Wie predige ich Heilungsgeschichten?

Ulrich Bach
Wie predige ich Heilungsgeschichten?
Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte

Vorbemerkung:

Seitdem ich nach dem dritten Theologie-Semester an meinen Rollstuhl kam, habe ich Theologie und Predigt oft als ermutigende und einladende Hilfe erfahren, oft aber auch als entmutigend und diskriminierend. Immer deutlicher wurde mir, daß dieses Zweite, also die störende, uns behinderte Menschen von der Gesamtgemeinde abspaltende, uns in die Objektrolle drängende Funktion von Theologie, stark herkommt von einer bestimmten Auslegungstradition der neutestamentlichen Heilungsgeschichten. Darum habe ich mich näher mit diesen Texten befaßt und dabei erkannt, daß die Evangelisten sehr anders über Behinderung und Heilung reden, als es in unserer theologischen Literatur üblicherweise dargestellt wird. Nun ist von niemandem, der eine Predigt anzufertigen hat, zu erwarten, daß er dazu mehrere längere Aufsätze studiert. Darum möchte ich ein paar von ihnen am Ende der vorliegenden Arbeit zwar nennen, im folgenden aber den Versuch machen, die wesentlichen Punkte zusammenzustellen und zwar so knapp, daß sie auch da praktisch von Nutzen sein können, wo nur relativ wenig Zeit zur Verfügung steht. – Bei der Fülle des Stoffes konnte ich die beiden Ziele „knapp“ und „praktisch“ miteinander nur verbinden, indem ich mich in der Text-Gestaltung der Form einer Gebrauchsanweisung näherte; das wird beim Lesen hoffentlich nicht allzusehr stören.
 

Entwurf eines Korrekturprogramms:

Wenn Sie eine Predigt, eine Auslegung oder Andacht geschrieben haben, nehmen Sie dieses Blatt zur Hand und gehen mit ihm Ihren Text noch einmal durch. Falls Ihnen eine Aufforderung zum Korrigieren Ihres Textes nicht auf Anhieb einleuchtet, lesen Sie bitte im nachfolgenden Text die Abschnitte mit den im Anschluß an die Fragen angegebenen Ziffern.

  • Habe ich als meine Aufgabe erkannt, (wie die Evangelisten) über Jesu Heilungen zu predigen angesichts der Tatsache, daß es in unseren Gemeinden (wie schon in denen der Evangelisten) Menschen gibt, die durch Jesus körperlich nicht geheilt werden? Oder bin ich dieser Aufgabe ausgewichen, indem ich die Krankheit als Bild für etwas „eigentlich“ Gemeintes auffaßte (uns allen fehlt oft „der Durchblick“; jeder fühlt sich zuweilen „wie gelähmt“)?
    (Gegebenenfalls ändern!) (4 / 9)
     
  • Habe ich Krankheiten und Behinderungen einen Teil „des Bösen“ genannt? Habe ich sie auf gottfeindliche Mächte (auf Dämonen) zurückgeführt?
    (Wenn ja – löschen!) (2 / 3 / 6 / 7)
     
  • Habe ich im Zusammenhang mit konkreten Krankheiten und Behinderungen Jesus als Arzt bezeichnet?
    (Wenn ja – löschen!) (8, 2.Hälfte)
     
  • Habe ich – etwa mit dem Slogan „Heil und Heilung“ – die Gesundheit des Menschen einen Teil des ihm zugedachten Heils genannt?
    (Wenn ja – löschen!) (vgl. 4)
     
  • Haben Kranke und Behinderte, sowie Menschen, die sich vor Krankheit und Behinderung fürchten, von mir die befreiende Froh-Botschaft des ersten Gebotes zu hören bekommen?
    (Wenn nein – nachtragen!) (1 / 5 / 10)
     
  • Haben Kranke und Behinderte den Satz: „Gott will, daß dieses Leben dein Leben ist,“ als repressives Gesetz hören müssen (der Allmächtige hat das so angeordnet; du hast kein Recht zur Klage; sei dankbar dafür, daß es dir nicht noch schlechter geht), oder haben sie ihn als subversives Evangelium hören können (wage in deiner belastenden Situation den aufrechten Gang; denn Gott kann und will mit dir etwas anfangen, wie mit jedem Gesunden auch; wer dir sagt, du seiest weniger, der hat gelogen)?
    (Gegebenenfalls ändern!) (1 / 4)
     
