern die Füße wäscht (Johannes 13, 1-17). Die hatten zwischen den Zehen vermutlich weder Kot noch Gemüse. mit Sicherheit aber – das ist bei den heißen und staubigen Wegen Palästinas kaum anders vorstellbar – ein unappetitliches Gemisch aus Sand und verkrustetem Fußschweiß. Jesus hatte keinen attraktiven Arbeitsplatz. Und: Er nennt gerade dieses Tun diakonisch.

Aber Vorsicht! Es wäre jetzt ein übler Kurzschluß, wollte ich hier fortfahren: Habt Ihr Mitarbeiter gehört, wie Jesus das machte? Also; stellt euch nicht an, verzichtet auch Ihr auf einen attraktiven Arbeitsplatz; andernfalls kommt Ihr als diakonische Mitarbeiter nicht in Frage. Mit solchen Sätzen hätte ich das heilige Evangelium als Peitsche mißbraucht, mit der ich auf Mitarbeiter eindresche. – Auch wenn ich hier keine Lösung weiß, möchte ich sagen, in welche Richtung ich denke. Meines Erachtens müßte zweierlei zusammenkommen: Auf der einen Seite tatsächlich Menschen. die bereit sind. eine deutliche Un-Attraktivität ihres Arbeitsplatzes mindestens auf Zeit in Kauf zu nehmen (Diakonie nach dem Modell der Fußwaschung). Das würde aber sofort zu einer Ausbeutung der Mitarbeiter führen, wenn das andere nicht hinzukäme: Strukturen, sorgfältigste Vorgesetzten-Auswahl, Bildung von sich

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besonders gut verstehenden Mitarbeiter-Teams und anderes – alles mit dem Ziel, diese Arbeitsplätze gewissermaßen von außen her attraktiv zu machen. – Ich wills konkreter fassen und erinnere an jenen ZDL: „Vor zwei Tagen ist der Alte gestorben. Wir sind alle sehr zufrieden darüber.“ So etwas muß doch zunächst einmal ausgesprochen werden dürfen. Dann aber muß auch etwas anderes legitim sein: Etwa als Mitarbeiter(in) nach einem freien Wochenende auf die Gruppe kommen, und schon im Auto oder noch früher spürte man in sich die Hoffnung, daß „der Alte“ nicht mehr lebt. Man kommt auf die Gruppe – er lebt immer noch! Sind jetzt Kollegen und Vorgesetzte da, denen man das sagen kann: „Ich bin richtig ein bißchen alle, ich hatte gehofft, Herr Meyer ist gestorben, ich kanns bald nicht mehr ertragen“, und von denen man dann nicht zu hören bekommt: stell dich nicht an, du willst ein Christ sein?, du taugst wohl nicht für Diakonie, wenn du so schlapp bist; sondern die dann vielleicht sagen: ich kann dich verstehen, mir ging es auch schon so? – Natürlich ist das sofort eine Frage nach der Personal-Struktur und der Personalmenge, ich weiß. Aber eins ist auch klar: Wenn wir von Mitarbeitern besondere Belastbarkeit erwarten,  ohne gleichzeitig durch flankierende strukturelle Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Belastungen einigermaßen erträglich bleiben, dann, haben die Einrichtungen diakonisch versagt, nicht die Mitarbeiter.

Jetzt, ganz zum Schluß, sollte ich doch noch einmal von meiner Rolle reden, in der ich den heutigen Vortrag hielt. Sonst könnten gerade meine letzten Ausführungen klingen wie kluge Ratschläge eines Ober-Diakonikers. Nein, der bin ich nicht; der will ich auch nicht sein: Ich sprach die ganze Zeit als Betroffener: als einer, der in zwei Monaten in Rente geht, als einer, der seit vierzig Jahren keinen Tag ohne Pflege auskommt, als einer, der kürzlich lebensgefährlich erkrankt war. In dieser Rolle muß ich es für möglich halten, daß ich eines Tages auf einer Ihrer Gruppen liege; ja, vielleicht bin ich dann irgendwann der „Herr Meyer“, von dem Sie hoffen, er ist am Wochenende gestorben – aber ich lebe.
noch immer. Mir ist es heute wichtig, solche Situationen in meinem Denken zuzulassen. Und Sie hätten mich richtig verstanden, wenn Sie meine Ausführungen als zweigeteilte Bitte gehört haben:
a) Laßt uns das „diakonische Hauruck“ gar nicht erst versuchen, also die Beteuerung, bei uns ist alles okay, macht bloß die Diakonie nicht schlecht!,
b) laßt uns miteinander aushalten, daß wir keine Ideallösung haben und auch keine Idealmenschen sind, keine Ideal-Alten, keine Ideal-Mitarbeiter, keine Ideal-Leitungen. Der alte Mensch muß wissen dürfen: ich bin (unter Umständen!) eine kaum noch erträgliche Zumutung. Und die Mitarbeiterin muß sagen dürfen: ich habe nicht so viel Geduld, wie sie für diesen „Herrn Meyer“ richtig wäre.
Wenn wir miteinander als unvollkommene, als fehlerhafte, als andere Menschen belastende Menschen Mut füreinander entwickeln, dann ist die Trostlosigkeit nicht einfach weg. Aber sie ist ein Stück weit erträglicher geworden, davon bin ich überzeugt.

—- Kürzel der zitiertenLiteratur—-

Bach Frau N =Ulrich Bach, Wer hat Angst vor Frau N.? Ein Kapitelchen abendländischer Befreiungs-Theologie, in:
Diakonie (DW der EKiD), 4/1987, S. 198-202

Bach Thesen = ders., „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal..5,1) – Thesen zu einer abendländischen Befreiungs-Theologie (ursprünglich: Evangelische DiakonenanstaIt Martineum, Beilage zum Monatsbrief Oktober 1987). Junge Kirche 49. Jg., 1988. S.478ff

Brecht Gedichte = Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, (Suhrkamp) Frankfurt/M. 1981

Feyerabend (u.a.) WN = E. Feyerabend, U. Fuchs, W. Kobusch, J. Paul, Erlaubt wird. was machbar ist. Vom Wahnsinn der
Normalität – die »Bioethik-Konvention«, in: Soziale Psychiatrie 2/94, S. 2-31

Jens-Küng MW = Walter Jens, Hans Küng, Menschenwürdig sterben, Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, Mit Beiträgen
von Dietrich Niethammer und Albin Eser, (Piper) München und Zürich 1995

Johannesruf 2/1995 = Evangelisches Johanneswerk e.V., Bielefeld (Hg.), Jobannesruf, Halbjahresschrift des Evangelischen
Johanneswerkes, 1995, Heft 2: Die Qualität der diakonischen Altenarbeit

Luther Ev V = D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. von E. Mülhaupt, Göttingen; Band V: 2. Aufl 1954

Neruda LW III = Pablo Neruda, Das lyrische Werk. Band 3 (hg. von Karsten Garscha) (Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1986), Büchergilde Gutenberg oJ.

Saarow Mem = Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow (DDR), April 1978; mehrfach gedruckt, z.B.: epd-Dokumentation Nr. 36a/78; Geiko Müller-Fahrenholz (Hg.), Wir brauchen einander, Behinderte in kirchlicher Verantwortung, Frankfurt 1979, S. 197ff; und: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD 1978/79; S.227ff

Schernus HL = Renate Schernus. Heiligkeit des Lebens – ein Märchen von Gestern?, Vortrag auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg, Forum Lebenswert und Lebensrecht am 15.6.1995, Manuskript

Schernus ÜMB = dies., Über-menschliche Barmherzigkeit, Eine Entgegnung auf Walter Jens und Hans Küng, in: Wege zum Menschen (Göttingen), 47. Jg., 1995, Heft 6, S. 362-370

Tucholsky AW II = Kurt Tucholsky, Ausgewählte Werke, Band 2, (Rowohlt) Reinbek bei Hamburg 1965

ZEIT·Punkte 2/95 =Theo Sommer (Hg.), Was darf der Mensch?, ZElT-Punkte 2/1995 (ZEIT-Verlag Hamburg)

Theologie nach Hadamar als Aufgabe aller heutigen Theologie

Ulrich Bach

  1. Eine Dame und ein Herr von der Presse fragten nach mir (z.B. Alter: „knapp 60“) und nach meinen Thesen. Hierzu erzählte ich kurz ein meines Erachtens recht auffälliges Beispiel, das die Reporterin aber abmilderte mit der Bemerkung: „Das erlebt ein Erwachsener in Ihrem Alter doch auch so“ (wobei nicht etwa das Wort „erlebt“ betont und das „auch“ fast verschluckt wurde, womit gemeint gewesen wäre: das erlebt doch jeder so; sie betonte vielmehr die Wörter „Erwachsener“ und „auch“, so daß der Satz bedeutete: Auch als Erwachsener, nicht nur als Rollstuhlfahrer, erlebt man das so   hier bildeten „Erwachsener“ und „Behinderter“ Gegensätze). Als ich sie vorsichtig, aber deutlich, darauf aufmerksam machte, daß sie soeben eine unterschwellige weit verbreitete Meinung übernommen hatte: Wer auf vier Räder unter seiner Sitzfläche angewiesen ist, kann auch mit sechzig Jahren nicht erwachsen sein, war ihr das peinlich, worauf ich sagte, das sei unnötig. Nötig sei vielmehr, daß wir alle erkennen, welche Schaltfehler sich in unserem Denken und Sprechen finden: Wir reden anders und anderes über behinderte Menschen als über nichtbehinderte. (Durch selbstkritische Beobachtungen bei häufigen Begegnungen mit schwerstbehinderten Menschen belehrt, schließe ich mich hier ein.)   Parallelen dazu: Eine Spastikerin hört hinter sich im Park: „Bei Hitler hätte man so ‚was nicht leben lassen.“ Häufige Reaktion, wenn Gruppen eine Binderten Einrichtung besucht hatten: „Wenn ich dieses ganze Elend da sehe!“ Gespräch zwischen Rennfahrern über einen möglichen schweren Unfall: „Lieber tot als im Rollstuhl.“ Gemeinsamer Nenner dieser und ungezählter weiterer Sätze: Wir haben von „Mensch“ und „Leben“ bestimmte Bilder und Definitionen, die schon fertig waren, bevor wir an kranke und behinderte Menschen dachten. Diese Schaltfehler im Denken und Reden kennen wir aus der südafrikanischen Apartheid; darum nenne ich diese uns alle prägende Perversion: europäisches Apartheids Denken, Euthanasie Mentalität, Sozial Rassismus.
     
  2. Dieser Schaden läßt sich freilich nicht auf die oft als inhuman gescholtene Gesellschaft eingrenzen, sondern ist verbreitet auch im kirchlichen Leben und in der Theologie. Ein blinder Presbyter brachte es, als von störenden Barrieren die Rede war, auf die Formel: „Stufen gibt es nicht nur im Baulichen, sondern auch im Er Baulichen.“ Beispiele aus Kirche und Theologie habe ich in den letzten Jahrzehnten breit zur Sprache gebracht (ich verweise etwa auf: Bach 1991), hier nur in aller Kürze: Ich denke an den dritten Artikel unseres Glaubensbekenntnisses (vom Heiligen Geist und der Kirche), den wir meistens so auslegen, daß behinderte Menschen nur bei den Aufgaben der Kirche auftauchen (also als Objekte gelten), nicht aber als Subjekte: Bei der Mission heißt das, ihnen muß gepredigt werden; bei der Diakonie, ihnen muß geholfen werden. Der Gedanke, daß sie auch an die übrige Kirche eine Botschaft auszurichten hätten, daß eine Pflegerin im Krankenhaus durch den Patienten Diakonie erfahren könnte, auf solche Gedanken kommen wir nicht. Der vom zweiten Artikel her behauptete Satz, Jesus hätte alle Behinderten geheilt (vgl. dagegen die in Bach 1997 [b] angegebene Literatur), paßt, so in Predigt und Unterricht gehört, absolut nicht in das praktische Leben eines schwer behinderten Menschen und brachte Berufsschüler dazu, mir (ohne daß ich das Thema schon angesprochen hätte) zu sagen: „Wenn Sie mir jetzt mit diesem Jesus kommen, melde ich mich vom Unterricht ab.“ Beim ersten Artikel (zur Schöpfung) ist ständig zu hören und zu lesen, Behinderung gehöre nicht in die Schöpfung Gottes, der „eigentliche Mensch“ (der „von Gott gewollte Mensch“) sei nichtbehindert, womit (aber wer denkt so weit?!) zwischen Gott und seine behindert bleibenden Geschöpfe eine Kluft gerissen wird, die einen behinderten Menschen zum ‚Menschen zweiter Wahl‘, zum Ausnahmemenschen, zur Sonder Existenz macht, kurz: zum ‚Nigger‘.   Jeder, der behauptet, bei ihm aber seien behinderte und nichtbehinderte Menschen völlig gleichrangig, sollte sich selbstkritisch diese Sätze vorlegen: „Mit mir kann Gott etwas anfangen, wenn er einem Schwerstbehinderten Gutes tun will“, und: „Mit dem Schwerstbehinderten kann Gott etwas anfangen, wenn er mir etwas Gutes tun will.“ Von mir muß ich sagen: Der erste Satz macht mir weniger Schwierigkeiten als der zweite. Aus vielen Gesprächen weiß ich, daß ich da kein Einzelfall bin. Es ist wichtig, hier nicht auszuweichen.
     
  3. Woran liegt diese, auch in Kirche und Theologie verbreitete Spaltung „die einen (Normalen) / die anderen (Unnormalen)“? Lassen sich Traditionen finden, durch die sich die Dinge mindestens teilweise erklären lassen?   Im Zusammenhang mit meinen Benennungen „Apartheidstheologie“ und „theologischer Sozial Rassismus“ hatte ich mich mit dem Rassismus etwa in Südafrika befaßt. Da lernte ich, daß Theologie den rassistischen Graben nicht ständig zuschüttet, sondern ihn gelegentlich sogar verbreitert und vertieft. Den krassesten Beleg bildet die sog. Ham Theorie: Noah segnete seine Söhne Sem und Japhet, aber den Bösewicht Ham (bzw. dessen Sohn Kanaan) verfluchte er (1. Mose 9,24 27). Ein niederländischer Kommentar von 1670 erklärt (es war die Zeit, in der Niederländer in Südafrika Farmen gründeten!): In dem Augenblick, als Noah den Fluch aussprach, kräuselten sich Kanaans Haare und seine Haut wurde schwarz (Groth 1979, S. 144). Da der Fluch darin besteht, daß die Ham Nachkommen Sklaven sein sollen, ist für jeden Weißen in Südafrika das rassistische Bett theologisch einladend bezogen: Schon die Bibel sagt, daß die Schwarzen unsere Sklaven sein sollen. Die Apartheid ist damit eine Gottesordnung!   Ein so deutliches Beipiel kannte ich zu meinem Thema nicht, wohl aber klare Parallelen: Auch behinderte Menschen werden in der Theologie vielfach (s.o.) als ‚Menschen zweiter Wahl‘ gesehen. Verblüfft hat es mich dann, als ich ein paar Jahre später fast zufällig auf zwei Arbeiten des Medizin Historikers J.N.Neumann stieß (Neumann 1992, 1994), in denen mir noch einmal die Ham Theorie begegnete, und zwar nachzuweisen schon für das Mittelalter und bezogen auf behinderte Menschen! Neumann vertritt die These, so sei es bereits bei Augustin, wozu mir seine Belege nicht recht schlüssig zu sein scheinen. (In Kürze: Es geht um die theologische In eins Setzung oder eben um die Fast In eins Setzung behinderter Menschen mit den, damals besonders in der Reiseliteratur oft genannten, exotischen Randvölkern am Rande der Welt. Mir scheint es, im Gegensatz zu Neumann, als unterschiede Augustin da noch, was aber spätere Generationen eindeutig nicht mehr tun.) Klar ist jedoch, daß Augustin die Noah Geschichte allegorisch deutet, so daß mindestens die Randvölker zu Nachkommen des im Sinne Gottes verfluchten Ham erklärt werden. Klar ist desgleichen, daß in diese Ham Theorie jedenfalls in der Folgezeit auch die in unserer Nachbarschaft lebenden Behinderten einbezogen wurden. Klar ist drittens, daß diese auf Augustin zurückgehende und jedenfalls später auch behinderte Menschen diffamierende Ham Theorie außerordentlich wirksam wurde in der mittelalterlichen Naturkunde, in der Literatur und der bildenden Kunst, selbstverständlich auch in der Theologie und in der durch sie bestimmten katechetischen Volksbelehrung.
     
  4. Meinen wir nur nicht, das sei inzwischen verflogen! Im Gegenteil, diese Tradition ist für uns eine meist nicht wahrgenommene Hypothek, wobei ich hier offenlasse, ob die Ham Theorie schon die Wurzel des Übels ist (was ich nicht vermute), oder ob nicht noch grundsätzlicher eine vielleicht alle Menschen prägende Grundannahme vorauszusetzen ist, die ein Gemisch darstellt von einerseits Angst vor dem Leiden (vor Schmerz, vor größeren Einschränkungen, vor Behinderungen) und andererseits einer kindlich naiven Gottes  (Gottheits , Schicksals  o.a.) Vorstellung (Gott kann das Leiden nicht wollen, muß es verhindern oder mildern und beheben; wegen solchen Irr Glaubens mußte schon Petrus von Jesus scharf zurechtgewiesen werden, vgl. Mt. 16,21 23). Auf jeden Fall wurde durch die Ham Theorie solchen falschen Überzeugungen das kirchliche Gütesiegel aufgedrückt, was uns bis heute knechtet: Als Menschen können wir nicht anders als so zu empfinden; als Christen können wir, so geprägt, kaum anders, als davon überzeugt zu sein, daß diese Gottes Vorstellung der biblischen Botschaft entspricht. Da auch wir Theologen an dieser Symptomatik leiden, können wir biblische Texte, solange wir nicht bewußt gegensteuern, nur von den genannten irrigen Vorgaben her lesen, was dazu führt, daß wir sie gegen unsere Absicht umdeuten. Als Beispiel ein besonders folgenschweres Thema: Mit der Ham Theorie werden behinderte Menschen sehr dicht verbunden mit dem Begriff „das Böse“. Da nun Jesus gegen das Böse zu kämpfen hatte, sah er angeblich auch in behinderten Menschen „das Böse“ realisiert (darum die Heilungen). Das ist schroff gegen den Bibeltext (vgl. noch einmal die in Bach 1997 [b] genannte Literatur). Eine praktische Folge: Durch die Begegnung mit einem behinderten Menschen werden weniger unsere praktischen Möglichkeiten an Hinwendung, Solidarität und Hilfe herausgefordert als (wie auch sonst beim Thema „gut und böse“) unsere theoretischen Möglichkeiten der moralischen Reflexion, was im allgemeinen zu der Gefahr führt, von vornherein Distanz zu schaffen (apartheidstheologische Abwendung). So zeigt sich: Wir brauchen dringend eine europäische Befreiungstheologie (Bach 1988), um die Knechtungen auf beiden Seiten anzugehen: Nicht nur die Behinderten sind geknechtet (etwa durch die gesellschaftliche und kirchliche Diskriminierung), sondern auch die Nichtbehinderten, die in ihrer Angst und Unbeholfenheit Sätze sagen (müssen?) wie: Ich darf gar nicht (auch hier also die moralische Elle!) daran denken, ‚mal zu verunglücken, …, hilfeabhängig zu werden, oder (während einer Erkrankung) …, bis Weihnachten (oder: bis zur Konfirmation der Tochter usw.) nicht wieder fit zu sein. Gemeinsam trainiert werden müßte eine Freiheit, die man so andeuten kann: Ich bin kerngesund   ja und? Ich bin taubstumm   ja und? Paulus beschrieb diese Freiheit so: Ich kann Überfluß haben und kann Mangel leiden; ich kann das alles durch Christus, der mich das können läßt (Phil 4,12f).
     
  5. Als Namen für die anstehende Befreiungstheologie schlage ich vor: „Theologie nach Hadamar“ (nach der Euthanasie; vgl. Bach 1997 [a]). Denn in der Nazi Euthanasie kam das zu voller Blüte, was schon lange vorher gekeimt und geknospt hatte: Forderungen vor 1933 (auch in der Diakonie) nach gesetzlicher Ermöglichung der Sterilisierung schwer behinderter Menschen, Forderungen seit ca 1920 nach Freigabe der Tötung Schwerstbehinderter; wissenschaftliche Veröffentlichungen schon um 1900 zur Rassenhygiene (1885) und zur Ausjätung defekter Untermenschen; und eben im Mittelalter die besprochene gottlose Ham Theorie mit der theologischen Irrlehre, behinderte Menschen hätten etwas zu tun mit einem göttlichen Fluch und mit dem Bösen. Dabei hat unsere Theologie gegen all das nicht geschlossen und kontinuierlich protestiert, sondern hat hier (vom Mittelalter bis in die dreißiger Jahre) mitgemacht, wenn sie nicht sogar vorweg marschierte. Um aus dieser „babylonischen Gefangenschaft“ herauszufinden und Befreiung zu erleben und zu ermöglichen, brauchen wir dringend eine theologische Umkehr, die bereit ist, sich von manchen ’selbstverständlichen‘ und auch liebgewordenen Traditionen zu verabschieden, so wie es unsere Theologie nach 1945, wenn auch sehr spät (seit den sechziger Jahren), in einer vergleichbaren Thematik mühsam lernte: ich denke an den (ebenfalls bis mindestens ins Mittelalter zurückgehenden) kirchlichen Antisemitismus und die „Theologie nach Auschwitz“.
     
  6. Zu einer „Theologie nach Hadamar“ kann keiner von uns schon ein handhabbares Programm vorlegen, aber wenige Merkposten seien genannt:
    • Behinderte Menschen dürfen in Kirche und Theologie nie auf die Rolle der Objekte fixiert werden, sie müssen auch in der Theologie als Subjekte wahrgenommen und anerkannt werden.
       
