Unser Reden und Denken von Gott – und die Konsequenzen für unser Diakonisches Handeln

Ulrich Bach
Unser Reden und Denken von Gott – und die Konsequenzen für unser Diakonisches Handeln

Konvent der Diakoniegemeinschaft des Theodor Fliedner Werkes, Marienheide, 25. Oktober 1997

Liebe Schwestern und Brüder, zunächst drei Vorbemerkungen:

  • Bert Brecht hat einmal gesagt, es gäbe Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen sei, darum nämlich, weil es ein Schweigen bedeutet zu vielerlei Unrecht in unserer Welt. Verführt uns unser heutiges Thema zu einem Verbrechen in diesem Sinne? Reden wir, weitab von allem irdischen Getümmel, über Gott, über unser Reden von Gott und über die Konsequenzen solchen Redens so, daß wir gewiß einen interessanten Tag miteinander verbringen, aber die Geschundenen, die Übersehenen, die durch unsere egoistische Ellenbogen-Gesinnung unsichtbar Gemachten, werden heute auch von uns übersehen? – Sie können sich denken, weshalb ich mit dieser kritischen Frage beginne. Ich möchte dazu einladen, so über unser Reden von Gott nachzudenken, daß die „kleinen Leute“ ständig mit dabei sind. Nein, so ist es noch immer nicht richtig: Wenn ich dazu einlade, heißt das: Wir könnten es auch anders machen. Ich behaupte jedoch: Wenn wir es anders machen, ist das der Beweis dafür, daß wir falsch von Gott reden.
     
  • Mit dieser kühnen Behauptung bin ich schon bei meiner zweiten Vorbemerkung: Was verstehen wir unter Konsequenz? Zwei Beispiele: Wenn es an der Haustür schellt, hat das zur Konsequenz, daß einer aus der Familie die Tür öffnet. Oder: Wenn die dünne Porzellan-Tasse aus zwei Metern Höhe auf den Steinfußboden fällt, hat das zur Konsequenz, daß sie zu Bruch geht. Sie sehen sofort den Unterschied: Beim Klingeln muß ja niemand zur Tür gehen; wir könnten so tun, als hätten wir nichts gehört. Eine entsprechende Möglichkeit hat die Tasse aber nicht. Hier sind Fallen und Zerbrechen untrennbar miteinander verbunden. Beides wird sozusagen eine Sache, so daß man kaum noch von Konsequenz sprechen möchte. Ebenso verhält es sich bei unserem Reden von Gott. „Sage mir, wie du von Gott redest, und ich sage dir, wie deine Diakonie aussieht, etwa: was behinderte Menschen von dir zu erwarten haben, bzw. ob du etwas von behinderten Menschen [für dich] erwartest“ (Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, S. 196). Wenn in einem theologischen Gedankengebäude die „kleinen Leute“ beheimatet sein dürfen, als normal („gut“ und okay) vorkommen dürfen, setzt das ein bestimmtes Reden von Gott voraus. Bei einer total anderen Art, von Gott zu reden, kämen die „kleinen Leute“ nicht vor, allenfalls als unliebsame Gäste, die aber die Einheit dieses Denkgebäudes eigentlich stören. Ich hoffe, daß diese Grundthese meines Referats Ihnen in einer Stunde einleuchtet.
     
  • Bei der Vorbereitung auf dieses Referat stieß ich auf eine Thesenreihe, die ich 1984 verfaßt habe (also fünf Jahre vor Ausbruch der Peter-Singer-Debatte). Ich war selber überrascht, wie aktuell diese Thesen offenbar auch heute sind in der Zeit der Diskussionen um die sogenannte Bioethik. So möchte ich Ihr Einverständnis dafür voraussetzen, daß ich mich an diese Thesenreihe halte. Den acht Thesen entsprechend gliedere ich meinen Vortrag in acht Abschnitte und sage das jeweils deutlich, damit Sie, falls Sie etwas mitschreiben wollen, nachher wissen, zu welcher These die Notiz gehört. Die Ausführlichkeit der einzelnen Abschnitte ist übrigens recht unterschiedlich. Die ersten Thesen kommentiere ich ziemlich breit; damit sind dann hoffentlich so viele Dinge abgeklärt, daß es danach rascher geht. Ein paar Thesen kann ich sozusagen überspringen. – Mein Vorschlag wäre, daß wir nachher, zur Aussprache, die Thesen-Blätter verteilen. – Nun aber zum ersten Abschnitt:

1.
Lassen Sie mich sehr kritisch einsetzen: Es gibt weit verbreitet eine verhunzende Theologie. Damit meine ich eine Theologie, in der Hauptinhalte verballhornt, halbiert, amputiert werden; da gibt man einen durchaus richtigen Aspekt für die ganze Sache aus. Ich möchte das konkretisieren an den vier Größen (die uns auch im zweiten Abschnitt beschäftigen werden): Gott, Mensch, Kirche, Diakonie.