  • Verpflichtet meine Predigt Nichtbehinderte und Gesunde zu dem, was wir tun sollen und tun können (Kranke zu Jesus bringen; Behinderte tragen, Mk 2,3; Unterprivilegierte gerade dann einladen, wenn sie sich nicht revanchieren können, Luk 14,12-14), oder ergeht meine Predigt sich in hochtrabenden Zielen, die wir weder erreichen können noch sollen (unheilbar Kranke und Behinderte heilen)? Rief ich auf zu versuchter Nähe und Solidarität, ohne solches Bemühen in „Heilen“ umzulügen?
    (Gegebenenfalls ändern!) (5 / 9)
     
  • Habe ich Menschen davor gewarnt, die Gesundheit als unabdingbaren Bestandteil der Gnade Gottes zu verstehen; habe ich ihnen erklärt, daß dann bei (Teil-)Verlust der Gesundheit die Sorge entstehen muß, Gott habe ihnen jetzt seine Gnade entzogen?
    (Wenn nein – unter Umständen nachtragen!) (4 / 5)
     
  • Habe ich (vielleicht nur zwischen den Zeilen) „Nichtbehinderte“ und „Kerngemeinde“ miteinander identifiziert, ebenso „Behinderte“ und „Randgruppe“?
    (Wenn ja – löschen!) (5 / 7)

Erläuternder Text:

(1) Dem Evangelisten Markus verdankt die Christenheit einen großartigen theologischen Befreiungsschlag gegen die in der Antike üblichen Vorstellungen, Krankheiten und Behinderungen seien auf dämonische Kräfte zurückzuführen. – Matthäus und Lukas blieben – mit geringfügigen Abweichungen – auf dieser Linie.

(2) Markus unterscheidet sorgfältig zwischen „Besessenheit“ und „Krankheit“, entsprechend zwischen Dämonenaustreibung und Heilung. (7) – Die Ausnahmen (Mk 5,1ff und 9,14ff) können die hier vorgetragenen Thesen nicht widerlegen, was jedoch im Rahmen dieses Textes nicht nachgewiesen werden kann (vgl. aber: „Nachbemerkung“).

(3) Was Markus konkret unter „Besessenheit“ (unter „bösen Geistern“ usw.) verstand, läßt sich kaum sagen. Klar ist a: Wir dürfen hier nicht an psychisch Erkrankte denken; denn diese sind krank, und Kranke will Markus ja gerade von Besessenen unterscheiden (2). Klar ist b: Durch Besessenheit (durch unsaubere Geister) wird das Werk Jesu gestört (ob auch die betroffenen Menschen gestört wurden, bleibt vielfach offen). Klar ist c: Es gehörte zu Jesu Auftrag, alles Böse zu bekämpfen, dazu, daß er Dämonen austrieb, nicht aber auch, daß er Kranke heilte (10).

(4) Tatsächlich heilte Jesus Kranke; das war nötig, weil er nur so als Messias gepredigt werden konnte (vgl. Mt 11,2ff u.a.). Das Reich Gottes ist aber nicht da zu uns gekommen, wo Jesus heilt, sondern da, wo er Dämonen austreibt (Luk 11,20 par; dazu: 8, 1.Hälfte). Niemals ist körperliches Intaktsein Voraussetzung für die Teilhabe an Gottes Sache; eher im Gegenteil: Jesus sagt nirgends: wenn du nur eine Hand hast, dann hast du eine zu wenig für das Reich Gottes; er sagt allerdings: Wenn du zwei Hände hast, dann hast du möglicherweise eine zu viel für das Reich Gottes; hacke sie ab, wenn sie deine Nachfolge stört (Mk 9,43 par). So dürfte niemand reden, der von Gott den Auftrag hat, Behinderungen zu bekämpfen. Gottes Heil kann also in seiner irdischen Gestalt durchaus ohne des Menschen Gesundheit Gottes ganzes Heil sein, ohne jeden Punkte-Abzug. Daß sich für Behinderte in Gottes kommendem Reich einiges ändert, ist uns verheißen, aber das ist den Nichtbehinderten genauso verheißen: Gott wird „alles“ neu machen.