    • Darum kann eine Theologie (oder deren Teile) nie schon fertig sein, ohne daß die Situation (möglicherweise auch Äußerungen) Behinderter berücksichtigt wurden. So erklärt, konsequent, Heinrich Ott schwerbehinderte Menschen „zu Kriterien“ für die Richtigkeit eines theologischen Satzes (Ott 1980, S. 307).
       
    • Wir sollen lernbereit mit behinderten Menschen die Bibel lesen und ihre Botschaft bedenken. Nur ein Beispiel: In einem Gesprächskreis überlegten wir, was mit Gottes Segnen gemeint sein könnte. Eine mehrfach behinderte Teilnehmerin versuchte es so: „alles, was wir tun, soll freundlich angeguckt sein“. Diese Antwort scheint mir für uns alle wichtig zu sein (personale Beziehung), die wir oft naiv meinen, Segen hätte mit Gütern und Gesundheit zu tun (Haben und Können des einzelnen).
       
    • Die genannte H.Ott These fordert, daß wir auf behinderte Menschen nicht nur hören, wenn wir über „Behinderung“ und „Gesundheit“ nachdenken, sondern grundsätzlich. Dazu noch einmal unser Andachtskreis: Die älteste Teilnehmerin sagte gelegentlich: „Die Jünger waren im Glauben auch nicht immer stark. … Es kommen immer wieder Wankel Stunden“; und zur Gefangennahme Jesu war ihr staunender Kommentar: „Er nimmt Gott wichtiger als sich selbst“.
       
    • Nötig ist die vielschichtige Erkenntnis, daß Selbstbild und Diffamierung zwei Seiten der gleichen Sache sind: Wenn ich zu positiv von mir rede, als sei es doch selbstverständlich, daß ich ohne Behinderung bin und lebenslänglich bleibe, dann distanziere ich mich verachtend oder mitleidig von behinderten Menschen (Apartheid). Oder anders: Meine Einstellung zu behinderten Menschen ist nur die Kehrseite meiner Einstellung zu mir selber: Wer eigene Schwächen nicht annimmt, kann auch Schwächere allenfalls widerwillig hinnehmen.
       
    • Auch wenn mit dem Namen „Theologie nach Hadamar“ gegeben ist, daß sie oft behinderte Menschen erwähnt (bespricht, anspricht), bezieht sie sich dennoch umfassend auf Schaltfehler, durch die Kirche und Gesellschaft insgesamt irregeleitet sind. Darum verkäme sie zum Beispiel zu einer Ideologie, wenn sie bei der Alternative ‚integrierte oder Sonderschule‘ einseitig für einen der beiden Standpunkte beansprucht würde.
       
    • Kriterium für die Berechtigung eines Satzes der „Theologie nach Hadamar“ darf nicht seine Übereinstimmung mit den bisher üblichen theologischen Lehrmeinungen sein. Das war typisch für Südafrika: Wenn ein Schwarzer ein nur für Weiße zugelassenes Lokal betrat, mußte er sich vor den Machtvollen rechtfertigen, warum er hier ‚eindringt‘; ihm wird die Beweislast zugeschoben. Sichtbar wird: Wer Sätze einer „Theologie nach Hadamar“ an Sätzen der üblichen Theologie mißt, arbeitet also mit einer Methode, die in sich bereits das Gegenteil einer „Theologie nach Hadamar“ darstellt; er argumentiert in der Apartheids Logik, die dem „Nigger“ naiv die Beweislast aufbürdet.
       
    • Was mit einer „Theologie nach Hadamar“ unter uns ständig gemeinsam zu trainieren ermöglicht werden könnte, will ich so umreißen: „Du bist unendlich wertvoll, weil Gott in Christus unwiderruflich ‚ja‘ zu dir sagt“: Dieser Satz ist aufhelfende Medizin für denjenigen, der dachte, durch Blindheit oder Anfall Leiden habe er eigentlich keinen „Wert“; ebenso ist derselbe Satz Krampf lösende Medizin für den, der meinte, er müsse durch Gesund Bleiben und Höchstleistungen ständig den „Wert“ seines Lebens erst selber besorgen. Dieser Satz ist also für beide ein therapeutisches Kontra.

Literatur:

  • Ulrich Bach, „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal.5,1)   Thesen zu einer abendländischen Befreiungs Theologie, JK 49, 1988, S.478ff
  • ders., Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991
  • ders., Theologie nach Hadamar als Theologie der Befreiung, Nach Denken über: Leonore Siegele Wenschkewitz, Theologie nach Auschwitz als Theologie der Befreiung; in: Michael Welker (Hg.), Brennpunkt Diakonie, Rudolf Weth zum 60. Geburtstag, Neukirchen 1997 [a], S.165 183
  • ders., Wie predige ich Heilungsgeschichten? Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte, in: DtPfrBl, 97, 1997 [b], Heft 6, S.294 296
  • Siegfried Groth; Zum Verständnis der südafrikanischen Rassenpolitik   Christliche und historische Einflüsse, in: H.de Kleine (Hg.), 150 Jahre Mission   Anfänge, Entwicklungen, Ergebnisse, Ziele, (VEM) Wuppertal 1979, S. 131  156
  • Josef N. Neumann, Die Mißgestalt des Menschen   ihre Deutung im Weltbild von Antike und Frühmittelalter, in: Sudhoffs Archiv, Band 76, Heft 2 (1992) (Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart), S. 214 231
  • ders., „Böse und behindert“: Zur Geschichte eines Vorurteils, Ein Medizinhistoriker im Gespräch über Wechselbälger und Fabelwesen, über Augustin und die Frage, warum der Teufel häßlich ist, in: JK, 55, 1994, S. 215 217
  • Heinrich Ott, Menschsein und Menschenwürde des geistig Behinderten, in: Th P 1980 (4), S.307ff

Quelle: 

Ulrich Bach, Theologie nach Hadamar als Aufgabe der heutigen Theologie, in: Annebelle Pithan, Gottfried Adam und Roland Kollmann (Hg.), Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Gütersloh 2002, S. 112-118

Wie predige ich Heilungsgeschichten?

Ulrich Bach
Wie predige ich Heilungsgeschichten?
Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte

Vorbemerkung:

Seitdem ich nach dem dritten Theologie-Semester an meinen Rollstuhl kam, habe ich Theologie und Predigt oft als ermutigende und einladende Hilfe erfahren, oft aber auch als entmutigend und diskriminierend. Immer deutlicher wurde mir, daß dieses Zweite, also die störende, uns behinderte Menschen von der Gesamtgemeinde abspaltende, uns in die Objektrolle drängende Funktion von Theologie, stark herkommt von einer bestimmten Auslegungstradition der neutestamentlichen Heilungsgeschichten. Darum habe ich mich näher mit diesen Texten befaßt und dabei erkannt, daß die Evangelisten sehr anders über Behinderung und Heilung reden, als es in unserer theologischen Literatur üblicherweise dargestellt wird. Nun ist von niemandem, der eine Predigt anzufertigen hat, zu erwarten, daß er dazu mehrere längere Aufsätze studiert. Darum möchte ich ein paar von ihnen am Ende der vorliegenden Arbeit zwar nennen, im folgenden aber den Versuch machen, die wesentlichen Punkte zusammenzustellen und zwar so knapp, daß sie auch da praktisch von Nutzen sein können, wo nur relativ wenig Zeit zur Verfügung steht. – Bei der Fülle des Stoffes konnte ich die beiden Ziele „knapp“ und „praktisch“ miteinander nur verbinden, indem ich mich in der Text-Gestaltung der Form einer Gebrauchsanweisung näherte; das wird beim Lesen hoffentlich nicht allzusehr stören.
 

Entwurf eines Korrekturprogramms:

Wenn Sie eine Predigt, eine Auslegung oder Andacht geschrieben haben, nehmen Sie dieses Blatt zur Hand und gehen mit ihm Ihren Text noch einmal durch. Falls Ihnen eine Aufforderung zum Korrigieren Ihres Textes nicht auf Anhieb einleuchtet, lesen Sie bitte im nachfolgenden Text die Abschnitte mit den im Anschluß an die Fragen angegebenen Ziffern.

  • Habe ich als meine Aufgabe erkannt, (wie die Evangelisten) über Jesu Heilungen zu predigen angesichts der Tatsache, daß es in unseren Gemeinden (wie schon in denen der Evangelisten) Menschen gibt, die durch Jesus körperlich nicht geheilt werden? Oder bin ich dieser Aufgabe ausgewichen, indem ich die Krankheit als Bild für etwas „eigentlich“ Gemeintes auffaßte (uns allen fehlt oft „der Durchblick“; jeder fühlt sich zuweilen „wie gelähmt“)?
    (Gegebenenfalls ändern!) (4 / 9)
     
  • Habe ich Krankheiten und Behinderungen einen Teil „des Bösen“ genannt? Habe ich sie auf gottfeindliche Mächte (auf Dämonen) zurückgeführt?
    (Wenn ja – löschen!) (2 / 3 / 6 / 7)
     
  • Habe ich im Zusammenhang mit konkreten Krankheiten und Behinderungen Jesus als Arzt bezeichnet?
    (Wenn ja – löschen!) (8, 2.Hälfte)
     
  • Habe ich – etwa mit dem Slogan „Heil und Heilung“ – die Gesundheit des Menschen einen Teil des ihm zugedachten Heils genannt?
    (Wenn ja – löschen!) (vgl. 4)
     
  • Haben Kranke und Behinderte, sowie Menschen, die sich vor Krankheit und Behinderung fürchten, von mir die befreiende Froh-Botschaft des ersten Gebotes zu hören bekommen?
    (Wenn nein – nachtragen!) (1 / 5 / 10)
     
  • Haben Kranke und Behinderte den Satz: „Gott will, daß dieses Leben dein Leben ist,“ als repressives Gesetz hören müssen (der Allmächtige hat das so angeordnet; du hast kein Recht zur Klage; sei dankbar dafür, daß es dir nicht noch schlechter geht), oder haben sie ihn als subversives Evangelium hören können (wage in deiner belastenden Situation den aufrechten Gang; denn Gott kann und will mit dir etwas anfangen, wie mit jedem Gesunden auch; wer dir sagt, du seiest weniger, der hat gelogen)?
    (Gegebenenfalls ändern!) (1 / 4)
     
  • Verpflichtet meine Predigt Nichtbehinderte und Gesunde zu dem, was wir tun sollen und tun können (Kranke zu Jesus bringen; Behinderte tragen, Mk 2,3; Unterprivilegierte gerade dann einladen, wenn sie sich nicht revanchieren können, Luk 14,12-14), oder ergeht meine Predigt sich in hochtrabenden Zielen, die wir weder erreichen können noch sollen (unheilbar Kranke und Behinderte heilen)? Rief ich auf zu versuchter Nähe und Solidarität, ohne solches Bemühen in „Heilen“ umzulügen?
    (Gegebenenfalls ändern!) (5 / 9)
     
  • Habe ich Menschen davor gewarnt, die Gesundheit als unabdingbaren Bestandteil der Gnade Gottes zu verstehen; habe ich ihnen erklärt, daß dann bei (Teil-)Verlust der Gesundheit die Sorge entstehen muß, Gott habe ihnen jetzt seine Gnade entzogen?
    (Wenn nein – unter Umständen nachtragen!) (4 / 5)
     
  • Habe ich (vielleicht nur zwischen den Zeilen) „Nichtbehinderte“ und „Kerngemeinde“ miteinander identifiziert, ebenso „Behinderte“ und „Randgruppe“?
    (Wenn ja – löschen!) (5 / 7)

Erläuternder Text:

(1) Dem Evangelisten Markus verdankt die Christenheit einen großartigen theologischen Befreiungsschlag gegen die in der Antike üblichen Vorstellungen, Krankheiten und Behinderungen seien auf dämonische Kräfte zurückzuführen. – Matthäus und Lukas blieben – mit geringfügigen Abweichungen – auf dieser Linie.

(2) Markus unterscheidet sorgfältig zwischen „Besessenheit“ und „Krankheit“, entsprechend zwischen Dämonenaustreibung und Heilung. (7) – Die Ausnahmen (Mk 5,1ff und 9,14ff) können die hier vorgetragenen Thesen nicht widerlegen, was jedoch im Rahmen dieses Textes nicht nachgewiesen werden kann (vgl. aber: „Nachbemerkung“).

(3) Was Markus konkret unter „Besessenheit“ (unter „bösen Geistern“ usw.) verstand, läßt sich kaum sagen. Klar ist a: Wir dürfen hier nicht an psychisch Erkrankte denken; denn diese sind krank, und Kranke will Markus ja gerade von Besessenen unterscheiden (2). Klar ist b: Durch Besessenheit (durch unsaubere Geister) wird das Werk Jesu gestört (ob auch die betroffenen Menschen gestört wurden, bleibt vielfach offen). Klar ist c: Es gehörte zu Jesu Auftrag, alles Böse zu bekämpfen, dazu, daß er Dämonen austrieb, nicht aber auch, daß er Kranke heilte (10).

(4) Tatsächlich heilte Jesus Kranke; das war nötig, weil er nur so als Messias gepredigt werden konnte (vgl. Mt 11,2ff u.a.). Das Reich Gottes ist aber nicht da zu uns gekommen, wo Jesus heilt, sondern da, wo er Dämonen austreibt (Luk 11,20 par; dazu: 8, 1.Hälfte). Niemals ist körperliches Intaktsein Voraussetzung für die Teilhabe an Gottes Sache; eher im Gegenteil: Jesus sagt nirgends: wenn du nur eine Hand hast, dann hast du eine zu wenig für das Reich Gottes; er sagt allerdings: Wenn du zwei Hände hast, dann hast du möglicherweise eine zu viel für das Reich Gottes; hacke sie ab, wenn sie deine Nachfolge stört (Mk 9,43 par). So dürfte niemand reden, der von Gott den Auftrag hat, Behinderungen zu bekämpfen. Gottes Heil kann also in seiner irdischen Gestalt durchaus ohne des Menschen Gesundheit Gottes ganzes Heil sein, ohne jeden Punkte-Abzug. Daß sich für Behinderte in Gottes kommendem Reich einiges ändert, ist uns verheißen, aber das ist den Nichtbehinderten genauso verheißen: Gott wird „alles“ neu machen.

(5) Weil also Krankheit (im Gegensatz zur Besessenheit) keine Reich-Gottes-Störung bedeutet (3), gehören nichtbehinderte und behinderte Menschen in gleicher Weise zentral zur Gemeinde; beide sind gleichberechtigte Subjekte der Gemeinde Jesu, ohne daß die Behinderten zunächst noch in irgendeinem Sinne „geheilt“ werden müßten. – Eine Reich-Gottes-Störung bedeutet es aber, wenn wir das Gesund-Sein „über alle Dinge lieben“: wenn also wir einen sagen, unser Leben sei nicht lebenswert, weil wir behindert sind; und wenn die anderen sagen, ihr Leben sei nur solange lebenswert, wie sie ohne Blindenstock und Rollstuhl auskommen. Also auch die Aufgabe macht uns in der Gemeinde zu Gleichen: Wir stehen miteinander vor der Aufgabe, das erste Gebot zu trainieren, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben, ihm zu vertrauen. Damit sind wir alle in den gleichen Kampf gegen das „Hauptsache gesund!“ gestellt (10).

6) Von dem in „1“ behaupteten und in „2“ bis „5“ skizzierten Befreiungsschlag des Markus ist in der heutigen theologischen Literatur oft darum nichts mehr zu spüren, weil er bereits seit Augustin fahrlässig vertan wird. Bei Augustin gibt es die Behauptung, behinderte Menschen stammen von dem (von seinem Vater Noah verfluchten) Bösewicht Ham ab; das heißt: sie stehen den Nichtbehinderten gegenüber wie der verfluchte Ham seinen gesegneten Brüdern gegenüberstand; die einheitliche Gemeinde der Gleichberechtigten (5) wird damit abgelöst von einer gespaltenen Gemeinde (7 / 8)

7) Diese Ham-Theorie hat das gesamte Mittelalter in Wissenschaft, Theologie, Literatur und bildender Kunst stark geprägt: behinderte Menschen werden als böse Menschen verstanden oder als Menschen, die sich weitgehend in der Gewalt böser Mächte befinden; sie werden also, kraß gegen Markus (2 / 3), den Besessenen wieder gleichgeordnet: sie sind, solange Christus sie nicht von dem (angeblich) „Bösen“ frei macht, stärker von ihm getrennt als Menschen ohne Behinderung; so wie sie sind, können sie in der Gemeinde nicht gleichberechtigt sein (6).

8) Die (unbewußte) Übernahme dieser auf Augustin zurückgehenden unbiblischen Sichtweise wird in heutiger theologischer Literatur zum Beispiel da erkennbar, wo behauptet wird, Jesus habe bei den Heilungen die gottfeindlichen Mächte bekämpft (Kampfmotive finden sich bei den Evangelisten eindeutig im Zusammenhang der Dämonen-Austreibungen, nicht aber bei Heilungen, 2 / 3), oder wo entsprechend eine Heilung als Weltenwende, als Beginn der neuen Welt Gottes bezeichnet wird (so wird im Neuen Testament zwar von Dämonen-Austreibungen geredet, nicht aber von Heilungen, 4), oder wo Jesus im nicht-übertragenen Sinn der „Arzt“ genannt wird: Diese Jesus-Bezeichnung gibt es im Neuen Testament nur in einem Bildwort (Mk 2,17 par). Nach unserem Gefühl bietet sich bei Heilungsgeschichten das Wort „Arzt“ geradezu an; deshalb taucht es häufig in Predigten (und verwandten Texten) im Zusammenhang mit leiblichen Erkrankungen auf. Dieses Wort (mit dem gesagt wäre: Jesus hat nicht nur faktisch geheilt, sondern: das war typisch für ihn, zum Heilen ist er gekommen, Heilen war sein Job) wird im Zusammenhang mit Krankenheilungen von den Evangelisten sauber gemieden. – Laut Bibeltext ist Jesus also nicht darin unser „Arzt“, daß er Blinde sehend und Gelähmte gehfähig macht, sondern darin, daß er Sünder (uns alle) in seine Gemeinschaft ruft. Darum ist es ein Skandal, wenn heutige Theologen oft (ausgerechnet unter dem Stichwort „Arzt“, das uns zu Gleichbedürftigen und Gleichberufenen zusammenschließt) die Gemeinde Jesu in zwei Gruppen spalten: hier die (Normal-) Sünder und dort die anderen, die auf Jesu Einsatz zusätzlich noch in anderer Weise angewiesen sind: die Kranken und Behinderten (vgl. 6). Diese Gruppen werden damit theologisch diskriminiert: Daß Jesus uns nicht geheilt hat (voraussichtlich in diesem Leben nicht mehr gesund machen wird), müßte entweder heißen: Jesus will nicht unser Arzt sein (uns gilt seine Gnade nicht oder nur eingeschränkt), oder: Er kann uns (trotz Taufe, Gebet, Abendmahl) nicht Arzt sein, weil wir besonders hartgesottene Sünder sind. (Wir können uns nur dessen getrösten, daß das Endgericht anderen Instanzen als der Theologie vorbehalten ist.)

9) Oft weicht man solchen schlimmen Aussagen aus, indem man die in den Texten genannten Krankheiten in irgendeinem übertragenen Sinne versteht: wir alle sind „aussätzig“, weil wir so erzogen sind, daß uns irgend etwas an uns eklig ist (daß Jesus uns heilt, meint nun: er hilft uns dazu, uns nicht mehr zu schämen); die gekrümmte Frau wird verstanden als eine Frau, die in der Männerwelt den aufrechten Gang verlernte. Auf diese Weise werden wir den Bibeltexten nicht gerecht; zudem werden die tatsächlich in unseren Gemeinden lebenden behinderten Menschen wieder einmal übersehen (das geschieht keineswegs nur in der oft getadelten „Gesellschaft“): nicht von ihnen ist angeblich in der Bibel die Rede; darum brauchen sie auch in der Predigt keine ausführliche Erwähnung zu finden. Die Heilungsgeschichten werden so in ihr Gegenteil pervertiert: Diese Texte berichten davon, daß man behinderte Menschen zu Jesus brachte; die symbolische Auslegung aber erschwert es, daß behinderte Menschen in ihrer konkreten Situation Jesu Zuspruch hören können(5).

10) Unser oben genanntes Verhaftet-Sein in mittelalterliche Ideologie führt dazu, daß wir der gottlosen „Hauptsache-gesund!“-Mentalität (5) allenfalls halbherzigen Widerstand entgegensetzen können. Auch die Gründe für die Tatsache, daß man weder der Theologie noch unserer Kirche verbissene Energie abspürt, was Stellungnahmen zur neuen Euthanasie-Debatte (insgesamt zur sogenannten Bioethik) angeht, dürften ins Mittelalter und bis zu Augustin zurückgehen. Unsere Umkehr muß darin bestehen, daß wir bei Markus neu wieder lernen, daß die Heilungsgeschichten die Kreuzestheologie nicht widerlegen, sie auch nicht abschwächen, vielmehr ein Teil derselben sind. Nicht Krankheiten und Behinderungen sind vom Teufel; aber der Satz, Krankheiten und Behinderungen seien vom Teufel, dieser Satz stammt gewiß aus einer Fibel, an der die Dämonen gründlich mitgewirkt haben. Mag sein, bei solcher Buße wird erkennbar, worin „Besessenheit“ (unsere Ankettung) bestehen könnte.