(5) Weil also Krankheit (im Gegensatz zur Besessenheit) keine Reich-Gottes-Störung bedeutet (3), gehören nichtbehinderte und behinderte Menschen in gleicher Weise zentral zur Gemeinde; beide sind gleichberechtigte Subjekte der Gemeinde Jesu, ohne daß die Behinderten zunächst noch in irgendeinem Sinne „geheilt“ werden müßten. – Eine Reich-Gottes-Störung bedeutet es aber, wenn wir das Gesund-Sein „über alle Dinge lieben“: wenn also wir einen sagen, unser Leben sei nicht lebenswert, weil wir behindert sind; und wenn die anderen sagen, ihr Leben sei nur solange lebenswert, wie sie ohne Blindenstock und Rollstuhl auskommen. Also auch die Aufgabe macht uns in der Gemeinde zu Gleichen: Wir stehen miteinander vor der Aufgabe, das erste Gebot zu trainieren, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben, ihm zu vertrauen. Damit sind wir alle in den gleichen Kampf gegen das „Hauptsache gesund!“ gestellt (10).

6) Von dem in „1“ behaupteten und in „2“ bis „5“ skizzierten Befreiungsschlag des Markus ist in der heutigen theologischen Literatur oft darum nichts mehr zu spüren, weil er bereits seit Augustin fahrlässig vertan wird. Bei Augustin gibt es die Behauptung, behinderte Menschen stammen von dem (von seinem Vater Noah verfluchten) Bösewicht Ham ab; das heißt: sie stehen den Nichtbehinderten gegenüber wie der verfluchte Ham seinen gesegneten Brüdern gegenüberstand; die einheitliche Gemeinde der Gleichberechtigten (5) wird damit abgelöst von einer gespaltenen Gemeinde (7 / 8)

7) Diese Ham-Theorie hat das gesamte Mittelalter in Wissenschaft, Theologie, Literatur und bildender Kunst stark geprägt: behinderte Menschen werden als böse Menschen verstanden oder als Menschen, die sich weitgehend in der Gewalt böser Mächte befinden; sie werden also, kraß gegen Markus (2 / 3), den Besessenen wieder gleichgeordnet: sie sind, solange Christus sie nicht von dem (angeblich) „Bösen“ frei macht, stärker von ihm getrennt als Menschen ohne Behinderung; so wie sie sind, können sie in der Gemeinde nicht gleichberechtigt sein (6).

8) Die (unbewußte) Übernahme dieser auf Augustin zurückgehenden unbiblischen Sichtweise wird in heutiger theologischer Literatur zum Beispiel da erkennbar, wo behauptet wird, Jesus habe bei den Heilungen die gottfeindlichen Mächte bekämpft (Kampfmotive finden sich bei den Evangelisten eindeutig im Zusammenhang der Dämonen-Austreibungen, nicht aber bei Heilungen, 2 / 3), oder wo entsprechend eine Heilung als Weltenwende, als Beginn der neuen Welt Gottes bezeichnet wird (so wird im Neuen Testament zwar von Dämonen-Austreibungen geredet, nicht aber von Heilungen, 4), oder wo Jesus im nicht-übertragenen Sinn der „Arzt“ genannt wird: Diese Jesus-Bezeichnung gibt es im Neuen Testament nur in einem Bildwort (Mk 2,17 par). Nach unserem Gefühl bietet sich bei Heilungsgeschichten das Wort „Arzt“ geradezu an; deshalb taucht es häufig in Predigten (und verwandten Texten) im Zusammenhang mit leiblichen Erkrankungen auf. Dieses Wort (mit dem gesagt wäre: Jesus hat nicht nur faktisch geheilt, sondern: das war typisch für ihn, zum Heilen ist er gekommen, Heilen war sein Job) wird im Zusammenhang mit Krankenheilungen von den Evangelisten sauber gemieden. – Laut Bibeltext ist Jesus also nicht darin unser „Arzt“, daß er Blinde sehend und Gelähmte gehfähig macht, sondern darin, daß er Sünder (uns alle) in seine Gemeinschaft ruft. Darum ist es ein Skandal, wenn heutige Theologen oft (ausgerechnet unter dem Stichwort „Arzt“, das uns zu Gleichbedürftigen und Gleichberufenen zusammenschließt) die Gemeinde Jesu in zwei Gruppen spalten: hier die (Normal-) Sünder und dort die anderen, die auf Jesu Einsatz zusätzlich noch in anderer Weise angewiesen sind: die Kranken und Behinderten (vgl. 6). Diese Gruppen werden damit theologisch diskriminiert: Daß Jesus uns nicht geheilt hat (voraussichtlich in diesem Leben nicht mehr gesund machen wird), müßte entweder heißen: Jesus will nicht unser Arzt sein (uns gilt seine Gnade nicht oder nur eingeschränkt), oder: Er kann uns (trotz Taufe, Gebet, Abendmahl) nicht Arzt sein, weil wir besonders hartgesottene Sünder sind. (Wir können uns nur dessen getrösten, daß das Endgericht anderen Instanzen als der Theologie vorbehalten ist.)