Nachbemerkung:

Wer sich genauer über die hier angesprochenen Dinge informieren möchte, sei hingewiesen auf folgende Arbeiten: Boden unter den Füßen hat keiner. Plädoyer für eine solidarische Diakonie, Göttingen 1980, darin: S. 157-170 /  Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991, darin: S. 40-118 / „Gesunde“ und „Behinderte“, Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, (Kaiser) Gütersloh 1994 (KT 134), darin: S. 100-121 / Wie lange noch wollen wir fliehen? Einspruch gegen die unheilvolle These vom „Heilungs-Auftrag“, in: Diakonie (DW der EKD Stuttgart), 1993, S. 390-397 / Gottes Heil und unser europäisches Apartheids-Denken, in: Reiner Degenhardt (Hg.), Geheilt durch Vertrauen, Bibelarbeiten zu Markus 9,14-29, (Kaiser) München 1992, S. 141-157 (zu: Krankenheilung oder Dämonenaustreibung?) / „Diakonie zwischen Fußwaschung und Sozialmanagement“, in: Hans Bachmann und Reinhard van Spankeren, Hg., Diakonie: Geschichte von unten, Christliche Nächstenliebe und kirchliche Sozialarbeit in Westfalen, (Luther-Verlag) Bielefeld 1995, S. 15-55 (hier zur Verbindung von Ham-Theorie und Auslegung der Heilungsgeschichten: S. 30f.37-43).

Quelle: Ulrich Bach, Wie predige ich Heilungsgeschichten? Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte, in: DtPfrBl, 97. Jg., 1997, Heft 6, Juni 1997, S. 294-296

Unser Reden und Denken von Gott – und die Konsequenzen für unser Diakonisches Handeln

Ulrich Bach
Unser Reden und Denken von Gott – und die Konsequenzen für unser Diakonisches Handeln

Konvent der Diakoniegemeinschaft des Theodor Fliedner Werkes, Marienheide, 25. Oktober 1997

Liebe Schwestern und Brüder, zunächst drei Vorbemerkungen:

  • Bert Brecht hat einmal gesagt, es gäbe Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen sei, darum nämlich, weil es ein Schweigen bedeutet zu vielerlei Unrecht in unserer Welt. Verführt uns unser heutiges Thema zu einem Verbrechen in diesem Sinne? Reden wir, weitab von allem irdischen Getümmel, über Gott, über unser Reden von Gott und über die Konsequenzen solchen Redens so, daß wir gewiß einen interessanten Tag miteinander verbringen, aber die Geschundenen, die Übersehenen, die durch unsere egoistische Ellenbogen-Gesinnung unsichtbar Gemachten, werden heute auch von uns übersehen? – Sie können sich denken, weshalb ich mit dieser kritischen Frage beginne. Ich möchte dazu einladen, so über unser Reden von Gott nachzudenken, daß die „kleinen Leute“ ständig mit dabei sind. Nein, so ist es noch immer nicht richtig: Wenn ich dazu einlade, heißt das: Wir könnten es auch anders machen. Ich behaupte jedoch: Wenn wir es anders machen, ist das der Beweis dafür, daß wir falsch von Gott reden.
     
  • Mit dieser kühnen Behauptung bin ich schon bei meiner zweiten Vorbemerkung: Was verstehen wir unter Konsequenz? Zwei Beispiele: Wenn es an der Haustür schellt, hat das zur Konsequenz, daß einer aus der Familie die Tür öffnet. Oder: Wenn die dünne Porzellan-Tasse aus zwei Metern Höhe auf den Steinfußboden fällt, hat das zur Konsequenz, daß sie zu Bruch geht. Sie sehen sofort den Unterschied: Beim Klingeln muß ja niemand zur Tür gehen; wir könnten so tun, als hätten wir nichts gehört. Eine entsprechende Möglichkeit hat die Tasse aber nicht. Hier sind Fallen und Zerbrechen untrennbar miteinander verbunden. Beides wird sozusagen eine Sache, so daß man kaum noch von Konsequenz sprechen möchte. Ebenso verhält es sich bei unserem Reden von Gott. „Sage mir, wie du von Gott redest, und ich sage dir, wie deine Diakonie aussieht, etwa: was behinderte Menschen von dir zu erwarten haben, bzw. ob du etwas von behinderten Menschen [für dich] erwartest“ (Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, S. 196). Wenn in einem theologischen Gedankengebäude die „kleinen Leute“ beheimatet sein dürfen, als normal („gut“ und okay) vorkommen dürfen, setzt das ein bestimmtes Reden von Gott voraus. Bei einer total anderen Art, von Gott zu reden, kämen die „kleinen Leute“ nicht vor, allenfalls als unliebsame Gäste, die aber die Einheit dieses Denkgebäudes eigentlich stören. Ich hoffe, daß diese Grundthese meines Referats Ihnen in einer Stunde einleuchtet.
     
  • Bei der Vorbereitung auf dieses Referat stieß ich auf eine Thesenreihe, die ich 1984 verfaßt habe (also fünf Jahre vor Ausbruch der Peter-Singer-Debatte). Ich war selber überrascht, wie aktuell diese Thesen offenbar auch heute sind in der Zeit der Diskussionen um die sogenannte Bioethik. So möchte ich Ihr Einverständnis dafür voraussetzen, daß ich mich an diese Thesenreihe halte. Den acht Thesen entsprechend gliedere ich meinen Vortrag in acht Abschnitte und sage das jeweils deutlich, damit Sie, falls Sie etwas mitschreiben wollen, nachher wissen, zu welcher These die Notiz gehört. Die Ausführlichkeit der einzelnen Abschnitte ist übrigens recht unterschiedlich. Die ersten Thesen kommentiere ich ziemlich breit; damit sind dann hoffentlich so viele Dinge abgeklärt, daß es danach rascher geht. Ein paar Thesen kann ich sozusagen überspringen. – Mein Vorschlag wäre, daß wir nachher, zur Aussprache, die Thesen-Blätter verteilen. – Nun aber zum ersten Abschnitt:

1.
Lassen Sie mich sehr kritisch einsetzen: Es gibt weit verbreitet eine verhunzende Theologie. Damit meine ich eine Theologie, in der Hauptinhalte verballhornt, halbiert, amputiert werden; da gibt man einen durchaus richtigen Aspekt für die ganze Sache aus. Ich möchte das konkretisieren an den vier Größen (die uns auch im zweiten Abschnitt beschäftigen werden): Gott, Mensch, Kirche, Diakonie.

  • Von Gott wird so geredet, als sei er darin Gott, daß er irdisch-sichtbar allmächtig ist und an die Seinen Macht und Stärke verschenkt. Natürlich bestreite ich nicht, daß Gott Stärke, Macht, Gesundheit und vieles, was wir wünschen, schenken kann; der Fehler liegt darin, daß man so tut, als müsse er das ständig tun, als sei das sein Job. Indem er unsere Wünsche erfüllt, ist er Gott. Anders wollen wir Gott nicht denken. Andere Möglichkeiten, die es für Gott geben könnte, werden abgespaltet, amputiert, einfach nicht zugelassen. Denken Sie nur an unsere modernen Schwierigkeiten mit Golgatha und folglich auch mit der Lehre vom stellvertretenden Leiden des Gottessohnes. Mag ja sein, daß wir an dieser Stelle manche älteren Äußerungen von der Bibel her korrigieren müssen. Aber die Fixigkeit, mit der heute beteuert wird, ein Gott, der seinen Sohn in den Foltertod schickt, sei ein sadistischer Gott; ein Sohn, der sich das gefallen läßt, sei ein masochistischer Sohn, ist so unglaublich oberflächlich, daß man solche Sätze nicht mehr theologische Sätze nennen kann. Denn ihre Grundlage ist ein menschlicher Benimm-Katalog, von dem her wir Gott zensieren: So was tut man nicht, auch als Gott nicht.
     
  • Unser zweites Stichwort hieß „Mensch“; und Sie erinnern sich bitte an das, was ich eben über die „Konsequenz“ sagte. Wenn ich Gottes widersprüchliche Ganzheit, wie beschrieben, amputiere, eingrenze auf das, was mir paßt, dann muß ich entsprechend vom Menschen reden. Die Werte sind (durch unser Reden von Gott) vorgegeben: Stärke gilt als göttlich, womit logischerweise die Schwäche in unserer Theologie negativ qualifiziert ist. Das geht gar nicht anders. Wer die Stärke für Gottes Wesen hält, wer Gottes Stark-Machen als seinen Job ansieht, der kann in einem schwerstmehrfachbehinderten Menschen nicht seinen ihm völlig ebenbürtigen Partner sehen (wenigstens, solange seine Theologie einigermaßen folgerichtig bleibt). Eine Theologie, die von Gott als dem Starken und dauernd Stärke verleihenden Gott redet, diskriminiert zwangsläufig behinderte Menschen. Wie solche Diskriminierung aussieht, lernte ich im Volmarsteiner Berufsbildungswerk kennen.  Dort kommt es vor, daß man mit einem schwer behinderten jungen Menschen zwar eine Ausbildung wagt und beginnt, daß sich nach einiger Zeit aber herausstellt, dieses Wagnis war doch zu groß: Erwin wird auf dem heutigen Arbeitsmarkt niemals vermittelbar sein; also muß Erwin das Berufsbildungswerk verlassen. (Das ist noch keine Diskriminierung, sondern eine pädagogisch-sozialpolitisch offenbar notwendige Entscheidung; aber nun weiter:) Wenn ich dann im Religionsunterricht fragte: Wo ist Erwin heute?, bekam ich die Antwort: Den haben sie totgeschrieben. Klar: wenn Stärke „in“ ist, ist Schwäche „out“; wem der Stolz darauf, auch mit schwerer Behinderung die Ausbildung vermutlich zu schaffen, zur Lebensbasis gehört, für den ist Erwin gestorben: das ist angeblich kein Leben mehr. Schwach zu sein, ist in diesem Menschenbild unanständig. Schwache, alte, verwirrte Menschen sind hier die Ausnahmen, sie sind regelwidrig, unnormal. Wer will für diese Klientel schon Lobby sein? Verstehen Sie, das hat alles eine saubere Logik: Die heutigen Sparmaßnahmen im sozialen Bereich sind keine überraschende Ungezogenheit von Leuten, deren Weltanschauung bzw. Religion durchaus in Ordnung wäre. Nein, wer, wie beschrieben, vom Menschen und von Gott redet, der kann, ohne rot zu werden, Kürzungen im Sozialbereich vornehmen – das ist schlicht konsequent.
     
  • Dem allen entspricht natürlich auch unser Reden von der Kirche: Der allmächtige Gott, der stabile Menschen will, bedient sich, um dieses Ziel zu erreichen, seiner Kirche, die er hierzu mit Missions- und Heilungs-Auftrag ausstattete (manche sprechen gern vom Missions- und Diakonie-Befehl und berufen sich dazu auf den Missionsbefehl von Mt 28). Wir, die Christen, sollen die verlorenen Seelen retten und die kranken Körper heilen. Und wieder wird uns viel zu selten klar, daß dieses unbiblische Bild von der Kirche die Gemeinde Jesu spaltet, Schwächere an den Rand drückt. Augenfällig wurde das etwa bei der EKD-Umfrage von 1984 „Was wird aus der Kirche?“ Eine der Fragen lautete, für was die Gefragten am liebsten spenden würden. Die Zahlen für Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime lagen wesentlich höher als die für Kirchengebäudeerhaltung oder Orgel. Im offiziellen EKD-Kommentar heißt es dazu: „Die Meinung ist eindeutig: Die Kirchenmitglieder würden Geld eher für soziale und diakonische als für binnenkirchliche Zwecke geben“. Ist das nicht unglaublich? Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime gehören also nicht zu den „binnenkirchlichen“ Aufgaben. Das ist die Spaltung: Wer auf Hilfe angewiesen ist, gehört nicht in den Binnenraum der Kirche, sondern an den Rand.

    Diese Spaltung möchte ich aufzeigen auch an dem sogenannten Heilungsauftrag der Kirche. Nun habe ich so häufig und so ausführlich nachzuweisen versucht, daß sich der in der Theologie landauf, landab behauptete Heilungsauftrag der Kirche von einer sauberen Textexegese nicht halten läßt, daß ich es langweilig fände, das heute zu wiederholen. Heute möchte ich einmal hypothetisch voraussetzen: Okay, den Heilungsauftrag gibt es; aber wie jetzt weiter? „Heilungsauftrag“ kann ja nur heißen: Die Kirche hat den Auftrag, Blinde sehen, Gelähmte gehen, Gehörlose hören und Krebskranke ohne Befund sein zu lassen. Kommt so etwas vor, gehäuft vor? Mir hat noch niemand gesagt: Stehe auf und wandle. Und mir hat noch kein Behinderter erzählt, ihm sei so etwas gesagt worden. Die Kirche scheint den Heilungsauftrag, den sie behauptet zu haben, gar nicht auszuführen, wenigstens nicht umfassend. Ich stelle mir vor, die Kirche nimmt sich beim Wort und lädt zu Heilungsgottesdiensten ein. Allen Behinderten und Kranken wird zugesprochen, von dem, was sie einengt, ab sofort frei zu sein; denn Gott wolle nicht, daß sie so geschwächt und eingeschränkt leben. Logischerweise gibt es jetzt nur zwei Möglichkeiten: es klappt, oder es klappt nicht. Gegen die erste Möglichkeit hätte wohl kaum ein Behinderter etwas einzuwenden – höchstens dieses, daß die Kirche in dieser Hinsicht nicht schon längst aktiv wurde. Hier könnte eine Kirche ohne Spaltung sichtbar werden: Wir sind alle stark (die einen waren es schon vorher, die anderen sind es in diesem Gottesdienst geworden), keinem „fehlt“ noch etwas. Und bei der zweiten Möglichkeit (wenn es nicht klappt)? So sehr es Sie überraschen mag: auch hier könnte eine Kirche ohne Spaltung sichtbar werden: Wir sind alle schwach: Die einen sagen, wir möchten gern gehen, aber es geht nicht; andere sagen, ich würde gern sehen, aber ich kanns nicht; und die, die zu diesem Gottesdienst eingeladen hatten, müßten sagen: und wir wollen gern heilen, aber wir kriegen das nicht hin. Auch hier gäbe es keine Spaltung, nun aber nicht auf der Ebene der Stärke, sondern auf der der Schwäche. In den Blick käme die Kirche als die bunte Gemeinschaft der unterschiedlich begabten Hilfsschüler Jesu; wir können alle nicht so, wie wir wollen. Wir wissen: solche flächendeckenden Heilungsgottesdienste gibt es nicht. Und darum sehe ich für die Kirche nur zwei faire Möglichkeiten: Entweder gibt sie zu: Wir haben keinen Heilungsauftrag (das entspräche, wie gesagt, nach meiner festen Überzeugung den Bibeltexten) – hier wäre Raum für eine geschwisterliche Kirche der Behinderten und Nichtbehinderten; keiner ist besser oder schlechter, keiner ist normal und andere unnormal, alle sind gleichberechtigt und gleichbedürftig vor Gott und voreinander. Trotz aller Unterschiede im Körperlichen, im Geistigen, im Seelischen gibt es keinerlei Unterschied in der „Richtigkeit“ der Gottesbeziehung: auch ohne des Menschen Heilung kann ihm das Heil ganz gehören. Oder die Kirche sagt: Wir haben zwar einen Heilungsauftrag, aber dem sind wir in keiner Weise gewachsen; auch hier gäbe es keine Spaltung, denn wir sind (wie eben ausgeführt) die Gemeinschaft der Nicht-Könner.

    Die Kirche aber sträubt sich, einen dieser beiden Wege zu gehen, sie entscheidet sich für einen dritten: Wir haben einen Heilungsauftrag, und den führen wir auch ständig aus, womit jetzt gemeint ist: wir fördern behinderte Menschen je nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen. Dabei ist nicht nur an Behinderte gedacht. Horst Seibert führt in seinem Buch über das „Hilfehandeln“ alle Arbeitszweige des weitgefächerten Diakonischen Werkes auf das heilende Handeln Jesu zurück. Ist es sehr ungezogen, wenn ich in solcher Ideologie, ohne die Kirche, Theologie und Diakonie heute kaum zu denken sind, einen Etiketten-Schwindel sehe? Jesus brachte Blinde zum Sehen; wir bringen sie nicht zum Sehen, sondern in eine Blindenschule, behaupten aber, das sei doch in etwa das gleiche. Zudem muß man so etwas „zynisch“ nennen. Ein blinder Mensch steht vor der Aufgabe, sich klar zu machen: ich werde mein Leben lang blind bleiben; ich will versuchen, als Blinder mein Leben frohgemut zu gestalten (ich will von euch nicht in irgendein Lügennest hineingeglaubt oder hineindefiniert werden). Ist es nicht zynisch, hier zu widersprechen: Im Grunde haben wir dich doch geheilt, du hast jetzt sogar eine Arbeitsstelle. Der Unterschied zu einem sehenden Arbeitnehmer, und alle Mühe und Erschwernis, die damit zusammenhängt, wird von dieser Theologie einfach nicht ernst genommen. Verständlich; denn in dem Augenblick, wie sie sagen würde: wir haben dich nicht geheilt, müßte sie zugeben: wir können nicht heilen. Und diese Schwäche kann und will man offenbar nicht einräumen. Sichtbar wird damit die Funktion des angeblichen Heilungsauftrages: Er hilft zwar nicht den Behinderten (wie gezeigt, erschwert er im Gegenteil einem behinderten Menschen die mutige Lebensgestaltung), aber er tut den nichtbehinderten Christen gut: sie können sich in der starken Pose aalen: Wir haben einen Heilungsauftrag, und den üben wir fleißig aus. Saniert wird mit dem sog. Heilungsauftrag kein kranker oder behinderter Mensch, aber vielleicht das Ohnmachtsgefühl einer schlappen Kirche, die sich gern auf der Könner-Seite sieht.
     
  • Wie Sie merken bin ich längst beim vierten Stichwort: „Diakonie“. Wenn sie und solange sie von dem aufgezeigten Reden von Kirche herkommt, ist auch die Diakonie von der Spaltung befallen: Die Starken tun etwas für die Schwachen, anstatt mit den Schwachen zu leben, wobei jeder aufmerksame Mitarbeiter die Erfahrung machen wird: ich profitiere von diesem Miteinander genau so wie der sogenannte Klient. – In der Diakonie wird der Satz gern zitiert: Gott hat keine anderen Hände als unsere. Kaum einer sagt aber: Gott hat (wenn ich Hilfe brauche) ebenfalls keine anderen Hände als die meiner Mitmenschen. Vermutlich stimmen beide Sätze nicht; denn sie bestreiten, daß Gott, abgesehen von unseren menschlichen Händen, noch „eine andere Hand mit ins Spiel“ bringen kann. Aber wenn ich jenen ersten Satz sage, wird auch der zweite nötig; sonst behaupte ich ja: Auf mein Helfen ist Gott angewiesen, wenn es um andere geht; mir aber hilft Gott ständig ohne Mitwirken der anderen. Damit praktizierten wir eine Zwei-Klassen-Diakonie. Ich frage mich zuweilen, was eine so sich verstehnde Diakonie noch grundsätzlich unterscheidet von einem Tierschutzverein. Nun gut, bei uns werden keine Kaulquappen oder Singvögel geschützt, sondern Menschen; aber in beiden Fällen gibt es das krasse Gegenüber von Subjekten und Objekten. Von einer Kaulquappe erwarte ich nichts (oder fast nichts) für mich und für die Sinnfindung meines Lebens; aber sie verdankt ihr Leben meinem Einsatz. Im Schema „Hilfehandeln“ wäre das gleiche zu sagen auch vom Umgang etwa mit Schwerstmehrfachbehinderten.

Damit aber genug zu diesem ersten Abschnitt, in dem ich von einer spaltenden Theologie sprach, die ich aufzeigte an den Stichworten: Gott, Mensch, Kirche und Diakonie.

2.
Beim zweiten Abschnitt muß ich aufpassen, daß ich mich nicht wiederhole. Thema ist hier die nicht spaltende, die integrierende Theologie; die vier Stichworte sollen die gleichen sein.

  • Wenn ich richtig, wenn ich biblisch von Gott rede, darf ich nicht nur von seiner Stärke reden. Wenn ich den ganzen Gott benennen möchte, muß ich sagen: er ist auch grausam, dunkel, nicht verstehbar und leidend. Ich will mich hier beschränken auf das, was Theologen den „deus absconditus“ nennen, den verborgenen Gott. Bei Luther etwa ist klar, daß alles, was wir in unserer Welt kennen, bis auf das, was uns in Christus offenbart wurde, auf den „verborgenen Gott“ zurückzuführen ist: Sonne wie Regen, Glück wie Leid, Lachen und Weinen, Gesundheit und Krankheit. Erkennbar ist Gott nur in Christus, da ist er der offenbare Gott, der „deus revelatus“. – Ich könnte es verstehen, wenn Sie jetzt denken: Im Augenblick driftet er aber ins Abstrakte ab; jetzt redet er – im Sinne des Brecht-Zitats – von Bäumen und hat die „kleinen Leute“ vergessen. Aber nein! Gerade an diesem streng theologisch aussehenden Punkt läßt sich zeigen, wie nahe „Bäume“ und „Elend in der Welt“, saubere Theologie und die „kleinen Leute“ beisammen sind.

    Es gibt nämlich seit einiger Zeit Theologen, die Luthers Reden vom verborgenen Gott heranziehen, wenn sie von der Frage sprechen: Wie kann Gott das Leid in der Welt zulassen? Jetzt soll der verborgene Gott plötzlich das Leid in der Welt erklären, und nicht mehr, wie bei Luther, das unverständliche, uns ungerecht erscheinende, Nebeneinander und Miteinander von Glück und Leid. Jetzt wird der verborgene Gott benötigt, wenn die Frage ansteht: Warum kann der total gelähmte Peter niemals im Leben auch nur einen Happen selber zum Munde führen. Der verborgene Gott wird aber nicht benötigt, wenn wir fragen: Warum kann Boris Becker so toll Tennis spielen? Aber (und jetzt wird’s spannend!) wenn die Stärke des Sportlers nichts mit Gottes Verborgenheit zu tun hat, dann ja wohl mit seiner Offenbarung (eine dritte Möglichkeit gibt es nicht). Das heißt: Wenn ich beim „verborgenen Gott“ nicht an die scheinbar ungerechte Verteilung von Stärke und Schwäche denke, sondern nur noch an die Schwäche, dann bringe ich automatisch die Stärke auf die Seite des offenbaren Gottes; ich rücke die Kraft eines Sportlers und die geistigen Fähigkeiten eines Gelehrten in die Nähe von Gnade, Versöhnung, Heil; und unter der Hand stehen die Schwäche des körperlich und des geistig Behinderten in der Nähe von Ungnade (Verwerfung), Gericht und Unheil: Eine schrecklichere Spaltung kann es gewiß nicht geben. Und sie ergibt sich unmittelbar (denken Sie noch einmal an die „Konsequenzen“) aus einem bestimmten Reden von Gott. Wer richtig, biblisch von Gott redet, wer vom ganzen Gott redet, der wird umfassend vom verborgenen Gott reden: Wir wissen nicht, warum es uns vergönnt ist, Mitarbeiter in der Diakonie zu sein, warum es uns erspart blieb, lebenslänglich in einer Einrichtung der Diakonie versorgt werden zu müssen; und genauso wenig wissen wir, warum es bei den von uns Betreuten andersherum ist. Im Nichtwissen stehen wir beisammen, werden wir Geschwister.
     
  • Wer vom dunklen Gott redet, vom nichtverstehbaren, ungerecht erscheinenden Gott, hat die Möglichkeit, auch vom Menschen anders zu reden: der Mensch ist, als Geschöpf!, auch schwach, hilfsbedürftig, nicht ohne Leiden und Angst. – Zu diesem Punkt stelle ich einmal zwei außer-theologische Beispiele einander gegenüber. Der Bundesverband der Lebenshilfe formulierte in einem Grundsatzpapier (1990; zit: Westfalen Lesebuch, S. 239): „Es ist normal, verschieden zu sein. Behinderung ist eine besondere Form von Gesundheit.“ (Nebenbei gesagt: Dieser Satz wird zuweilen zitiert als ein Satz des ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker; der hat ihn aber offensichtlich von der Lebenshilfe übernommen.) Warum fällt es der Theologie so schwer, genau so locker, nicht spaltend von Behinderungen zu sprechen? – Nun das andere Beispiel. Der Bochumer Philosoph Hans Martin Saß (und mit ihm andere Bioethiker) unterscheiden zwischen Mensch und Mensch, zwischen Menschen, die nur geweblich, organisch Menschen sind, und Menschen, die dank ihrer geistigen Fähigkeiten „Personen“ genannt werden können. Rechtlich geschützt und ethisch zu würdigen sind, so wird behauptet, nur die „Personen“. Ich halte es heute für eine dringliche Aufgabe von Theologie, Kirche und Diakonie, an dieser Stelle mindestens so laut Krach zu schlagen, wie sie es bei der Abschaffung des Buß- und Bettages getan haben; auf den können wir gewiß zur Not verzichten, aber auch darauf, daß jeder von einem menschlichen Vater Gezeugte und von einer menschlichen Mutter Geborene als Mensch im umfassen Sinne, als „Person“ also, anerkannt ist? – Im Zeitalter der sogenannten Bioethik scheint die Parole sinnvoll zu sein: Sage mir, wann du Krach schlägst, und ich sage dir, ob du Kirche bist oder bloß ein Verein zur Pflege religiöser Traditionen.
     
  • Beim Thema „Kirche“, der nicht-spaltenden Kirche, muß von vornherein klar sein: sie ist auch ein Haufe von Stolpernden, der Gottes Hilfe ständig für sich selbst nötig hat. Auch dazu nur zwei Punkte:
    • Seit 1975 hat die Ökumene das Thema aufgegriffen: Behinderte und nichtbehinderte Menschen gehören in der „Familie Gottes“ zusammen: „Die Einheit der Kirche muß die »Behinderten« wie die »Unbehinderten« einschließen.“ Bisher läuft vieles falsch: „Die Behinderten werden als die Schwachen behandelt, die bedient werden müssen, und nicht als völlig verpflichtete und integrierte Glieder des einen Leibes Christi …“. Dann kommt man auf „die gegenseitige Abhängigkeit aller Menschen“ zu sprechen und stellt die aufregende Frage: „Wie kann die Kirche sich dem Zeugnis öffnen, das Christus durch diese Menschen ablegt?“ (H.Krüger u. W.Müller-Römheld (Hg.), Bericht aus Nairobi. Ergebnisse, Erlebnisse, Ereignisse. Offizieller Bericht der fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen.  Frankfurt (1976), 2. Aufl. 1976, S.28f). Behinderte Menschen also haben eine Mission an die Gesamt-Kirche, das ist deutlich eine total andere Perspektive als die stolze These vom Heilungsauftrag der Kirche behinderten Menschen gegenüber. Auf dieser Linie erkannte dann 1978 eine ökumenische Konsultation in Bad Saarow (DDR): „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht. Wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert“ (Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow, DDR, in: Jahrbuch DW EKD 1978/79; S.227ff; Zit.: S. 228).
       
    • Wenn ich die Dinge richtig sehe, geht es bei dem hier zur Rede stehenden Gegensatz (Kirche der Starken / Kirche als Familie Gottes, in der behinderte und nichtbehinderte Menschen ebenbürtig zusammengehören) um einen Gegensatz, der um 1930 zwischen Otto Dibelius und Karl Barth sichtbar wurde. Nach dem ersten Weltkrieg gab es viele Stimmen, die die Kirche priesen als Fels in der Brandung, als Hilfe in den Wirren der Nachkriegszeit. Schon 1920 widersprach Karl Barth einer solchen Position der Stärke: „So ist die biblische Kirche bezeichnenderweise die Stiftshütte, das Wanderzelt; von dem Moment an, wo sie zum Tempel wird, existiert sie wesentlich nur noch als Angriffsobjekt“ (Karl Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke , München 1920, S. 16). Und weiter: „Das ewige vermeintliche Besitzen, Schmausen und Austeilen, diese verblendete Unart der Religion, muß einmal aufhören, um einem ehrlichen grimmigen Suchen, Bitten und Anklopfen Platz zu machen“ (S. 26). Als dann Otto Dibelius ein Buch veröffentlichte mit dem markigen Titel: „Das Jahrhundert der Kirche“ (1928; daraus nur ein Zitat: „die Aufgabe der Kirche ist der Kampf! In eine Welt der Sünde ist sie hineingestellt, damit sie ihr (!) das Urteil Gottes verkündige“; zit: Karl Kupisch (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871 bis 1945, Siebenstern-Taschenbuch, München und Hamburg 1965, S, 237), konterte Barth mit einem Vortrag: „Die Not der evangelischen Kirche“ (1931, abgedruckt in: Der Götze wackelt, hg. Kupisch, Berlin 1961, S. 31ff). Etwa: „Kann und darf die Sichtbarkeit der Kirche unter dem Kreuz die Sichtbarkeit einer Schar in ihrer Geistlichkeit offenbar sehr reicher, mit vollen Händen aus einem wohlgefüllten Schatz austeilender Leute sein? Wo und wann und wie wird denn die Kirche der verlorenen, der geistlich bankerotten, der auf Barmherzigkeit angewiesenen und von Barmherzigkeit lebenden Leute sichtbar? (S. 52) Oder: [Oft muß man] „den Eindruck haben, als ob es mit dem Vorhandensein von allerlei Lebenskräften und mit dem Zirkulieren von allerlei Lebensströmen, was die Kirche betrifft, aufs Beste bestellt sei, als ob der Fehler nur draußen in der immer gleichgültiger werdenden, immer mehr verwildernden und sich zerreißenden Welt zu suchen sei. Und das geht eben nicht …! Wo ist eigentlich die Kirche, die selber in der Buße steht, die sie predigt, die von Luthers »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, das sie so trefflich anzupreisen weiß, Gebrauch macht?“ (S. 52f).

      Mein Vikars-Vater Johannes Klevinghaus, lange Jahre Anstaltsleiter im Wittekindshof, sagte 1964 genau auf dieser Barth-Linie: Als Mitarbeiter in der Diakonie „sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“ (Ernst Brinkmann, Hg., Heil und Heilung, Gedenkbuch für Johannes Klevinghaus, Luther-Verlag Witten 1970, S. 61 f).
       
  • Sie haben es gemerkt: Ich leitete soeben über zur nichtgespaltenen Diakonie. Hier möchte ich berichten von einem Anstaltsleiter und dann von einer über 80-jährigen Anstaltsbewohnerin.
    • Karl-Adolf Bauer fragte in einem Vortrag, 1976: „Haben wir erkannt, daß die unserer Hilfe Bedürftigen nicht nur auf uns, sondern auch wir auf sie angewiesen sind, damit wir alle miteinander Menschen werden? Die Praktizierung einer solchen Gemeinschaft von Helfenden und Hilfsbedürftigen ist das Betriebsziel der Diakonie!“ (K.-A. Bauer, Diakonie am Wendepunkt, in: Die offene Tür, Mitteilungen aus den Diakonie-Anstalten Bad Kreuznach, Nr. 132, Dezember 1976, 9. Seite.) Ich halte fest: Hier wird das Miteinander klar betont. Aber weiter: Die törichte Frage, ob sehr schwer behinderte Menschen weniger „Menschen“ sind als wir anderen (s.o. zu H.M. Sass), wird unterlaufen: ein Mensch ist nie fertig, ein Mensch ist immer im Werden, Menschsein ist grundsätzlich ein Prozeß; und der ist bei uns allen in gleicher Weise noch nicht abgeschlossen; so hoffen wir, „miteinander Menschen (zu) werden (!)“. – Dieser Prozeß ist keineswegs ein Nebenprodukt der Diakonie, sondern wird geradezu das „Betriebsziel der Diakonie“ genannt; und das nicht so, daß wir von einzelnen reden (der eine bekommt eine neue Hüfte, der andere trotz Rollstuhl eine Berufsausbildung und der Mitarbeiter nach 25 Jahren Tätigkeit das Kronenkreuz in Gold), sondern so, daß die auch uns Mitarbeiter einschließende Gemeinschaft in den Blick kommt. Der andere ist noch nicht fertig, und auch ich bin noch nicht fertig ohne Diakonie! Der krasse Unterschied zu jener Hilfehandeln-Mentalität springt gewiß ins Auge.
       
    • Frau K., eine nichtbehinderte Teilnehmerin unseres Andachtskreises in einem Wohnheim für behinderte Menschen, wurde nach einem Krankenhausaufenthalt freudig im Kreis begrüßt, woraufhin sie sagte: Das müßt ihr mir glauben, ich habe euch auch richtig vermißt. Damit hatte sie der über 80jährigen Frau N. ein wichtiges Stichwort geliefert. (Noch einmal: Frau K. hatte gesagt: ich habe euch auch richtig vermißt. Und nun Frau N.:) Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt. – Ich konnte nur staunen und ihr und dem Kreis mein Staunen erklären: Wir Mitarbeiter haben das hohe Ziel, so fleißig für die Bewohner einer Einrichtung da zu sein, daß niemand die Pflegerin oder den Seelsorger, den Pädagogen oder die Ärztin „vermissen“ muß. Bei Frau N. lerne ich: es gibt auch den entgegengesetzten Blick. Frau N. weiß: auch sie ist jemand, den man möglicherweise vermissen kann. Nur, davon haben viele keine Ahnung: sie sorgen dauernd für uns, sie sind davon überzeugt: ohne die Nichtbehinderten würde den Behinderten vieles fehlen; aber kaum jemand gibt zu, daß auch den Nichtbehinderten ohne die Behinderten etwas fehlt. Frau K. hat das begriffen, sie sagt als Nichtbehinderte: ich habe euch vermißt. Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.

3.
Halten wir kurz inne! In zwei ausführlichen Abschnitten stellte ich zwei grundverschiedene Arten, theologisch von Gott, vom Menschen, von der Kirche und ihrer Diakonie zu reden, einander gegenüber. Ohne jeden Zweifel kommen behinderte Menschen und insgesamt die „kleinen Leute“ bei der zweiten Art der Theologie besser zurecht. Aber, so müssen wir jetzt kritisch weiterfragen: Ist das ein Argument, das in der Theologie Sinn macht? Könnten wir dabei nicht in einem uferlosen Relativismus landen: Jeder sucht sich aus, was ihm am besten paßt: Der Sportler kommt vielleicht besser klar in einer Theologie der Stärke (also in der ersten unserer beiden Arten), die Schwachen besser in der zweiten Art. Warum sollten sich nicht auch Musiker, Astronauten und Briefmarkensammler eine jeweils für sie passende Theologie zurechtschneidern? Klar, so geht es nicht. Aber wie geht es denn? Natürlich nur so, daß wir den in der Theologie einzig gültigen Maßstab anlegen: Welche Art der Theologie ist vom Zeugnis der Heiligen Schrift her legitim? – Übrigens war diese Zwischenbemerkung schon mein ganzer dritter Teil, und ich komme bereits zum vierten:

4.
Jede Theologie, vor allem jede evangelische Theologie vermag den Maßstab noch präziser zu benennen: Welche der beiden Theologie-Typen könnte sich auf das biblische Zeugnis von Jesus Christus berufen? Diese Rückfrage möchte ich jetzt nicht an alle vier Punkte richten, sondern nur (zunächst nur) an den ersten: Wie ist in der Person Jesu Christi von Gott die Rede? Da ich hoffe, meine These hat Sie überzeugt, daß mit dem Reden von Gott schon eine Vorentscheidung getroffen ist über unser Reden von Mensch, Kirche, Diakonie, ist die Eingrenzung auf den ersten Punkt sachlich wohl berechtigt. Ist Jesus der starke Held? Angekündigt wird er als der Retter der Welt, aber dann muß er (ich denke an die Flucht nach Ägypten) erst selber einmal gerettet werden. Wir kennen diese Geschichten und wundern uns nicht mehr viel über die Inhalte. Aber im Grunde ist das doch peinlich: Was für ein Gott ist das! Gott als Flüchtlingskind. Vor Jahren sagte ein Kollege, als wir über diese Zusammenhänge sprachen: Eigentlich ist das ein Skandal, wenn man bedenkt, was wir für’n Gott haben. – Oder denken Sie an die Weihnachtsgeschichte bei Lukas. Gelegentlich sprachen wir im Volmarsteiner Andachtskreis über den Ausdruck: „Weg damit!“ Behinderte Menschen empfinden gelegentlich so: was willst du hier, du störst, du kannst ja doch nichts; weg damit! Und dann fiel uns Lukas 2 ein: Auch die beiden aus Nazareth störten, erst recht, als man merkte, Maria ist hochschwanger. Weg damit, ab in den Stall. Da kam der Heiland zur Welt. Gott wurde selber ein „weg damit!“: Denn sie hatten keinen anderen Platz in der Herberge. Der erste Petrus-Brief nennt später Jesus den Stein, den die Fachleute „verworfen“ haben, wieder: weg damit! Aber zurück zu Lukas 2! Bei der Botschaft des Engels denkt man zunächst an die Theologie der Stärke: Er kündigt den Herrn in der Stadt Davids an. Und bei der unmittelbaren Fortsetzung wird man gespannt: Und das habt zum Zeichen; jetzt werden also die Erkennungszeichen Gottes genannt, die Königsinsignien des „Herrn in der Stadt Davids“: Ihr werdet finden ein Kind (keine Macht, eher Ohnmacht), in Windeln gewickelt (die blieben auch beim Gotteskind nicht trocken; die Rede ist hier von der Hilfsbedürftigkeit Jesu) und in einer Krippe liegen (jämmerliche Armut). Verstehe, wer kann: Gottes Kennzeichen in dieser Welt sind nicht Macht, Stärke und Reichtum, sondern Ohnmacht, Hilfsbedürftigkeit und Armut.

Nun gut, könnte man einwenden, wir haben alle mal klein angefangen; später aber war er doch der starke Heiland. Wirklich? Angefeindet ist er, zuweilen gerade da, wo er eine Heilung vollzogen hat: ich denke an die Heilung des Blindgeborenen, durch die sich Jesus Ärger einhandelt (Joh 9). Zudem sagt Jesus von sich, er sei ärmer als Fuchs und Vogel (Lk 9,58). Und dem entspricht das Ende seines irdischen Weges. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß da, wo Jesus das große Werk zu unserer Rettung tut, auf Golgatha, daß sich gerade da die Hinweise auf seine Hilfsbedürftigkeit häufen? Man hat deutlich den Eindruck, Markus etwa legt Wert auf diese Sache, denn er betont sie auch da, wo es absolut nicht nötig ist. Ein Mißverständnis muß dafür herhalten, die Hilfsbedürftigkeit zu erwähnen. Jesus ruft: Eli, Eli; manche verstehen, er rufe den Elia und sind gespannt, „ob Elia komme und ihm helfe„! Zuvor hatte Simon von Kyrene ihm helfen müssen beim Kreuztragen. Mk 15, 31 lesen wir: andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Am auffälligsten ist sicher die Erwähnung der Frauen, die von ferne stehen; Markus hätte über sie nichts weiter sagen müssen; wenn er aber Galiläa erwähnen möchte, hätte er sagen können: sie waren schon in Galiläa seine Zuhörerinnen; oder: die sind von Galiläa aus mit hierher gewandert; nein, Markus sagt: diese Frauen hatten ihm in Galiläa „gedient“. Diese Notiz ist für den Fortgang der Kreuzigungsgeschichte absolut nicht nötig; offenbar ist sie aber für das Predigtanliegen des Evangelisten unabdingbar. Markus will unüberhörbar den in die Hilfsbedürftigkeit heruntergekommenen Gottessohn predigen.

Aber aufgepaßt! Markus predigt hiermit keineswegs einen schlappen Gott. Nein, auf dem Weg der unüberbietbaren Hilflosigkeit schafft er unser Heil: Der Vorhang im Tempel zerreißt, der das Allerheiligste vom Rest der Welt abtrennte: Jeder hat ab sofort unmittelbaren Zutritt zu Gott. Und der heidnische Hauptmann ist der erste, der davon Gebrauch macht: Er bekennt sich unter dem Kreuz zu Jesus als dem Gottessohn. Was Paulus im zweiten Korintherbrief sagt, müßte man zweimal sagen und jeweils anders betonen: Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung. Aber eben auch: Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung (IIKor 12,9).

5.
Wir kommen zum Abschnitt 5. Auch wenn ich sagte, daß ich von der Überlegung, wie von Jesus Christus her über Gott zu reden sei, nicht die drei anderen Punkte unter der Perspektive „Konsequenz“ beleuchten will, für den vierten Punkt, also für die Diakonie, möchte ich es doch tun – im Thema ist die Diakonie ja besonders genannt. – Klar ist gewiß von vornherein: Eine Diakonie, die ehrlich herkommt von der Art, in der das Neue Testament von Jesus predigt, muß auf alles verzichten, was man „Heldenpose“ nennen könnte: Jedes Gegenüber von starken Helfern und schwachen Hilfeempfängern, alles einseitige Hilfehandeln, das die eigene Bedürftigkeit und Dürftigkeit verdrängt, vergeht wie der Schnee in der Sonne. Denn in der Person Jesu wird deutlich: Stärke ist nicht besonders göttlich; Schwäche ist kein Makel; Hilfsbedürftigkeit ist nicht schlimm. Anders gesagt: Sich helfen lassen zu müssen ist genau so „göttlich“, wie anderen helfen zu können. Das rückt in der Diakonie Mitarbeiter und Versorgte radikal zusammen. Denn unmöglich geworden, durch unser „Aufsehen auf Jesus“ (vgl. Hebr. 12,2; der ganze Vers scheint mir diakonisch bedeutsam) unmöglich gemacht, ist es, im diakonischen Alltag Jesus einseitig auf der Seite der Helfer zu sehen (im Sinne von: Jesus half den Schwachen, somit ist Helfen göttlich); Jesus ist ebenso (kein bißchen weniger) auf der Seite der Hilfbedürftigen (im Sinne von: Jesus mußte sich helfen lassen, somit ist es göttlich, auf Hilfe angewiesen zu sein). Darf ich’s so sagen: Die Botschaft von Jesus verdonnert uns zu einer Geschwisterlichkeit, in der jedes Festklopfen von Oben und Unten Verweigerung der Nachfolge Jesu bedeuten würde.

Erlauben Sie, daß ich Ihnen an dieser Stelle eine persönliche Begegnung erzähle, eine für mich spannende Begegnung mit einem theologischen Satz. Zuweilen wird mir gesagt, meine Thesen und Veröffentlichungen seien sehr neu und aufregend. Meine Antwort ist regelmäßig: das sehe ich anders; ich trage doch nur zusammen, was jeder etwa bei Markus und bei Paulus, bei Luther und Barth nachlesen könne. Nur eine Ausnahme gab ich zu: Die starke Betonung der Hilfsbedürftigkeit Jesu, und die Behauptung, von der Hilfsbedürftigkeit Jesu her müsse sich unser übliches Reden von Diakonie gründlich ändern, dieses beides hätte ich so nirgendwo sonst gefunden. Und dann, eines Abends, fand ich’s zufällig doch. Ich las, unter einer ganz anderen Fragestellung, Wicherns Gutachten von 1856 und begegnete darin unvermutet folgendem Satz: Christus »ist nicht bloß das Subjekt der Diakonie; seine Liebe erfüllt sich (!), indem er sich zugleich als Objekt derselben ergibt« (in: J.-H. Wichern, Sämtliche Werke, hg. von P.Meinhold, Bd.III/1, 1968, S. 132). Jesus, der Bedürftige, Jesus als „Objekt“ der Diakonie. Und das nicht als bedauerliche Ausnahme von der eigentlich geltenden Regel, so als wollte Jesus am liebsten der ständig Helfende sein, aber leider geriet er zwischendurch in Situationen, in denen er Hilfe nötig hatte. Nein, das gehört notwendig und gewollt mit zu Jesu Liebestätigkeit: Darin „erfüllt“ sich seine Liebe; das heißt doch: Wäre Jesus immer nur kraftvoll der helfende Heiland gewesen, dann wäre seine „Liebe“, seine „Diakonie“, nicht vollständig gewesen! Von einer Diakonie, die herkommt von Jesu Diakonie, muß das gleiche gelten. Wer meint, immer nur helfen zu sollen, wer allein im „Hilfehandeln“ das Wesen der Diakonie definiert sieht, wer als Schwäche bei sich selbst allenfalls das Eingeständnis gelten läßt, daß er mit dem Helfen nicht fertig wird, wer sich weigert zu erkennen: ich vermisse die mir Anvertrauten gelegentlich, denn ohne sie würde mir etwas fehlen, der mag von einem großen humanitären Ideal sprechen (vielleicht aber auch nicht, denn vermutlich landet man mit diesem „Ideal“ rascher als gedacht beim Burn-Out), aber von der Diakonie, wie sie von Jesus gelebt wurde und wie sie von uns wenigstens versucht werden sollte, hat er keinesfalls geredet. – Was Rolf Zerfaß von der Caritas sagt, hat daher auch für die Diakonie Gültigkeit: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen.“ (Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, (Herder) Freiburg, 1992, S. 15). Vereinfacht ausgedrückt: Die vorhin genannte Frau K. kann den Bewohnerinnen des Hauses nur helfen, wenn sie, Wochen von ihnen getrennt, sie ehrlich vermißt, wenn sie neben dem Satz „die brauchen mich doch“ als gleichwichtig den Satz zuläßt: „und ich brauche Frau N. und die anderen ebenso“.