9) Oft weicht man solchen schlimmen Aussagen aus, indem man die in den Texten genannten Krankheiten in irgendeinem übertragenen Sinne versteht: wir alle sind „aussätzig“, weil wir so erzogen sind, daß uns irgend etwas an uns eklig ist (daß Jesus uns heilt, meint nun: er hilft uns dazu, uns nicht mehr zu schämen); die gekrümmte Frau wird verstanden als eine Frau, die in der Männerwelt den aufrechten Gang verlernte. Auf diese Weise werden wir den Bibeltexten nicht gerecht; zudem werden die tatsächlich in unseren Gemeinden lebenden behinderten Menschen wieder einmal übersehen (das geschieht keineswegs nur in der oft getadelten „Gesellschaft“): nicht von ihnen ist angeblich in der Bibel die Rede; darum brauchen sie auch in der Predigt keine ausführliche Erwähnung zu finden. Die Heilungsgeschichten werden so in ihr Gegenteil pervertiert: Diese Texte berichten davon, daß man behinderte Menschen zu Jesus brachte; die symbolische Auslegung aber erschwert es, daß behinderte Menschen in ihrer konkreten Situation Jesu Zuspruch hören können(5).

10) Unser oben genanntes Verhaftet-Sein in mittelalterliche Ideologie führt dazu, daß wir der gottlosen „Hauptsache-gesund!“-Mentalität (5) allenfalls halbherzigen Widerstand entgegensetzen können. Auch die Gründe für die Tatsache, daß man weder der Theologie noch unserer Kirche verbissene Energie abspürt, was Stellungnahmen zur neuen Euthanasie-Debatte (insgesamt zur sogenannten Bioethik) angeht, dürften ins Mittelalter und bis zu Augustin zurückgehen. Unsere Umkehr muß darin bestehen, daß wir bei Markus neu wieder lernen, daß die Heilungsgeschichten die Kreuzestheologie nicht widerlegen, sie auch nicht abschwächen, vielmehr ein Teil derselben sind. Nicht Krankheiten und Behinderungen sind vom Teufel; aber der Satz, Krankheiten und Behinderungen seien vom Teufel, dieser Satz stammt gewiß aus einer Fibel, an der die Dämonen gründlich mitgewirkt haben. Mag sein, bei solcher Buße wird erkennbar, worin „Besessenheit“ (unsere Ankettung) bestehen könnte.

Nachbemerkung:

Wer sich genauer über die hier angesprochenen Dinge informieren möchte, sei hingewiesen auf folgende Arbeiten: Boden unter den Füßen hat keiner. Plädoyer für eine solidarische Diakonie, Göttingen 1980, darin: S. 157-170 /  Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991, darin: S. 40-118 / „Gesunde“ und „Behinderte“, Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, (Kaiser) Gütersloh 1994 (KT 134), darin: S. 100-121 / Wie lange noch wollen wir fliehen? Einspruch gegen die unheilvolle These vom „Heilungs-Auftrag“, in: Diakonie (DW der EKD Stuttgart), 1993, S. 390-397 / Gottes Heil und unser europäisches Apartheids-Denken, in: Reiner Degenhardt (Hg.), Geheilt durch Vertrauen, Bibelarbeiten zu Markus 9,14-29, (Kaiser) München 1992, S. 141-157 (zu: Krankenheilung oder Dämonenaustreibung?) / „Diakonie zwischen Fußwaschung und Sozialmanagement“, in: Hans Bachmann und Reinhard van Spankeren, Hg., Diakonie: Geschichte von unten, Christliche Nächstenliebe und kirchliche Sozialarbeit in Westfalen, (Luther-Verlag) Bielefeld 1995, S. 15-55 (hier zur Verbindung von Ham-Theorie und Auslegung der Heilungsgeschichten: S. 30f.37-43).

Quelle: Ulrich Bach, Wie predige ich Heilungsgeschichten? Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte, in: DtPfrBl, 97. Jg., 1997, Heft 6, Juni 1997, S. 294-296