6 und 7.
Die eingangs genannten Thesen, von denen her ich mein heutiges Referat gliedere, trug ich in der Heidelberger Universität vor. Damit ist gegeben, daß ich in zwei Thesen (6 und 7) auf das Verhältnis zwischen praktischer Diakonie und Universitätstheologie einging. Das möchte ich, bis auf eine Sache, überspringen.

  • Nicht überspringen möchte ich die Anfrage, ob wir in der Diakonie nicht die Theologie zu wenig in die Pflicht nehmen und ihr damit erlauben, immer abstrakter zu werden. – Ich denke an eine Tagung mit Religionslehrer(inne)n aus Sonderschulen. Deren Not bestand unter anderem darin, daß sie auf die von schwerbehinderten Kindern gestellte Warum-Frage theologisch nicht zu reagieren wußten. Uns wurde klar: Wenn die Theologie Stärke für göttlich und Schwäche für einen Makel ansieht, ist man selbstverständlich bei solcher Warum-Frage mit seinem Latein am Ende. Auf dieser Tagung ging mir auf: Bei der Vokation schickt unsere Kirche diese Lehrkräfte mit einem theologischen Rüstzeug in die Sonderschulen, in denen sie mit diesem Rüstzeug scheitern müssen. Das gleiche gilt unter Umständen auch von diakonischen Mitarbeitern. Damit will ich sagen: Wir an der religions-pädagogischen und der diakonischen „Basis“ sollten der Universitätstheologie gegenüber wesentlich kritischer und offensiver werden. Diakonische Mitarbeiter sollten Mut entwickeln, alles, was sie theologisch gelernt haben, von ihrer Praxis her kritisch zu sichten. Und sie sollten andererseits den Mut haben, das, was sie an ihrem Ort über Gott und Gemeinde, über Schöpfung und Hoffnung, über Jesus und Nachfolge verstehen lernen, als „Theologie“ zu begreifen, als etwas so Wichtiges, daß eines Tages vielleicht sogar die Professoren davon lernen werden. Und immerhin gibt es schon heute Professoren, die uns in solchem Unternehmen bestärken. Dazu noch einmal Rolf Zerfaß: „Wer heute acht Stunden in der Station für desorientierte alte Menschen oder im Heim für Mehrfachbehinderte aushält, hat jedem akademischen Theologen einen Leidens- und Erfahrensvorsprung voraus, der in Theologie und Kirche Gehör verdient. Er besitzt eine Autorität, die ihm kein Diplom und keine Weihe zu geben vermag“ (Zerfaß a.a.O., S. 74).

    Was hieße das für den theologischen Unterricht in Diakonenschulen? Könnten diese Ausbildungsstätten nicht wesentlich selbstbewußter arbeiten? In den dreißig Jahren meiner Lehrtätigkeit im Martineum ist uns wohl immer bewußt gewesen, daß wir kein Mini-Theologie-Studium anzubieten haben. Aber kamen wir wirklich frei von dieser Vorstellung? War nicht doch der Student im dritten oder vierten Semester unser Wunschtraum, wenn wir an unsere Examenskandidaten dachten? Hatten wir den Mut, von unseren Begegnungen mit Frau N. und all den anderen eine eigenständige Theologie zu entwickeln, die sich herausnimmt, auch Professoren gelegentlich heftig zu widersprechen? Was in der Diakonie an Theologie erkannt und formuliert werden könnte, kann keine Universitätstheologie auf die Beine stellen. Entweder formulieren wir es oder es wird nicht formuliert; das hieße: unsere Schätze und Möglichkeiten werden von uns selbst nicht ernst genommen und gehen damit der Kirche und ihrer Theologie verloren. – Es ist gut, daß ich die letzten Sätze leicht korrigieren muß: Denn es gibt hin und wieder Professoren, die mit ihren Seminaren in Kliniken und Behinderten-Einrichtungen gehen, um dort mit Patienten und Bewohnern zu sprechen, um von ihnen zu lernen. Wenn ich die Dinge nicht völlig falsch sehe, prägt diese viel versprechende Praxis aber noch keineswegs das Wesen heutiger Universitätstheologie.

8.
Es bleibt noch die achte These. Es geht da wieder um die „Konsequenzen“; diesmal aber gehe ich den Weg in umgekehrter Reihenfolge: von der Diakonie hin zum Einzelmenschen. Wenn das Gespräch zwischen Theologie und Diakonie nicht intensiver als bisher geführt wird, verkommt die Diakonie zu einem Anhängsel an die Gesamt-Theologie; die Diakonie in den Gemeinden wird entsprechend zum Anhängsel an die übrige Gemeindearbeit, und die kranken und behinderten Menschen werden zu Anhängsel-Existenzen an die übrige Bevölkerung. Und damit sind wir bei einer heute weit verbreiteten inhumanen These: Es gibt normale Menschen und es gibt unnormale Menschen, „Personen“ und nur noch vegetierende biologisch menschliche Wesen (vgl. noch einmal H.M. Sass, s.o.). Daß die Bioethik, die Peter-Singer-Debatte und anderes sich so großer Publizität erfreuen können, geht somit auch „auf die Kappe“ von Theologie und Kirche. Denn auch die Theologie (davon war ausführlich die Rede) macht schwerstbehinderte Menschen zu Ausnahme-Existenzen, die angeblich von Gott so nicht gewollt sind. Sind wir wirklich so naiv? Wenn wir sagen: Gott will nicht, daß Menschen so leben, dürften wir uns eigentlich nicht wundern, wenn andere das nur ein bißchen anders sagen: Wir wollen nicht, daß so Menschen leben. – Wer heute verantwortlich Theologie betreibt, redet keineswegs (um noch einmal an Brecht zu erinnern) von Bäumen, sondern er muß sich der politischen Dimension und der politischen Implikationen und Folgerungen seiner Arbeit bewußt sein. Sonst könnte es passieren (ich fürchte: es geschieht bereits), daß Theologie und Kirche durch ein unbiblisches Reden von Gott unbeabsichtigt Wasser auf die Mühlen der Euthanasie-Befürworter leiten. Kein Theologie-Treibender kommt um die Frage herum: Richte ich etwas aus, oder richte ich etwas an? – Ich weiß: Die letzten sehr ernsten Sätze sind kein schöner Vortrags-Abschluß. Aber ich halte sie bei der Brisanz unseres Themas gerade deshalb für passend.

Hauptsache gesund?  Der Glaube an die Machbarkeit einer von Krankheit freien Welt

Studientag am 20. Oktober 1997 in Stuttgart
(Diakonisches Werk
der evangelischen Kirche in Württemberg e.V.)

Wer zu Ende Oktober um ein theologisches Referat gebeten wird (ganz gleich, zu welchem Thema), ist gewiß gut beraten, wenn er sich von der Nähe zum Reformationsfest dazu einladen läßt, die reformatorische Theologie bewußt zur Grundlage seiner Ausführungen zu wählen. Dabei verstehe ich „Reformation“ im Sinne der alten Erkenntnis, nach der es bei ihr um einen nie abgeschlossenen Prozeß geht. Lateinisch sagt man: ecclesia semper reformanda, das meint: Kirche ist grundsätzlich eine Größe, die ständig eine stetige Rückbesinnung nötig hat. Allerdings: Wenn sie Reformation grundsätzlich und immer nötig hat, dann ist Kirche also grundsätzlich unfertig, bedürftig, hier und da vielleicht krank. Kurzum: Das Stichwort „Reformation“ soll unsere Blicke nicht auf die Zeit von vor 480 Jahren lenken, soll uns kein Anlaß sein, die alten Geschichten von Tetzels Ablaßhandel, also damalige innerkirchliche Krankheits-Symptome, zum abertausendsten mal zu wiederholen, vielmehr wollen wir von heute reden: Worin ist unsere Kirche erneuerungsbedürftig; wo sind wir in Gefahr, Irrwege zu gehen? Im Blick auf das Thema dieses Nachmittags wird Sie meine These nicht verwundern: Kirche und Theologie sind heute in der Gefahr, die Gesundheitsvergottung mitzumachen, die sich in unserer Gesellschaft zum Beispiel ausdrückt in dem häufig gebrauchten Wunsch: „Hauptsache gesund“; diese Gefahr ist nur zu bannen durch eine ehrliche Umkehr zur biblischen Botschaft, wobei Luthers Theologie uns wichtige Hilfen bieten kann.

Wer sich einmal mit der Geschichte der Reformation befaßt hat, weiß, daß für die Reformatoren Hand in Hand gingen: biblische Besinnungen, praktische Alltagsfragen, systematisch-dogmatische Streitfragen, kritische Blicke in die Kirchengeschichte und politische Impulse. Mein Vortrag möchte diese bunte Fülle ein bißchen übernehmen:

  • Einsetzen möchte ich im Alltag unserer Gemeinden und dem dort praktizierten Miteinander (oder Nebeneinanderher) von behinderten und nichtbehinderten Menschen. (Nebenbei: Ich komme beruflich her aus der Behindertenhilfe; aus diesem Bereich stammen meine Veranschaulichungen; die Übertragung auf andere diakonische Arbeitsfelder dürfte gewiß nicht schwerfallen.)
  • Dann werde ich die Thematik an unsere Theologie weitergeben.
  • Anschließen sollen sich Rückfragen an den Bibeltext.
  • Nötig wird dadurch ein Blick (oder auch mehrere) in die Kirchengeschichte; ich werde von Augustin und von Luther zu reden haben.
  • Zum Schluß soll noch einmal der Alltag zur Sprache kommen, wobei ich auch politische Fragen ansprechen möchte. – Aber nun der Reihe nach!

I)
Blicken wir auf den Alltag unserer Gemeinden! Niemand kann widersprechen, wenn beklagt wird, daß für behinderte Menschen nicht genug getan wird. Trotzdem möchte ich diese Kritik heute einmal nicht vertiefen, vielmehr frage ich: Geht diese berechtigte Klage überhaupt in die richtige Richtung? Denn sie setzt ja voraus: Wenn genug für Behinderte getan würde, wäre alles okay. Und das stimmt so nicht. Ich erzähle kurz von zwei Menschen, bei denen man lernen kann, daß das so nicht stimmt: von dem Theologie-Professor Eberhard Jüngel und von der alten Frau N. aus dem Volmarsteiner Andachtskreis.

Eberhard Jüngel schrieb einmal, das alte „suum cuique“ (zu deutsch: jedem das Seine) müsse auch in seiner aktiven Ausdeutung praktiziert werden. Das heißt: Es kann nicht genug sein, wenn jeder das zugeteilt bekommt, was er unbedingt braucht – damit könnte er Objekt unserer Versorgung bleiben; nein, er muß auch die Möglichkeit haben, selber die eigenen Anlagen und eigenen Begabungen aktiv in das große Miteinander seiner Gruppe, seiner Gemeinde, seines Staates einzubringen [1].

Frau N. sagte das gleiche sehr konkret. Frau K., eine nichtbehinderte Teilnehmerin des Andachtskreises, wurde nach einem Krankenhausaufenthalt freudig im Kreis begrüßt, woraufhin sie sagte: Das müßt ihr mir glauben, ich habe euch auch richtig vermißt. Damit hatte sie der über 80jährigen Frau N. ein wichtiges Stichwort geliefert. Sie sagte drei kurze Sätze, aber die hatten es in sich. (Noch einmal: Frau K. hatte gesagt: ich habe euch auch richtig vermißt. Und nun Frau N.:) Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt. – Ich konnte nur staunen und ihr und dem Kreis mein Staunen erklären: Wir Mitarbeiter haben das hohe Ziel, so fleißig für die Bewohner einer Einrichtung da zu sein, daß niemand die Pflegerin oder den Seelsorger, den Pädagogen oder die Ärztin „vermissen“ muß. Bei Frau N. lerne ich: es gibt auch den entgegengesetzten Blick. Frau N. weiß: auch sie ist jemand, den man möglicherweise vermissen kann. Nur, davon haben viele keine Ahnung: sie sorgen dauernd für uns, sie sind davon überzeugt: ohne die Nichtbehinderten würde den Behinderten vieles fehlen; aber kaum jemand gibt zu, daß auch den Nichtbehinderten ohne die Behinderten etwas fehlt. Frau K. hat das begriffen, sie sagt als Nichtbehinderte: ich habe euch vermißt. Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.

Normalerweise sehen wir das anders, wir sehen ein Gefälle: Die einen sind wichtig, sie werden natürlich vermißt, wenn sie nicht da sind. Und die anderen? Man ist ja nett zu ihnen. Aber vermißt haben wir „die“ kaum jemals. – Was ist das für eine Arroganz! Woher kommt dieser Stolz auf sich und seinesgleichen und (als Kehrseite dieses Stolzes) die Verachtung der Schwächeren, der Hinfälligen, der körperlich Geschädigten? Wir nehmen sie ernst, sorgen für sie, völlig klar; aber sie sind uns kaum wichtig für unser eigenes Vorankommen. Woher kommt dieser Stolz?

Da mag es manche Wurzeln geben, ich nenne nur eine einzige. Ich behaupte: Unsere ständige Einstellung, in der wir sagen: „Hauptsache gesund!“ schafft dieses Gefälle, schafft die Kluft zwischen den Wichtigen und den anderen, auf die es nicht so ankommt. Denn wenn wirklich die Gesundheit die Hauptsache ist, dann ist ein Mensch, dem die Gesundheit fehlt, ein Mensch, dem die Hauptsache fehlt: Ist er eigentlich noch ein Mensch? Er gleicht einem leeren Briefumschlag: Auch einem Umschlag ohne Brief fehlt die Hauptsache. – Lassen Sie mich diese Kritik zuspitzen: Wir legen Wert darauf, besser zu sein als die Nazis, die mit ihrem Euthanasie-Programm viele Schwerstbehinderte umgebracht haben; damals sprach man von Menschenhülsen – man weigerte sich, diese schwer behinderten Menschen „Menschen“ zu nennen; sie sind nur Hülsen. Wie nennen Sie eine Hülsenfrucht, der sie die Früchte entnommen haben? Was haben sie in der Hand, wenn Sie eine Erbsenschote in der Hand haben, aus der Sie zuvor die Erbsen entfernt haben? Damit sind wir wieder beim leeren Briefumschlag. Kurzum: Unser Spruch „Hauptsache gesund!“ denkt bei Nicht-Gesunden im Schema „Menschenhülsen“. Unser Spruch „Hauptsache gesund!“ bahnt (wenigstens in unseren Köpfen und Herzen) der Euthanasie den Weg. Was können Sie mit leeren Briefumschlägen anfangen? Wer könnte leere Erbsenschoten vermissen?

Als Zwischenergebnis halte ich fest: Eine Gesellschaft, zu deren Grundüberzeugungen der Ausdruck „Hauptsache gesund!“ gehört, wird vielleicht keine Euthanasie praktizieren, vielleicht ist man sogar ausgesprochen freundlich zu behinderten Menschen; im Denken aber, in unseren inneren Schaltzentralen, kultivieren wir das, was ich seit Jahrzehnten eine Euthanasie-Mentalität nenne. Und eine Gesellschaft, die sich für eine solche Euthanasie-Mentalität erwärmt, kann kaum Widerstand entwickeln, wenn die Euthanasie auch wieder einmal praktiziert werden soll.

II)
Wenn ich nun, wie angekündigt, im zweiten Punkt die angesprochene Thematik an unsere Theologie weiterreiche, wird jeder hoffen und stark vermuten, daß es in der Theologie das genannte Gefälle zwischen Wichtigen und den anderen nicht gibt, daß Theologie stattdessen stets und ständig von dem großen Geschwisterkreis Jesu redet, in dem alle gleiches Recht und gleiche Würde haben. – Es gehört für mich zu den bedrückendsten Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte auch diese: Unsere Theologie kennt beides. Auf der einen Seite die totale Weigerung, jenes Gefälle aufkommen zu lassen oder es zu fördern. Ich nenne nur einen einzigen Satz aus der Ökumene. Im Memorandum von Bad Saarow (1978) heißt es: „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht; wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert“ [2]. Das heißt, ganz im Sinne der Frau N., der Gemeinde fehlt etwas, wenn die Behinderten nicht da sind. Nicht nur vermissen behinderte Christen unter Umständen die nichtbehinderten Christen; sondern die nichtbehinderten Christen sind keine vollständige Gemeinde, wenn die behinderten Christen nicht dabei sind. Eine solche Gemeinde wäre, um in einem Bild zu sprechen, das der Apostel Paulus benutzt, im Bilde vom „Leibe Christi“, eine amputierte Gemeinde, eine behinderte Gemeinde. Gut, daß es solche Sätze gibt, auch heutzutage gibt. Und da ich heute recht ausführlich auf die andere Seite zu sprechen komme, möchte ich Sie bitten, nicht zu vergessen, daß ich dieses Positive sehe, gesagt habe und keinesfalls unter den Teppich kehren will.

Aber nun die andere Seite. Durch viele Themen unserer Theologie schleicht sich die Ansicht, behinderte Menschen seien Sonder-Menschen, Menschen ja, aber nicht so wie Nichtbehinderte Menschen sind. Ich denke etwa an die Aussagen zur Schöpfung: Daß ein nichtbehinderter Mensch sagen darf: ich glaube, daß mich Gott so geschaffen hat, wie ich bin, das lernt er im kirchlichen Unterricht. Aber wenn ich auch als Rollstuhlfahrer sage: Ich glaube, daß Gott mich so geschaffen hat, dann erlebe ich von vielen Theologen Widerspruch. – Wir können das jetzt nicht alles durchspielen. Ich möchte mich auf eine Sache eingrenzen, auf die Auslegung der Heilungsgeschichten des Neuen Testaments.

In Kommentaren, Predigthilfen und sonstigen Schriften ist immer und immer wieder zu lesen: Jesus kämpfte gegen die Krankheiten wie gegen die Dämonen; Krankheit und Besessenheit will er vernichten; dazu und zum Predigen ist er gekommen, er hatte also zu beidem einen Auftrag – man spricht gern von Jesu Doppelauftrag. Wir werden gleich nachprüfen, ob unsere Bibel das wirklich so sagt. Vorab möchte ich die genannte Sichtweise ein bißchen entfalten. Was ist mit ihr behauptet?

Unter anderem dieses: Gott will die Behinderung also nicht; Behinderung ist vom Teufel (oder von seinen Trabanten). Das hieße: Der Behinderte ist bestenfalls halberlei in der Herrschaft Jesu, teilweise (vielleicht: zum größten Teil) gehört er unter die Fuchtel der Dämonen. Das wieder hieße: Es gibt zwei „Sorten“ von Menschen: die einen sind so, wie Gott sie will; die anderen sind so, wie Gott sie nicht will. Das hieße dann aber: Es gibt sehr deutlich das „Gefälle“, von dem eben die Rede war, ja wir müßten dieses Gefälle kraß benennen als „Apartheid“, als Spaltung in zwei Gruppen, diesmal nicht in Weiße und Schwarze, aber in Nichtbehinderte und Behinderte. Und das schließlich hieße (und damit komme ich zum schlimmsten Punkt): Solche Apartheid ist nicht nur etwas Ausgedachtes, von Menschen boshaft Konstruiertes, sondern sie ist eine Realität; sie gibt es nicht nur als menschliche Ungezogenheit, sondern sie ist eine in der Bibel vorgegebene Notwendigkeit: Apartheid zwischen Nichtbehinderten und Behinderten ist theologisch legitim, denn sie ist von Gott verordnet. Zugespitzt: Diese Apartheid wäre eine Gottesordnung.

Man hat mir in den letzten Jahren mehrfach vorgeworfen, meine Kritik sei zu hart, mein Wort Apartheid sei kraß überzogen. Lassen Sie mich sagen, was ich damit meine, und was nicht. – Denken Sie bitte an den Satz, den es in den dreißiger Jahren gab: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Eine Parallele zu diesem rassistischen Satz müßte lauten: Ihr Nichtbehinderten, meidet die Behinderten. Ich habe nie behauptet und werde voraussichtlich nie behaupten, daß es in der Theologie diesen oder einen ähnlichen Satz gibt. Aber es gibt andere Sätze, Parallelen zu dem (von mir jetzt erfundenen) Satz: „Deutsche, seid nett zu den Juden!“ Dieser Satz klingt freundlich, ist wohl auch freundlich gemeint; und dennoch bedeutet auch er eine Kränkung, denn er verweigert den Deutschen jüdischer Herkunft die Anerkennung, Deutsche zu sein. Es gab um 1930 zahllose deutsche Juden, für die das Bewußtsein, Deutscher zu sein, Vorrang hatte vor dem Bewußtsein, Jude zu sein. Darum müßte es richtig heißen: Deutsche arischer Herkunft, seid nett zu den Deutschen semitischer Herkunft (oder ähnlich). Aber der Satz: Deutsche, seid nett zu den Juden, spaltet das deutsche Volk in richtige Deutsche und in Undeutsche; da werden zwei Gruppen behauptet, da ist angeblich ein Gefälle, ein Riß, ein Graben. Und der bleibt bestehen, auch wenn ein „Deutscher“ einen „Juden“ zum Kaffee einlädt; da sitzen keine gleichberechtigten deutschen Menschen am Tisch, was sich etwa darin zeigt, daß die Thematik „Ehe zwischen »Deutschen« und »Juden«“ höflich umgangen wird, weil sie ja als „Rassenschande“ gilt. Man ist zwar nett, ganz sicher; und dennoch: Apartheid. – Genau das ist es, was es in der Theologie im Blick auf behinderte Menschen auch gibt. Natürlich werden Christen aufgerufen, nett und hilfsbereit zu behinderten Menschen zu sein. Aber solange gesagt wird, die einen seien so, wie Gott sie will, die anderen aber seien nicht so (sie sind in der Macht gegengöttlicher Kräfte), so lange können wir uns überschlagen in diakonischen Aktivitäten, der Graben bleibt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang einen weiteren Punkt markieren durch zwei ältere Zitate. In beiden geht es um die Frage, ob wir Christen, wenn wir uns den Schwächeren zuwenden, dadurch auf die Seite Gottes treten, der sich ja auch zu uns Menschen herunterneigte (das würde ein krasses Gefälle bedeuten: Gott und wir Helfer auf der einen, die Hilfsbedürftigen auf der anderen Seite), oder ob wir alle, Starke und Schwache, Behinderte und Nichtbehinderte, in gleichem Maße darauf angewiesen sind, daß Gott sich uns allen zuwendet – und wenn wir Menschen uns mitunter gegenseitig helfen, dann steht das – ohne jedes Gefälle – auf einem völlig anderen Blatt (möglich wird hier eine ehrliche Solidarität). Das erste Zitat stammt von Ernst Wolf [3]; in einem Text von 1962 sagt er, die Wörter „Nächstenschaft“, „Zuwendung an alle“ und „mitverantwortliche Solidarität“ seien zu verstehen als „der freie Nachvollzug der Selbsterniedrigung Christi“. Spüren Sie die gewaltige Stufe? Das, was wir Menschwerdung Gottes nennen, sein Herabsteigen, (mit dem theologischen Begriff:) seine Kondeszendenz, soll von uns „nachvollzogen“ werden. Bin ich wirklich so hoch, daß ich das leisten könnte? Und ist der andere wirklich so weit unten, daß ich das leisten müßte: eine gottähnliche „Selbsterniedrigung“, ohne die ich nicht auf die Ebene des Schwächeren gelange? – Zwei Jahre später sagte (mein Vikarsvater) Johannes Klevinghaus in einem Vortrag [4] (und ich habe leider noch nicht herausgefunden, ob er es bewußt im Gegensatz zu Ernst Wolf gesagt hat, mit dem er nachweislich theologisch im Gespräch war): „Wir sollten, wenn von unserer Diakonie die Rede ist, nicht von Kondeszendenz sprechen. Zum Heruntersteigen werden wir in der Schrift zwar oft ermahnt; es ist dann aber an eine vermeintliche Höhe gedacht, die wir verlassen sollen: ‚Haltet euch herunter zu den Niedrigen.‘ Da ist keine Kondeszendenz, da ist kein frommer Schein des Herabneigens und Herabsteigens. Da wird uns der Platz angewiesen, an den wir gehören. Da sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“.

Halten wir kurz inne, um den roten Faden nicht zu verlieren. Durch das „Hauptsache gesund!“ werden behinderte Menschen in unserer Gesellschaft zu Menschen zweiter Wahl, zu Menschenhülsen, auf die wir verzichten können (wir vermissen nichts und niemanden, wenn sie nicht da sind). In der Theologie gibt es (neben anderem) auch die Spaltung, die Apartheid, was sich in zwei Punkten zeigte: Nichtbehinderte und Behinderte stehen einander gegenüber als die, die körperlich so dran sind, wie Gott es will, und als die anderen, die so dran sind, wie Gott es nicht wollen kann. Und das andere: Wenn die Stärkeren sich den Schwächeren zuwenden, bedeutet das den „Nachvollzug der Selbsterniedrigung Christi“ (s.o.); auf der einen Seite also: Gott und die Starken, auf der anderen Seite die Schwachen (im Gegensatz dazu J.Klevinghaus: auf der einen Seite Gott, auf der anderen wir Menschen, Schwache und Starke). – „Wie sagt es die Schrift?“, muß nun unsere weitere Frage lauten.

III)
Gefälle oder nicht? Apartheid oder Solidarität? Wir schauen in die Bibel und fragen, wie gesagt, die Heilungsgeschichten des Neuen Testaments: was sagen sie zu unserer Thematik? Ich grenze die Frage noch einmal ein: Was predigt das älteste Evangelium in diesen Texten? Wie redet Markus von gesunden und kranken Menschen, von Behinderten und Nichtbehinderten? Fehlt einem Menschen die Hauptsache, wenn ihm die Gesundheit fehlt, oder kann ein Mensch die Hauptsache haben und trotzdem krank oder behindert sein? Und anders herum: Kann einem Menschen die Hauptsache fehlen, auch wenn er gesund ist?

Die Predigt des Markus ist eindeutig als Kreuzespredigt zu verstehen. Gottes Heil kommt nicht mit Glanz und Gloria; es ereignet sich da, wo Jesus am Kreuz qualvoll stirbt. Zugang zum Heil haben wir nicht als Starke, als religiös oder sittlich oder sonstwie Vorbereitete: Der heidnische Hauptmann kommt unter dem Kreuz Jesu zum Glauben, und die Jüngerinnen werden am offenen Grab von Zittern und Entsetzen gepackt. Zöllner und Dirnen sitzen mit Jesus am Tisch, und „die Guten“ wenden sich ab. Die Witwe legt einen einzigen Pfennig in den Opferkasten und gibt damit „mehr“ als die Reichen. Überall hat die Markus-Predigt diese gleiche Struktur: Gottes Sache kann niemals an dem abgelesen, durch das ausgewiesen werden, was wir positiv und günstig nennen; sie kann aber auch nicht durch das, was uns negativ erscheint, gefährdet oder widerlegt werden.

Die spannende Frage ist nun: Hält Markus seine Kreuzespredigt auch dann durch, wenn er von den Heilungen Jesu erzählt, oder ist in diesen Texten von Glanz und Gloria, von notwendig gesunder Muskulatur und von normalerweise intakten Organen die Rede; ist jetzt doch das Starke und Positive die Voraussetzung dafür, daß ein Mensch mit Gott in Ordnung ist?

Kein Zweifel: Markus hält seine Kreuzespredigt durch. Und zwar gelingt ihm das dadurch, daß er sorgfältig unterscheidet zwischen Krankheit und Besessenheit und dementsprechend zwischen Heilungen und Dämonenaustreibungen. Was immer man unter „Besessenheit“ zu verstehen hat, klar ist zweierlei: a) diese Menschen sind in der Gewalt eines Geistes, der die Sache Jesu stören will; b) wir dürfen hier auf keinen Fall an psychisch Kranke denken; denn psychisch Kranke sind krank; und Markus will Kranke ja gerade von Besessenen abheben; durch Krankheiten sieht Jesus seinen Auftrag keineswegs gestört, durch Besessenheit aber sehr.

Ein Beispiel für diese klare Unterscheidung: Markus 1,21ff. Da wird Jesus, der in der Synagoge zu Kapernaum predigte, von einem bösen Geist angebrüllt und gestört: Du bist gekommen, uns zu verderben! Recht hat er: Gott will tatsächlich nicht, daß Menschen ohnmächtig in der Gewalt unsauberer Geister sind. Diesen Menschen fehlt tatsächlich die Hauptsache: die Möglichkeit der freien Hinwendung zu Gott; diese Menschen sind in der Tat nicht so dran, wie Gott es will. Jesus hat den Auftrag (dazu ist er „gekommen“ – das sagt der böse Geist völlig korrekt), die Dämonen zu besiegen. So nimmt er den Kampf auf, er brüllt zurück; da ist es richtig laut geworden; Jesus bleibt Sieger, und die Menge staunt: Eine Lehre „in Vollmacht“, auch die unsauberen Geister müssen ihm gehorchen. – Unmittelbar nach der Dämonenaustreibung eine Heilung, unmittelbar nach dem Spektakel der Friede: Jesus und die Jünger sind im Hause des Petrus. Da liegt die Schwiegermutter des Petrus und hat Fieber. Keine Silbe davon, daß das Fieber Jesus anbrüllt wie der Geist eben. Hier wird es nicht laut. Markus sagt nicht einmal, ob Jesus überhaupt etwas gesagt hat: Er greift die Frau bei der Hand, richtet sie auf und sie kann für das Essen sorgen. Das Fieber war gewiß lästig; aber es störte nur die Erkrankte und nicht Jesu Auftrag; Fieber ist wirklich kein Reich-Gottes-Problem; und das gilt ebenso von Lähmung, Blindheit, Aussatz und anderen Krankheiten [5].

Sie merken gewiß, daß es mich geradezu fasziniert, wie  leicht es Markus wird, zwischen Krankheit und Besessenheit zu unterscheiden: Er erzählt einfach. Und indem er erzählt, wird der Gegensatz klar. Kranke und Behinderte werden auf diese Weise herausgenommen aus dem Getümmel der Dämonen-Arena, werden frei für eine ungehinderte Begegnung mit Jesus. Aber was machen die Ausleger daraus? Manche Auslegungen verwischen die bei Markus sauber gezogene Grenze zwischen Besessenheit und Krankheit fast völlig. Walter Grundmann zum Beispiel [6] unterscheidet zwar zunächst zwischen Exorzismen und Heilungen; dann aber sagt er dennoch von der Krankheit: Sie „erscheint als Wirkung der Macht des Bösen am Menschen, mit der Jesus den Kampf aufnimmt.“ Bei Wilfried Joest [7] werden Krankheit und Besessenheit durch das beide Größen zusammenfassende Wort „Leiden“ ununterscheidbar, wenn er sagt: Jesus „hat im Leiden die Macht des die Menschen knechtenden Feindes Gottes erkannt. Er ergrimmt über diese Macht. Er kämpft gegen das Leiden“. Auf dieser Linie kann dann Reinhard Turre [8] sagen: „Im Leiden begegnet uns ja das Böse, das überwunden werden muß, wenn der Mensch nicht verlorengehen soll.“ – Spüren Sie, wie hier, streng genommen, schon einem lästigen Schnupfen, ohne Zweifel aber jeder Lungenentzündung und jeder Krebserkrankung eine heilsgefährdende Bedeutung zuerkannt wird? Das hieße: Wenn das Leiden (sprich: das Böse!) nicht überwunden wird, geht der Mensch „verloren“. Dagegen kann angeblich der Schöpfer und der Erlöser nichts machen. Biblische Theologie sagt es anders: Dem qualvoll am Kreuz sterbenden Schächer wird das Heil zugesagt: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein, sagt Jesus. Diese Heilszusage hat nicht die Überwindung des Leidens zur Voraussetzung, sondern sie bietet Schmerz und Schrei ein göttliches, ein schöpferisches, ein erlösendes Kontra. – Bei den genannten Autoren (und die Reihe ließe sich beliebig verlängern) bleiben Kranke und Behinderte (im Gegensatz zu Markus) in der Dämonen-Arena: Krankheit und Besessenheit sind angeblich in gleicher Weise Symptome „des“ Bösen, zu dessen Überwindung Jesus in unsere Welt kam.

Das Unglück solcher Nicht-Unterscheidung (von Krankheit und Besessenheit) müssen wir genauer in den Blick nehmen. Denn die Nichtunterscheidung führt notwendig zum Apartheids-Denken. Von den Besessenen wird nämlich dreierlei gesagt: a) Sie sind im Besitz gegengöttlicher Mächte – das kann Gott wirklich nicht wollen; b) es gehört zu Jesu Auftrag, sie aus der Herrschaft der Dämonen zu befreien; c) diese Befreiung, dieser Herrschafts-Wechsel, kann als Weltenwende, als Beginn des neuen Lebens, gefeiert werden. In neutestamentlichen Bildern: der Satan fällt vom Himmel; Jesus bricht in das Haus eines Starken ein, den er dann fesselt. Diese Bilder tauchen im Neuen Testament aber durchgängig nur da auf, wo von Besessenheit bzw. Dämonenaustreibung die Rede ist, niemals aber im Zusammenhang mit Fieber, Lähmung oder Blindheit. – Von Besessenen wird geredet als von Menschen, die durch Jesus noch nicht erlöst wurden; und jeder, der in der Erlösung durch Jesus das Wichtigste für einen Menschen sehen kann, wird sagen: diesen Menschen fehlt also die Hauptsache. Denn sie sind noch nicht, etwa durch die Taufe, unter seine gnädige Herrschaft getreten. Sie gehören noch zur „alten“ Welt, zu deren Überwindung Jesus gekommen ist. – Auch angesehene Neutestamentler beziehen die genannten der-Satan-fällt-vom-Himmel-Stellen aber auf Dämonenaustreibungen und auch auf Krankenheilungen. Und schon ist das Unglück passiert. Denn jetzt ist angeblich auch die Heilung eine Weltenwende, der Anfang des neuen Lebens für diesen Menschen. Schon haben wir wieder das Apartheids-Gefälle, die Kluft zwischen den einen und den anderen: Jetzt sind auch unheilbar Kranke nicht so, wie Gott sie will, sie gehören (trotz ihrer Taufe!) noch zur alten, unerlösten Welt, sie sind weniger erlöst als die Geheilten, als die Gesunden, bei denen die „Weltenwende“ angeblich schon stattgefunden hat.

Aber noch zu einem weiteren Text aus den ersten Markus-Kapiteln, zur Heilung des Gelähmten (Mk 2, 1-12)! Diese bekannte Geschichte dient heute als eine Art Standard-Beleg für die Behauptung: Jesus kämpfte gegen beides: gegen die Sünde (die Gottverlassenheit) und gegen die Krankheit. Tatsächlich sagt Jesus zu dem Gelähmten, der ihm vor die Füße gelegt wurde: Dir sind deine Sünden vergeben. Und nach einer Weile: Steh auf, nimm dein Bett und gehe heim. So scheint geradezu ins Auge zu springen: Innere und äußere Heilung gehören zusammen. Keins von beiden ist, für sich allein genommen, die Hauptsache. Aber beide Hilfen Jesu zusammen ergeben die „Hauptsache“, womit wir im Blick auf alle Nicht-Geheilten doch wieder in der Nähe des leeren Umschlags sind: der ist zwar nicht ganz leer, aber das Blatt ist der Länge nach durchgerissen, und wir haben nur die eine Hälfte, die ohne die andere keinen Sinn ergibt. Tatsächlich behauptet Martin Dibelius: Jesus behebt hier sowohl „die leibliche Gottverlassenheit der Krankheit“ als auch „die sittliche Gottverlassenheit der Sünde“ [9]. Trotz Taufe, trotz Sündenvergebung lebt ein Nichtgeheilter angeblich in der „Gottverlassenheit“, also (zusätzlich noch in einer anderen Weise, als man das von jedem Geheilten auch sagen muß) in der alten, nicht=erlösten Welt, wie wir es eben (mit Markus) im Blick auf die Besessenen sagten.

Gott sei Dank!, Markus erzählt eine total andere Geschichte. Dem Gelähmten sagt Jesus: Dir sind deine Sünden vergeben. Punkt, aus. Damit ist das Hilfehandeln Jesu zugunsten dieses Menschen beendet. Der hat, was ihm unbedingt nötig ist. Als einer, der von vier Männern geschleppt werden muß, darf er sich verstehen als im Frieden Gottes lebend. Er hat jetzt die ganze Hauptsache. Keine Spur davon, daß Jesus gegen die Lähmung gekämft hätte. Gekämpft hat Jesus offenbar, aber an einer anderen Front: Markus erzählt von den knurrenden Theologen: Die Schriftgelehrten denken: der lästert Gott, nur Gott darf Sünden vergeben. Daraufhin greift Jesus noch einmal ein und heilt den Gelähmten; aber was sagt er – und: was sagt er nicht? Jesus sagt nicht: Mit dem Zuspruch der Sündenvergebung habe ich eben ja nur den einen Teil meines Doppelauftrags erledigt, jetzt kommt der zweite Teil. Jesus sagt auch nicht: Diesem Menschen gab ich bisher erst die halbe Hauptsache, er hat natürlich die ganze nötig. Markus erzählt so, als brauche der Gelähmte überhaupt nichts mehr; die Schriftgelehrten haben etwas nötig. Jesus sagt: Damit ihr wißt, daß ich die Vollmacht zur Sündenvergebung habe, lasse ich jetzt diesen Menschen aufstehen. Den Schriftgelehrten, den damaligen Theologen, fehlte die Hauptsache. Sie hatten trotz Gesundheit und Klugheit noch keinen Zugang zu Jesus. Jetzt wird er ihnen eröffnet. Markus läßt offen, ob sie sich zurechthelfen ließen. Sogleich heißt es, daß alle Gott priesen; da nicht gesagt wurde, die Schriftgelehrten hätten sich zuvor aus dem Staub gemacht, könnte man annehmen, sie stimmten in das Gotteslob mit ein. Das läßt sich aber nicht sicher so sagen. Eindeutig ist jedoch: Bei der Heilung dieses Gelähmten ging es, so komisch das klingen mag, um einen Mangel der Schriftgelehrten und nicht um den des Gelähmten.

Noch deutlicher, als Markus es hier tut, kann man kaum sagen, daß die Gesundheit keineswegs die Hauptsache ist. So sehr der Gelähmte sich über seine Heilung gefreut haben mag, und so sehr Nicht-Geheilte verständlicher- und berechtigterweise mit Gott hadern mögen (Jesus hat die Berechtigung der Klage-Psalmen keineswegs bestritten [10]), Markus hat solche Heilungen total herausgenommen aus dem Kampf-Getümmel der Dämonen-Arena. Die Größen „blind oder sehend“, „gelähmt oder nicht“ stehen in Jesu Reich-Gottes-Botschaft auf einem völlig anderen Blatt als die Größen: „Heil oder Unheil“, „Segen oder Fluch“, „Friede Gottes oder Gottverlassenheit“. Immer rätselvoller wird mir, daß es in der theologischen Literatur überhaupt solche Begriffe geben kann wie „Gottverlassenheit der Krankheit“ (s.o.) oder „Krankheitsdämonen“ [11].

Aus alledem ergibt sich: Wir müssen der Gesundheitsideologie den Kampf ansagen. Die These: „Hauptsache gesund!“ ist eine Gotteslästerung. Theologie muß lernen, diese knechtende Behauptung nicht festzuzurren, sondern das befreiende Kontra des Markus selber zu begreifen und für alle verständlich zu entfalten. Nur: Kann sie das? Ist sie dazu in der Lage? Ist Theologie dazu frei genug? Oder ist sie im Bann schlimmer Traditionen, die ihr das Apartheidsdenken geradezu aufzwingen? – Sie merken: Ich leite über zu dem Teil, in dem wir in die Kirchengeschichte blicken wollen.

IV)
Wieder gehe ich von einem Beispiel aus: Etwa im Jahre 900 erzählt der Mönch Notker (ca 840-912) „von einem Bischof, der glaubt, gesündigt zu haben, weil er in der Fastenzeit Fleisch gegessen hat. Um diese Sünde zu büßen, verpflichtet er sich, die Kranken der Stadt zu pflegen, zu baden, zu versorgen. Während er nun dabei ist, einem Kranken den Bart zu scheren, bemerkt er, daß immer, wenn er den Bart auf der einen Seite abgenommen hat, er auf der anderen Seite wieder nachwächst. Das verwirrt ihn zutiefst. Er weiß es nicht zu deuten. Es fällt ihm auch auf, daß der Kranke besonders häßlich und mit vielen Eitergeschwüren bedeckt ist. Und plötzlich bemerkt er, wie ein Auge auf dem Hals des Kranken ihn anstarrt. Er fährt entsetzt zurück. Und in diesem Moment hört er die Stimme: »Dieses Auge hat immer auf dich geblickt, als du gesündigt hast.« Aus dem Kranken spricht der Teufel“; ich verdanke diese Geschichte dem Medizinhistoriker J.N.Neumann [12].

Hier mischt sich einiges ineinander. Reizen würde es mich, der Parallele zur heutigen Bußgeld-Praxis nachzudenken: Auch wer sich im allgemeinen nicht sozial betätigt, kann, wenn er etwas ausgefressen hat, zur Zahlung eines Bußgeldes verurteilt werden, das dann häufig an soziale Einrichtungen geht. So scheint unser Bischof mit Kranken normalerweise nichts „am Hut“ zu haben; aber als Bußübung bleibt ihm nichts anderes übrig. – Aber lassen wir das. Hinweisen möchte ich auf das Gemisch von Zuwendung und „Gefälle“ (s.o.). Das ist doch einiges: Der Bischof rasiert einen häßlichen, eitrigen Kranken; er geht hin zu ihm, scheut vor dem Hautkontakt nicht zurück (es fällt uns nicht leicht, uns Entsprechendes von heutigen Präsides und Bischöfen vorzustellen: stundenweise die Pflege Schwerkranker zu übernehmen). Aber untrennbar mit solcher Zuwendung verbunden ist das Wissen um einen unüberbrückbaren Abstand. Der Bischof läßt sich keineswegs mit seinesgleichen ein; der andere ist weit unter ihm, aus ihm spricht der Teufel, der Mißgebildete wird mit dem Bösen gleichgesetzt.

Diese Geschichte scheint mir typisch zu sein für das mittelalterliche Empfinden. Wir können sie deuten als einen Beleg für das, was man die thomistische Stufenleiter nennt. In der besonders von Thomas von Aquin (ca 1225-1274) geprägten Theologie wird alles, was es gibt, wie auf einer senkrechten Leiter von Werten angeordnet: Ganz oben haben wir das absolute Gute zu sehen, also Gott, ganz unten das schlimmste Verbrechen – sagen wir den Völkermord. Alles, was uns begegnet, ist auf einer bestimmten Sprosse dieser Leiter anzusiedeln. Und es ist völlig klar, daß ein Gesunder, besonders ein gesunder Bischof, eine hörere Sprosse besetzt als ein Kranker, zumal ein besonders häßlicher Kranker. Hier ist, was ich vorhin „Gefälle“ nannte, theologisch sauber geordnet. Und völlig klar: Die Werte-Leiter macht die freundliche Zuwendung keinesfalls unmöglich, aber Zuwendung ist jetzt eine Art „Kondeszendenz“: sie hat die gleiche Richtung wie die Menschwerdung Gottes: Vom himmlischen (oder Himmel-nahen) Oben senkrecht nach unten zu den Verlorenen.

Das thomistische Werte-Denken will ich jetzt nicht weiter vertiefen, weil ich auf eine andere, mit ihm verwandte, Sache ausführlich eingehen möchte. Es gibt, lange Jahre vor Thomas, einen geradezu schaurigen theologischen Gedankengang, der das Denken und Empfinden der folgenden Jahrhunderte (vermutlich bis heute) nachhaltig geprägt hat. Von ihm aus ist zum Beispiel auch jene Geschichte über den pflegenden Bischof zu verstehen; verstehbar wird plötzlich aber auch das, was ich zur heutigen Theologie aufzeigte: die weit verbreitete Nichtunterscheidung zwischen Besessenen und Kranken. – Aber der Reihe nach.

Der eben erwähnte Medizinhistoriker J.N.Neumann geht der Frage nach, woher die behindertenfeindlichen Impulse unserer Gesellschaft stammen, und welche Rolle dabei möglicherweise die Theologie spielte [13]. In diesem Zusammenhang berichtet er über eine Auslegung der Noah-Geschichte durch Augustin. (Ich muß eben einfügen: Vielleicht geht das Schlimme, wovon sogleich die Rede sein wird, noch nicht insgesamt auf Augustin zurück, sondern gestaltete sich erst im Anschluß an Augustin bei seinen Schülern – aber das muß heute am Rande bleiben.) Die Frage entstand: Sind Mißgestaltete bzw. Behinderte eigentlich noch Menschen? Diese Frage wurde von Augustin (354-430) und in der durch ihn geprägten Theologie eindeutig bejaht: Alle behinderten und mißgestalteten Menschen stammen von Adam ab. Sie stammen natürlich auch von Noah ab, dem einzigen, der mit seiner Familie die Sintflut-Katastrophe überlebte. Aber jetzt wird’s schlimm. Noah hatte bekanntlich drei Söhne, von denen er zwei segnete, Sem und Japhet, den dritten aber verfluchte er, den Bösewicht Ham. Und Augustin (bzw. seine Schüler) behaupten nun: die Behinderten stammen von diesem Ham ab, von dem Verfluchten, dem wegen seiner Bosheit Verfluchten. – Wen wundert es noch, wenn dann aus dem häßlichen Kranken, während der Bischof ihn rasiert, plötzlich „der Böse“ spricht? Wen wundert es, daß auf der thomistischen Werte-Leiter der rasierende Bischof relativ weit oben zu stehen kommt, während der häßliche Kranke etliche Stufen weiter unten, in Richtung „Verbrechen“, anzutreffen ist? (Ich behaupte natürlich nicht, daß diese Werte-Leiter auf die Ham-Theorie zurückgeht; ich weise nur hin auf eine verwandte Anordnung und Einteilung der Menschen.)

Nun aber zur heutigen Theologie: Die genannte Ham-Theorie hat Theologie und andere Wissenschaften, Kunst und Literatur während des Mittelalters intensiv geprägt. Sie gehört also, auch wenn wir das nicht mehr wissen, mit zu den Traditionen, die wir immer noch unbewußt mit uns herumschleppen. Und damit erklärt sich einiges: Jene Nichtunterscheidung zwischen Besessenen und Kranken, die zur Apartheidstheologie führt, ist, wie wir sahen, in keiner Weise zu verstehen von dem her, was Markus aufgeschrieben hat. Sie wird aber restlos plausibel von Augustins Ham-Theorie her: Wenn tatsächlich Gesunde und Kranke, Nichtbehinderte und Behinderte einander gegenüberstehen wie die gesegneten Japhet und Sem ihrem verfluchten Bruder Ham gegenüberstanden, dann ist da ein klares Gefälle, dann gehören Kranke und Behinderte (wie Besessene) auf die Seite des Bösen, dann müssen sie noch erlöst werden, dann gehört zu Jesu Auftrag, alles Böse zu bekämpfen, auch der Kampf gegen alle Krankheiten dazu, dann beginnt für einen geheilten Kranken tatsächlich die neue Welt. (Wenn ich diese sehr ernste Sache einmal salopp ausdrücken darf: Offensichtlich haben manche Theologen bei ihrem ehrlichen Bemühen, der Markuspredigt zuzuhören, einen „kleinen Mann im Ohr“, nämlich den sogenannten „heiligen Augustin“ mit seiner zweifellos unheiligen Ham-Theorie.)

Ich bin mir klar darüber, daß meine These, die ich soeben entwickelte, eine schlimme Diagnose bedeutet. Und Sie können mir glauben, daß ich über ihre Wucht selber immer neu erschrecke. Ich fasse sie noch einmal zusammen: In unserer evangelischen Theologie stehen zahlreiche Aussagen über kranke und behinderte Menschen (ebenso über die Bedeutung von Heilung und Gesundheit) in krassem Widerspruch zum Bibeltext, sie stehen jedoch in harmonischer Übereinstimmung mit der völlig unbiblischen Ham-Theorie Augustins. Damit aber wird die in unserer Gesellschaft lebendige Euthanasie-Mentalität theologisch gestützt und untermauert.

Unsere Theologie ist also dringend einer Reformation bedürftig. Und zwar nicht nur, weil sie die üble Ham-Interpretation und damit die Gleichsetzung von Behinderung und Bösem und damit die Nichtunterscheidung von Krankheit und Besessenheit fleißig tradiert, sondern auch darum, weil sie offenbar nicht erkennt, daß Luthers Kreuzestheologie uns befreien könnte sowohl von der thomistischen Stufenleiter als auch von der Ham-Theorie und ihren schlimmen Folgen, so daß wir zurückfinden könnten zur Befreiungstheologie des Markus.

Martin Luther (1483-1546) setzt ein beim Kreuz Jesu, wodurch sich seine Theologie aber keineswegs verfinstert; im Gegenteil: von Golgatha her gewinnt Luther eine unglaubliche Kühnheit. Denn im Kreuz Jesu erkennt er die Umwertung aller Werte: Die schmachvolle Niederlage Jesu ist sein Sieg über Sünde, Tod und Teufel. Von Golgatha aus wird erkennbar: Gelogen hat jeder, der Schmerz und Geschrei dem Teufel, Triumph und sichtbaren Sieg aber Gott zuordnet. Nein, Gott war im Sterben Jesu der Siegreiche, seine Kraft kam in der Schwachheit zur Vollendung (vgl. 2. Kor 12,9), und die vermeintlichen Sieger waren die Verlierer [14].

Daß Luther hier nicht nur von Golgatha redet, sondern von Golgatha aus die gesamte Theologie neu gestaltet, möchte ich durch zwei Zitate andeuten. In einer Predigt [15] sagt Luther: Zu Weihnachten benahm sich Gott wie ein schlechter Maler. Der sagt, er wolle eine Kuh malen, aber wenn das Bild fertig ist, denkt jeder: das sieht aus wie ein Pferd. Also muß der Maler drunterschreiben: „Kuh“; dieses Wort ist gültig, auch wenn das Bild nach etwas anderem aussieht. So kündigt Gott durch seine Propheten den Retter der Welt an, und dann – liegt da ein Wickelkind im stinkigen Stall; Gott „vermalt“ seinen Heiland in ein Krippenkind. Also muß er das Wort drunterschreiben bzw. durch seinen Engel aussprechen lassen: Euch ist heute der Heiland geboren. – Das ist Kreuzestheologie: Dem Anschein zum Trotz dem Wort glauben: Das armselige Kind ist der Gottessohn. Spüren Sie die Nähe zu Markus? Der von vier Männern getragen werden muß, ist im Frieden mit Gott – schon, bevor er zum Laufen kam. Das soll Friede sein?, wird jeder fragen, der seinem Glauben nicht zutraut, den Augenschein „Lüge“ zu nennen. Ja, das ist Friede, könnte jeder sagen, der gelernt hat, in der Niederlage Jesu Gottes Sieg zu glauben.

Das andere Zitat stammt aus Luthers großem Galater-Kommentar: „Gott will unter der Larve“ (unter der Maske, in der Verstellung, im Kostüm, in der Rolle oder Verkleidung) „des Teufels erkannt werden“ [16]. Luther denkt nicht daran, auf Golgatha lustige Lieder zu singen. Wer uns heutzutage weismachen will, die Kreuzestheologie Luthers oder des Neuen Testaments weise masochistische Züge auf, der hat die Kreuzestheologie in geradezu abenteuerlicher Weise mißverstanden. Nein, Schmerz tut weh, Geschrei ist schlimm; bei vielem denkt und empfindet jeder von uns (auch wenn er ‚Martin Luther‘ heißt): hier haben wir’s aber nun wirklich mit dem Teufel zu tun. Und trotzdem – ich nannte es eben schon eine unglaubliche Kühnheit: trotzdem wagt Luther zu sagen (von dem her zu sagen, was er im Kreuz Jesu erkannt hat): das sieht nur aus wie Teufel; auch wenn es zuweilen teuflisch weh tut, kann es dennoch das sein, was Gott uns als Segen zugedacht hat. Das Böse, das, was jeder denkende, fühlende, lebenserfahrene Mensch als das Böse ansieht, kann in Wahrheit das Gute sein. Alles hängt hier am Kreuz. Ohne das Kreuz Jesu wäre Luthers Kühnheit eine unverantwortliche Tollkühnheit. Aber wenn wir auf Golgatha Gottes Sieg glauben dürfen, dann dürfen wir auch glauben, daß der von Vieren Getragene im Frieden Gottes ist; dann dürfen wir glauben, daß der entstellte Kranke Gott genau so nahe ist wie der ihn rasierende Bischof; dann dürfen wir kühn davon ausgehen, daß die schöne thomistische Werteleiter nur ein gut durchdachter Aberglaube ist. Luther legt die senkrechte Werteleiter quer auf die Erde; damit werden die Werte wieder irdische Werte, ohne jede pseudobiblische Überhöhung, ohne jede Aussage über größere oder geringere Nähe zu Gott. Krankheit und Gesundheit sind, von unserem Nervenkostüm, unseren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten aus, krasse Gegensätze; aber in Gottes Haushalt sind sie völlig gleichrangig. Die Gesundheit hat so wenig mit dem Guten, mit Gottes Segnen oder seiner Gnade zu tun wie die Krankheit mit dem Bösen, mit Gottes Verfluchen oder seiner Ungnade zu tun hat.

Das ist das Ende des Gefälles, das Ende der Apartheid. Kreuzestheologie macht solidarisch. Hier stehen Stärkere und Schwächere nebeneinander, auf der gleichen Ebene. Sie werden einander helfen, wenn sie da sind; sie werden einander vermissen, wenn sie nicht da sind; sie leben, wie J.Klevinghaus sagte, „im gleichen Spital“. Die Hauptsache ist für beide, sich dem uns allen gnädigen Vater im Himmel anzuvertrauen. Die Aufgabe ist für beide, sich gegenseitig zu dienen, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der bunten Gnadengaben unseres Gottes (vgl. 1. Petr 4,10).

V)
Angekündigt hatte ich, zum Schluß noch einmal auf unseren Alltag und auch auf politische Fragen zu sprechen zu kommen. Da können jetzt Andeutungen genügen, weil ich meine These bereits genannt habe. Etwas beiläufig sagte ich eben: Durch unsere Abhängigkeit von der Ham-Theorie werde die in unserer Gesellschaft lebendige Euthanasie-Mentalität theologisch gestützt und untermauert.

Denken Sie an die Pränataldiagnostik, die man gewiß ohne Übertreibung eine Treib-Jagd auf geschädigte Embryonen nennen muß. Denken Sie an die Diskussion um Wachkoma-Patienten: soll man deren Ernährung nicht einstellen (vielleicht sind die Organe ja noch für Transplantationen brauchbar)? Denken Sie an die Überlegungen zur aktiven Euthanasie, insgesamt an die sogenannte Singer-Debatte: ist es nicht besser, schwerstbehinderte Säuglinge zu töten? Ausführlich zur Sprache kommen müßte jetzt die Bioethik-Konvention, in der für Europa verbindlich geregelt werden soll etwa, unter welchen Voraussetzungen an Personen, die nicht einwilligen können, fremdnützige Forschung betrieben werden darf (Forschung also, die demjenigen, an dem geforscht wird, nicht helfen kann – aber die Wissenschaft käme vielleicht weiter).

Bei diesen Fragen sind die Kirchen merkwürdig zurückhaltend; als der Buß-und-Bettag abgeschafft wurde (nein, stimmt nicht; kein einziger Gottesdienst wurde verboten; der Tag wurde nur abgeschafft als staatlich anerkannter Feiertag), da gingen die Wogen wesentlich höher. Warum sind die Kirchen da, wo es um die Lebensrechte der Schwächsten geht, weniger laut? Könnte die Antwort bei der Ham-Theorie liegen? Eine Kirche, deren Theologie jede „stinknormale“ Behinderung in die Nähe „des Bösen“ rückt, eine Theologie, die zwischen Krankheit und Besessenheit zu unterscheiden verlernt hat – müßte sie sich nicht sogar freuen, wenn heutige Wissenschaft der Utopie nachjagt, Krankheiten auszumerzen, ein „Europa der Gesundheit“ (so in einem Straßburger Papier von 1988 [17]) zu schaffen? Um es zuzuspitzen: Müßte eine Theologie, die Jesus ständig gegen Krankheiten kämpfen sieht, die Bemühungen der Bioethiker nicht geradezu als Jesus-Nachfolge zustimmend interpretieren?

Vorhin ließ ich die Frage offen, was unter Besessenheit zu verstehen sei. Kommt jetzt vielleicht doch eine Antwort in den Blick? Ich bin davon überzeugt, daß Blindheit, Fieber und Lähmung nicht auf gottwidrige Kräfte zurückzuführen sind. Ich halte es aber durchaus für möglich, daß diese Behauptung, Krankheiten seien auf gottfeindliche Mächte zurückzuführen, daß dieser Satz wirklich dämonischen Ursprungs ist. Denn dieser Satz stört die Sache Jesu erheblich, seine befreiende Zusage an unheilbar Kranke, an behinderte Menschen und ihre Angehörigen, im Frieden Gottes zu sein, die „ganze Hauptsache“ zu haben. Könnte es also sein, daß es bei den „Besessenen“ nicht um Menschen in irgendwelchen Anstalten geht, sondern zum Beispiel um Menschen in theologischen Studierstuben, daß es also um uns geht? Könnten Theologie und Kirche also teilweise besessen sein, gebunden, gefangen in diesem total unbiblischen Hirngespinst, Krankheiten seien ein Teil „des“ Bösen?

Eingangs sagte ich: Reformation ist ein stetiger Prozeß. Wie dieser Prozeß heute aussehen müßte, können Gesellschaft, Kirche und Theologie möglicherweise von behinderten Menschen lernen. Schwer behinderte Menschen müssen eine trügerische Hoffnung bewußt aufgeben, die Hoffnung nämlich, irgendwann im Laufe dieses Lebens die Behinderung los zu sein. Solange der Rollstuhlfahrer hofft, irgendwann wieder gehen zu können, ist jeder Tag ein Negativ-Tag: ich konnte heute noch immer nicht gehen! Ich muß diese Hoffnung aufgeben, nicht aus Resignation, im Gegenteil: um Mut entwickeln zu können; nur so kann der einzelne Tag im Rollstuhl ein sinnvoller, ein normaler, ein guter Tag werden, der sich tatkräftig gestalten läßt. – Das gleiche gilt für die Gesellschaft. Solange wir von einer Welt ohne Krankheit träumen, ist jeder behinderte Mensch eine Negativ-Existenz, unnormal, regelwidrig; die Begegnung mit ihm beweist uns, daß wir’s noch immer nicht geschafft haben! Er ist eine Art Fossil aus einer Zeit, die wir doch endlich überwinden wollen; er stört unseren angenehmen Traum. Wir müssen diese Utopie unbedingt drangeben, nicht aus Resignation, im Gegenteil: Nur so ist es uns möglich, behinderten Menschen offen (ohne in irgendeiner Spielart an „das Böse“ zu denken) als normalen, uns ebenbürtigen Mitmenschen zu begegnen, in ihnen Menschen zu sehen, die wir vermissen werden, wenn sie nicht da sind. – Woher aber soll unsere Gesellschaft die Kraft gewinnen, sich von der liebgewordenen Utopie zu verabschieden, wenn sogar Kirche und Theologie den kindischen Traum von einer krankheitsfreien Welt nicht etwa stören, sondern ihn noch unterstützen, indem sie in Krankheit und Behinderung „das Böse“ sehen, das es im Auftrag Gottes zu bekämpfen gilt? So zeigt sich: Es wäre von enormer sozial-politischer Bedeutung, wenn es bei uns Christen eine ehrliche Reformation gäbe, eine klare Rückkehr zur befreienden Botschaft der Bibel und zur Schwung gebenden Kreuzestheologie Martin Luthers.


Anmerkungen:

1) Eberhard Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als Sacramentum et Exemplum, in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD, 86/87, S. 6ff, (Zitat: S. 20).- Vgl. dazu, aus katholischer Sicht: Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, (Herder) Freiburg, 1992, S. 15: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen.“

2) Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow (DDR), April 1978; ursprünglich: epd-Dokumentation Nr. 36a/78; dann mehrfach, z.B. in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD, 78/79, S. 227ff (Zitat: S. 228).

3) Ernst Wolf, Ordnung und Freiheit. Zur politischen Ethik des Christen, S. 39f.

4) Johannes Klevinghaus, in: Ernst Brinkmann, Hg., Heil und Heilung, Gedenkbuch für Johannes Klevinghaus, 1970, S. 61 f. (Hervorhebung von mir, U.B.).

5) Vgl. zu dieser These, im Blick auf andere Heilungsgeschichten, zum Beispiel: Ulrich Bach, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991, darin: S. 40-118 / „Gesunde“ und „Behinderte“, Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, (Kaiser) Gütersloh 1994 (KT 134), darin: S. 100-121 / Gottes Heil und unser europäisches Apartheids-Denken, in: Reiner Degenhardt (hg. im Auftrag des DEKT), Geheilt durch Vertrauen, Bibelarbeiten zu Markus 9,14-29, (Kaiser) München 1992, S. 141-157.

6) Walter Grundmann, Das Evangelium nach Markus, in: Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, EVA Berlin, 9. Aufl. 1984, S. 163f.

7) Wilfried Joest, Die Allmacht Gottes und das Leiden der Menschen, in: ders., Gott will zum Menschen kommen. Zum Auftrag der Theologie im Horizont gegenwärtiger Fragen, Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, S. 150.

8) Reinhard Turre, Diakonik. Grundlegung und Gestaltung der Diakonie, Neukirchen 1991, S. 48.

9) Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 5. Aufl., Tübingen 1966, S. 63.

10) vgl. etwa: Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, Hg.: Theodor Strohm, Heidelberg; Band 2: G.K.Schäfer, Th.Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen, Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, 1990, S. 67-93: darin, S. 72: „Der eine Gott ist für alles verantwortlich und zuständig. Weil alles an ihm hängt, gilt ihm Klage und Anklage. Klagen sind Gebete.“

11) zum Beispiel: W. Grundmann, a.a.O.,  S. 162.

12) Josef N. Neumann, „Böse und behindert“: Zur Geschichte eines Vorurteils, in: Junge Kirche, 55. Jg., 1994, S. 215-217 (Zitat: S. 217).

13) ders., Die Mißgestalt des Menschen – ihre Deutung im Weltbild von Antike und Frühmittelalter, in: Sudhoffs Archiv, Band 76, Heft 2 (1992) (Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart), S. 214-231.

14) zum folgenden vgl.: U. Bach, Kreuzestheologie und Behindertenhilfe, in: Pastoraltheologie, 73. Jg., 1984, S. 211-224, bes.: S. 221-224; auch in: Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein. Auf dem Wege zu einer diakonischen Kirche, Neukirchen 1986, S. 98-116 (113ff).

15) D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. von E. Mülhaupt, Göttingen, Band 1, 3.Aufl. 1957, S. 34f.

16) D. Martin Luthers Epistel-Auslegung, 4. Band: Der Galaterbrief (Hg.: H. Kleinknecht), Göttingen 1980, S. 302.

17) Ulrich Bleidick, Die Behinderung im Menschenbild und hinderliche Menschenbilder in der Erziehung von Behinderten, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 41. Jg., 1990 (Heft 8), S. 514-534, Zitat: S. 516.


Quelle: Ulrich Bach, Hauptsache gesund? Der Glaube an die Machbarkeit einer von Krankheit freien Welt, in: Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V. (Hg.), Der Rede wert, Beiträge aus der Arbeit der Diakonie, Stuttgart, 1997

Wir Behinderten und die christliche Gemeinde

Wir Behinderten und die christliche Gemeinde –
womit dürfen – womit müssen wir rechnen?

Die übliche Frage-Richtung kehre ich einmal um. Heute frage ich nicht als Gemeindeglied, als Pastor in unserer Kirche, nach den behinderten Menschen: Was sollen wir für sie tun, wie können wir sie besser verstehen, auf welche Weise könnte ihre Einbeziehung in unser Gemeindeleben intensiviert werden? So berechtigt diese Fragen sind, heute will ich meinen eigenen Rollstuhl, auf den ich seit Jahrzehnten angewiesen bin, bewußt zum Ausgangspunkt meines Denkens wählen: Wie soll unsereiner mit der Kirche klarkommen?, was für eine Kirche ist das eigentlich?, was kommt auf uns zu, wenn Kirche uns tatsächlich intensiver einbezieht: wird uns dann (ich überspitze bewußt) die Luft abgeschnürt, oder erleben wir, daß wir endlich frei durchatmen können? – Welche Erfahrungen mit unserer Kirche mögen aus den provozierenden Worten sprechen, die mir ein Rollstuhlfahrer schrieb; er bete seit einiger Zeit: “Gott, schütze die Spastiker. die Muskelschwundler, die Verwirrten … Gott, schütze sie alle – vor den Kirchen”?

Jedenfalls sollten wir damit rechnen: Die Kirche scheint kaum einen Zweifel daran zu kennen, daß es uns um so besser geht, je fleißiger die kirchlichen Aktivitäten uns gegenüber sind. Schon die Frage allein, ob uns auf solche Weise nicht vielleicht die Luft enger werden kann, wirkt wie eine grobe Ungezogenheit. Das darf mich aber nicht hindern, die Frage zu stellen und auch schon eine erste Antwort zu versuchen: Kirche, besonders Caritas und Diakonie, sieht sich oft so sehr in der Rolle der Aktivisten, daß mindestens die Gefahr besteht: Behinderte Menschen geraten dadurch verstärkt in die Rolle der (wenn auch gut versorgten) Objekte. Darum klingt es für uns wie eine Befreiung, fast wie eine kopernikanische Wende, wenn wir einen (nichtbehinderten) Theologen sagen hören: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen“ (Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, 1992, S. 15). Das heißt: Wer über Hilfe reflektiert und sie organisiert, darf Hilfsfähige und Hilfsbedürftige nicht auf ihre jeweiligen Rollen fixieren; es muß Raum bleiben für wechselseitiges Helfen. – Um nicht grob mißverstanden zu werden: Wenn ich mich hier kritisch zum Helfen äußere, dann kritisiere ich weder Angehörige noch Mitarbeiter im Pflegedienst. Es geht in diesem Text nicht sofort um die Frage: Wie begegnen Helfende den auf Hilfe Angewiesenen?, sondern um die andere: Wie wird in Kirche und Gesellschaft solches Helfen gesehen und organisiert? Als Beispiel: Viele Mitarbeiter beklagen, daß bei knapper werdenden Finanzen und recht kurzer Personaldecke zu wenig Zeit bleibt zur personalen Begegnung. Aber: Finanz- und Personal-Fragen werden nicht von den Pflegekräften entschieden. Diesen jedoch einen Vorwurf zu machen, wenn ihr Tun dann zuweilen fast nur noch ein Hantieren sein kann, wäre geradezu zynisch.

Was eben zur Sprache kam (daß wir nämlich, wenn wir den Helfenden vorrangig als Akteur und den Schwächeren als Nutznießer sehen, den Hilfsbedürftigen dadurch, gewiß gegen unsere Absicht, in der Objekt-Rolle festhalten), das ist nur ein Teil-Thema: Auf mannigfache Weise wird (im Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten) in unserer Gesellschaft unterschieden zwischen den einen und den anderen, zwischen den Normalen und den übrigen, zwischen den Regel- und den Ausnahme-Existenzen. Seit 1989 wird wieder offen über „Euthanasie“ diskutiert. Seit Mai 1993 liegt ein Text des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 vor, in dem ein Abbruch im allgemeinen als rechtswidrig gilt, im Falle einer vorgeburtlichen Schädigung des Kindes ein Abbruch aber als nicht rechtswidrig bezeichnet wird – belastetes Leben genießt weniger Rechtsschutz! – Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß ich einen schweren Vorwurf erhebe, wenn ich nun behaupte: Die Kirche ging hier bisher nicht eindeutig, mindestens zu kleinlaut, auf Gegenkurs; auch sie kommt nicht los von der genannten Unterscheidung. Dabei richtet sich mein Vorwurf weniger gegen die Tatsache dieser Unterscheidung (total beseitigen können wir die vielleicht nie; s.u.) als dagegen, daß wir solches Unterscheiden kaum wahrnehmen, daß wir oft so tun, als gäbe es das nicht – bei uns nicht, höchstens bei anderen: Unser Nein zur südafrikanischen Apartheids-Theologie ist einhellig. Aber gibt es Vergleichbares nicht auch bei uns? Wir nennen zwar nicht die Weißen die Regel-Existenzen, womit Schwarze zu Ausnahmen würden; aber wir sind geneigt, den Gesunden (den Nichtbehinderten, den zur Hilfe Fähigen) als den eigentlichen Menschen zu sehen, wodurch der stark auf Hilfe Angewiesene ins Abseits gerät.

Es führt zu nichts, diese Tatbestände anderen besserwisserisch „um die Ohren zu schlagen“. Viel sinnvoller ist es, etwa Gemeindekreise mit einer Art kreativem Spiel zum Nachdenken zu bringen, indem man ‚harmlose‘ Sätze nennt (nennen läßt) und sie dann so ergänzt (ergänzen läßt), daß der schwerbehinderte Mensch als völlig gleichberechtigter Mensch ins Spiel kommt (spüren wir da Widerstände?). Drei Beispiele: a) Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild. Und nun: Gott schuf den Kerngesunden und auch den Schwerstbehinderten zu seinem Ebenbild. b) Wir sollen uns gegenseitig helfen. Und jetzt: Den Behinderten würde viel fehlen, wenn Nichtbehinderte nicht bei ihnen wären, und den Nichtbehinderten würde viel fehlen, wenn Behinderte nicht bei ihnen wären. c) Gott will, daß wir dem Nächsten Gutes tun. Und dann: Mit mir kann Gott etwas anfangen, wenn er einem Schwerstbehinderten Gutes tun will, und mit dem Schwerstbehinderten kann Gott etwas anfangen, wenn er mir etwas Gutes tun will. – Von mir muß ich sagen: Was in den drei Ergänzungen jeweils vor dem „und“ steht, macht mir weniger Schwierigkeiten als das, was dann folgt. Aus vielen Gesprächen weiß ich, daß ich da kein Einzelfall bin. Daher mein Vorschlag: Wir sollten endlich die Risse und Trennungen im Reden vom Menschen zur Kenntnis nehmen, die es in uns allen gibt. – Die Bibel kennt kein gespaltenes Reden vom Menschen (je nachdem, ob einer stark oder schwach, gesund oder krank … ist); solche Spaltungen lassen sich aber in unserer Theologie an etlichen Stellen nachweisen (zu dieser Doppelthese ausführlich: U.Bach, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, 1991).

Wie es mit jener Unterscheidung (die einen / die anderen) in der Kirche bestellt ist, wird sichtbar auch durch die Frage: Ist die Kirche mit ihrer Theologie schon ohne uns (ohne den Beitrag Behinderter) fertig, oder kann sie erst dann fertig werden, wenn wir als gleichberechtigte Subjekte zur Beratung mit herangezogen wurden? Wird zum Beispiel ohne uns entschieden, wie theologisch über Gesundheit und Krankheit zu reden ist (in solchem Falle müßte nur noch gefragt werden, wie man die Ergebnisse behinderten Menschen „vermitteln“ könne), oder ist allen Beteiligten klar: Wie man das Thema „Kirche und Bischofsamt“ nicht ohne Bischöfe, „Kirche und Frauen“ nicht ohne Frauen diskutieren und entscheiden kann, so selbstverständlich auch nicht die Thematik „Kirche und Behinderte“ ohne die gleichberechtigte Beteiligung behinderter Menschen?

Aber weiter: Wenn ein behinderter Mensch nicht zu einem Sonder-Wesen, wenn die Frage der Behinderung nicht zu einer exotischen Frage werden soll, dann dürfen behinderte Menschen nicht nur zur Frage „Kirche und Behinderte“ herangezogen, dann müssen sie auch gebeten werden, aus ihrer Situation heraus mitzuhelfen, wenn über „Gott“ oder den „Sinn des Lebens“, über „Gemeinde“ und anderes nachgedacht wird.

Daß schwer behinderte Menschen tatsächlich eine unverwechselbare Hilfe bedeuten können, wenn es darum geht, die biblische Botschaft in ihrer Abzielung auf unser praktisches Leben zu begreifen, das erfahre ich seit etwa 20 Jahren in einem Bibelkreis, zu dem sich in der Evangelischen Stiftung Volmarstein wöchentlich einige schwerbehinderte und wenige nichtbehinderte Menschen zusammenfinden. Ich nenne nur ein paar Sätze, die ich in den vergangenen Jahren notierte. – Zum Thema: „Wie reden wir von Gott?“, fand ich den Satz einer stark spastisch gelähmten Frau: „Jesus ist ein unbequemer Freund“. Kann man Gottes Liebe und gleichzeitig seine Unbegreiflichkeit knapper benennen als so? – Bittere Erfahrungen mit Gott, verbunden mit einem unbeirrbaren Vertrauen zu ihm, zeigt der folgende Satz (Thema war: ‚Wie kann Gott das zulassen?‘): „Wir bitten um die Kraft, an Gott festzuhalten, wie die Mutter eines Mörders sagt: er ist trotz allem mein Sohn.“ – Solches „trotz allem“ muß sich allerdings oft mühsam durchsetzen gegen einen Naiv-Glauben, der von Gott rasche Behebung aller Schwierigkeiten erwartet: „Was antworten wir, wenn jemand uns fragt: du willst ein Christ sein und bist schon drei Wochen depressiv?“ – Wir überlegten, was gemeint sein mag mit der Bitte: ‚Gott, segne uns‘? Eine mehrfach behinderte Teilnehmerin versuchte es so: „alles, was wir tun, soll freundlich angeguckt sein“. Und ich warne davor, in diesem Satz eine Notlösung für Menschen zu hören, bei denen von Gütern und Erfolgen nicht viel zu erzählen ist. Nein, diese Antwort ist für uns alle der biblischen Botschaft näher als unsere naive Hoffnung, Gottes Segnen möge darin sich äußern, daß er uns Güter, Ansehen und Gesundheit zukommen läßt. – Wichtig war uns manches, was Frau N. beisteuerte, die kürzlich mit 91 Jahren gestorben ist: „Die Kunst des Lebens ist Aushalten“ (und nicht: seinem Leben ein Ende machen). „Die Jünger waren im Glauben auch nicht immer stark. … Es kommen immer wieder Wankel-Stunden“. Zur Gefangennahme Jesu war ihr staunender Kommentar: „Er nimmt Gott wichtiger als sich selbst“. Bei ihr schienen Glaube und Alltag wirklich nicht zweierlei zu sein: „Als ich gestern hinfiel und nicht hochkam, dachte ich: Wo ist jetzt Gott?“ Unvergeßlich ist mir, wie sie zuversichtlich und treffsicher reagierte, als eine nichtbehinderte Teilnehmerin nach mehrwöchiger Abwesenheit gesagt hatte, sie habe uns „richtig vermißt“: „Ist viel wert. Ist wenigstens einer da, der uns vermißt. Ist doch nicht so schnell jemand, der uns vermißt.“ Frau N. wußte also, daß sie wertvoll war, daß ihren nichtbehinderten Mitmenschen ohne sie und ihre Nachbarinnen Wichtiges fehlen würde. – Eine Diakonische Helferin, die für einige Wochen zum Kreis gehört hatte, sagte uns beim Abschied, sie habe hier gelernt: „Glaube ist keine Traumtänzerei.“ Zwei andere nichtbehinderte Teilnehmer erlebten den Kreis „wie eine Oase“. Wir in unserer Runde spüren gelegentlich, wie wir miteinander „Luft zum Durchatmen“  (s.o.) geschenkt bekommen. – ‚Womit müssen wir rechnen?‘ Müssen sich schwerbehinderte Menschen wirklich darauf einstellen, in der christlichen Gemeinde ständig nur unter dem Aspekt „hilfsbedürftig“ wahrgenommen zu werden?

Inzwischen habe ich wohl meine Rolle gewechselt; ich fragte wieder stärker als Theologe in unserer Kirche; diese Rolle möchte ich noch ein bißchen beibehalten.

Klar muß mir sein: Wenn wir theologisch nach der Kirche fragen, ist das Neue Testament der Maßstab. Und ohne Zweifel wird dort so von der Kirche geredet, daß darin jeder noch so schwer Behinderte Heimat finden könnte: Alle sind gleichberechtigte Glieder an dem einen „Leib Christi“ (1Kor 12); wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit (Vers 26); Unbegabte gibt es gar nicht, allenfalls Menschen, deren Begabungen von den übrigen nicht anerkannt werden (aber dann liegt das Manko nicht bei den angeblich Unbegabten, sondern bei den schlechten „Haushaltern der mancherlei Gaben“, vgl. 1Petr 4,10); so wird Kirche eine Gemeinschaft, in der jeder geben und jeder nehmen darf, ohne alles Oben und Unten.

Klar muß aber auch das andere sein: Diese Kirche hat es seit den Zeiten der Apostel noch nie gegeben; die real existierende Kirche sieht anders aus. Darum kann es zur Resignation führen, wenn ich fordere, wir müßten endlich verwirklichen, was im Neuen Testament geschrieben steht. Kirche in dieser Welt setzt sich nun einmal zusammen aus sündigen Menschen. Und das heißt (wobei ich offenlasse, wie groß dabei der Anteil von „Schicksal“ und der Anteil von „Schuld“ ist): Wir sind Sieger-Typen, wir wollen besser sein als andere; sogar derjenige, der ständig den „unteren Weg“ geht, ist nicht gefeit dagegen, es wie einen Triumph zu erleben, daß er wenigstens darin besser ist als viele andere. Zudem: Wir suchen (und brauchen offenbar) Nest-Wärme bei Gleichen (oder Vergleichbaren), womit die Tendenz gegeben ist, andere auszugrenzen. – Es geht mir nicht darum, uns „madig zu machen“, sondern darum, schlicht und ehrlich zur Kenntnis zu nehmen, wer wir sind. Ein Nichtbehinderter, der sich zutraut, auch bei einer plötzlichen, mit Hautkontakt verbundenen Begegnung mit einem ihm unbekannten schwerstbehinderten Menschen keinerlei Schwierigkeiten zu empfinden, der weiß noch recht wenig über sich selbst. Mir sagte ein Diakon, der bei behinderten Erwachsenen gearbeitet hatte: „Drei Jahre Pfleger, dann wissen Sie, wer Sie sind.“ Er hatte also, indem er behinderte Menschen kennenlernte, sehr aufmerksam sich selber kennen gelernt. Die genannten Schwierigkeiten lassen sich nicht einfach weg=wünschen und auch nicht weg=glauben; sie gehören zu uns. Wir können lernen, mit ihnen umzugehen; wir können sie aber nie völlig beseitigen – vielleicht sollten wir das nicht einmal versuchen.

Ich will weder mich und meine Umgebung madig machen, als negatives Gegenbild zu Gottes Vorhaben verurteilen müssen; noch will ich mich und meine Umgebung zurechtlügen als halbwegs realisiertes „himmlisches Jerusalem“. Seit Jahrzehnten erlebe ich bei mir und bei meinen Mitchristen beides: „danke“ und „ich krieg die Wut“; „das konnte ich“ und „hier bin ich gescheitert“; Stärke und Armseligkeit; Gottes Reichtum und menschliches Versagen; „Gott wohnt bei uns“ und „Jammertal“; „Schatz“ und „irdenes Gefäß“; Gemeinde als „Leib Christi“ und Gemeinde, von der man weglaufen möchte. – Und war es anders, als Jesus mit seinen Jüngern die Kirche in den Blick nahm (Mt 28,20ff)? Elf Jünger waren es gerade noch; und „etliche“ von ihnen zweifelten; es können nicht viele gewesen sein, die ohne Zweifel waren. Aber dieses unstabile Häufchen beauftragt Jesus mit der Weltmission! Wir sind nicht besser als Petrus und Johannes und deren Kollegen. Offenbar kann vor dem Jüngsten Tag Gemeinde immer nur dieses Gemisch sein von Ja und Nein, von Glaube und Zweifel, von Gehalten-Sein und Untergang, von Liebe und Schuld, von Teilen und Raffen, von Helfen und Sich-Behaupten-Wollen, von Für-Sorge und Ich-Sucht. – Sollen wir also doch besser weglaufen? Wenn wir das nicht tun, dann nicht deshalb, weil morgen Kirche „richtige“ Kirche sein wird, sondern darum, weil der Herr der Kirche seinen Auftrag an die Unfähigen (an uns also) immer noch nicht leidgeworden ist. Weil Gott auf krummen Linien gerade schreiben kann (so ein älterer Buchtitel), darum dürfen wir „krumme Linien“ sein – „Engel“ ist nicht nötig.

Hätte ich mir meine kritischen Anfragen also schenken können? Die klangen dramatisch, aber jetzt wird offenbar Entwarnung geblasen. Keineswegs! Beides (die herbe Kritik und die scheinbare Entwarnung) war nötig, wenn wir nicht entweder in Resignation oder in Lüge verfallen wollen. Beides ist nötig, damit – endlich! – klar werden kann, wie „normal“ behinderte Menschen sind. Sie müssen relativ häufig sagen: das kann ich nicht. Bei ihnen wird rasch sichtbar: dieses und jenes klappt nicht. Und gerade darin sind sie nicht anders als „wir“; gerade darin sind sie wie wir. Wir können unsere Sieger-Mentalität und andere Gegebenheiten nicht abschaffen und nicht wegbeten; bei uns klappt die Liebe nicht, ohne daß sich Schuld darein mischt, die Für-Sorge nicht, ohne daß sich die Ich-Sucht bemerkbar macht.

Also doch Entwarnung? Also doch Beschwichtigen jeder Kritik, vielleicht  mit Brecht’s: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“? O nein, es geht um etwas völlig anderes; darum nämlich, daß wir (a) die selbstgewählten Utopien aufgeben, die wir weder verwirklichen sollen noch können; und gleichzeitig: daß wir (b) uns mutig an die Aufgaben begeben, die uns aufgetragen sind, und die wir uns gegenseitig zutrauen sollten.

(Zu a:) Es ist ein Hirngespinst zu sagen: Wenn wir uns anstrengen, können wir die Gemeinde der Sündlosen, die Kirche der Schwestern und Brüder werden, bei denen es keinerlei Hick-Hack gibt. Paulus war Realist: Er wußte, daß er’s nicht „erreichen“ kann; „ich jage ihm aber nach“ (Phil 3,12). Kennzeichen der Gemeinde ist es nicht, daß sie dem großen Ziel schon recht nahe gekommen ist, sondern: daß sie unterwegs ist, bewußt auf dem Wege ist. Der Weg, das Wandern, ist das Kennzeichen des Gottesvolkes. Also nicht: Drangeben des Zieles, sondern Zugeben unserer Unfertigkeit: Wir können nur stolpernd (und mutig!) unterwegs sein.

(Zu b:) Solches Zugeben überfordert uns nicht. Und hierbei könnten gerade behinderte Menschen Lehrer der Kirche werden. Sie müssen schon immer trainieren zu sagen, was sie nicht können. Für den Einarmigen ist es kein Makel, wenn er darum bittet, ihm das Fleisch klein zu schneiden. Wer nicht lesen kann, muß sich nicht schämen, wenn er auf dem Bahnhof jemanden bittet, für ihn auf der Abfahrtstafel nachzuschauen, wo sein Zug abfährt. So etwas kann gelernt werden, etwa auch dieses: Zu sagen, daß bei der Begegnung mit Behinderten einen oft das große Mitleid überfällt; zu sagen, daß man sich als Nichtbehinderter oft wichtiger fühlt als das behinderte Kind dort drüben. Und auch die relativ leicht Behinderten müssen das lernen: Zu sagen, daß man sich als Rollstuhlfahrer zuweilen besser vorkommt als der Schwermehrfachbehinderte.

Ein Schulkind im dritten Schuljahr, das immer nur davon träumt, schon morgen Abitur machen zu können, gefährdet damit die Möglichkeit, das Abitur in zehn Jahren zu schaffen. Eine Kirche, die immer nur davon redet, in ihren diakonischen Aktivitäten noch perfekter werden zu müssen, drängt damit die Schwächeren (diejenigen, deren Stärke nicht so sehr in Aktivitäten zu suchen ist) deutlicher ins Abseits; das heißt, sie gefährdet die Möglichkeit, auf dem Wege einer diakonischen Kirche weiterzukommen.

Vor mehr als 25 Jahren umschrieb Johannes Klevinghaus (Leiter einer großen Einrichtung für geistig Behinderte) den „Platz“, der den in der Diakonie Tätigen durch die biblische Botschaft „angewiesen“ ist, so: „Da sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“ (Heil und Heilung. Gedenkbuch für J.Klevinghaus, hg. von E. Brinkmann, 1970, S. 62).

Womit dürfen – womit müssen wir rechnen? Dürfen wir mit einer Kirche rechnen, die den Mut findet, das „Spital“ zu sein (vgl. J.Klevinghaus), in dem wir miteinander die Erfahrung machen wollen (vgl. R.Zerfaß): Helfen können wir nur denen, von denen wir auch Hilfe für uns erwarten?

Quelle: Ulrich Bach, Wir Behinderten und die christliche Gemeinde, Womit dürfen, womit müssen wir rechnen?, in: Praktische Arbeitshilfe zur Woche für das Leben 1994, unBehindert miteinander leben (Hg.: Deutsche Bischofskonferenz, Bonn; Rat der EKD, Hannover; ZdK, Bonn; Redaktion: Felix Rathofer, Bonn), 1994, S. 11-19