  • Von Gott wird so geredet, als sei er darin Gott, daß er irdisch-sichtbar allmächtig ist und an die Seinen Macht und Stärke verschenkt. Natürlich bestreite ich nicht, daß Gott Stärke, Macht, Gesundheit und vieles, was wir wünschen, schenken kann; der Fehler liegt darin, daß man so tut, als müsse er das ständig tun, als sei das sein Job. Indem er unsere Wünsche erfüllt, ist er Gott. Anders wollen wir Gott nicht denken. Andere Möglichkeiten, die es für Gott geben könnte, werden abgespaltet, amputiert, einfach nicht zugelassen. Denken Sie nur an unsere modernen Schwierigkeiten mit Golgatha und folglich auch mit der Lehre vom stellvertretenden Leiden des Gottessohnes. Mag ja sein, daß wir an dieser Stelle manche älteren Äußerungen von der Bibel her korrigieren müssen. Aber die Fixigkeit, mit der heute beteuert wird, ein Gott, der seinen Sohn in den Foltertod schickt, sei ein sadistischer Gott; ein Sohn, der sich das gefallen läßt, sei ein masochistischer Sohn, ist so unglaublich oberflächlich, daß man solche Sätze nicht mehr theologische Sätze nennen kann. Denn ihre Grundlage ist ein menschlicher Benimm-Katalog, von dem her wir Gott zensieren: So was tut man nicht, auch als Gott nicht.
     
  • Unser zweites Stichwort hieß „Mensch“; und Sie erinnern sich bitte an das, was ich eben über die „Konsequenz“ sagte. Wenn ich Gottes widersprüchliche Ganzheit, wie beschrieben, amputiere, eingrenze auf das, was mir paßt, dann muß ich entsprechend vom Menschen reden. Die Werte sind (durch unser Reden von Gott) vorgegeben: Stärke gilt als göttlich, womit logischerweise die Schwäche in unserer Theologie negativ qualifiziert ist. Das geht gar nicht anders. Wer die Stärke für Gottes Wesen hält, wer Gottes Stark-Machen als seinen Job ansieht, der kann in einem schwerstmehrfachbehinderten Menschen nicht seinen ihm völlig ebenbürtigen Partner sehen (wenigstens, solange seine Theologie einigermaßen folgerichtig bleibt). Eine Theologie, die von Gott als dem Starken und dauernd Stärke verleihenden Gott redet, diskriminiert zwangsläufig behinderte Menschen. Wie solche Diskriminierung aussieht, lernte ich im Volmarsteiner Berufsbildungswerk kennen.  Dort kommt es vor, daß man mit einem schwer behinderten jungen Menschen zwar eine Ausbildung wagt und beginnt, daß sich nach einiger Zeit aber herausstellt, dieses Wagnis war doch zu groß: Erwin wird auf dem heutigen Arbeitsmarkt niemals vermittelbar sein; also muß Erwin das Berufsbildungswerk verlassen. (Das ist noch keine Diskriminierung, sondern eine pädagogisch-sozialpolitisch offenbar notwendige Entscheidung; aber nun weiter:) Wenn ich dann im Religionsunterricht fragte: Wo ist Erwin heute?, bekam ich die Antwort: Den haben sie totgeschrieben. Klar: wenn Stärke „in“ ist, ist Schwäche „out“; wem der Stolz darauf, auch mit schwerer Behinderung die Ausbildung vermutlich zu schaffen, zur Lebensbasis gehört, für den ist Erwin gestorben: das ist angeblich kein Leben mehr. Schwach zu sein, ist in diesem Menschenbild unanständig. Schwache, alte, verwirrte Menschen sind hier die Ausnahmen, sie sind regelwidrig, unnormal. Wer will für diese Klientel schon Lobby sein? Verstehen Sie, das hat alles eine saubere Logik: Die heutigen Sparmaßnahmen im sozialen Bereich sind keine überraschende Ungezogenheit von Leuten, deren Weltanschauung bzw. Religion durchaus in Ordnung wäre. Nein, wer, wie beschrieben, vom Menschen und von Gott redet, der kann, ohne rot zu werden, Kürzungen im Sozialbereich vornehmen – das ist schlicht konsequent.
     
  • Dem allen entspricht natürlich auch unser Reden von der Kirche: Der allmächtige Gott, der stabile Menschen will, bedient sich, um dieses Ziel zu erreichen, seiner Kirche, die er hierzu mit Missions- und Heilungs-Auftrag ausstattete (manche sprechen gern vom Missions- und Diakonie-Befehl und berufen sich dazu auf den Missionsbefehl von Mt 28). Wir, die Christen, sollen die verlorenen Seelen retten und die kranken Körper heilen. Und wieder wird uns viel zu selten klar, daß dieses unbiblische Bild von der Kirche die Gemeinde Jesu spaltet, Schwächere an den Rand drückt. Augenfällig wurde das etwa bei der EKD-Umfrage von 1984 „Was wird aus der Kirche?“ Eine der Fragen lautete, für was die Gefragten am liebsten spenden würden. Die Zahlen für Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime lagen wesentlich höher als die für Kirchengebäudeerhaltung oder Orgel. Im offiziellen EKD-Kommentar heißt es dazu: „Die Meinung ist eindeutig: Die Kirchenmitglieder würden Geld eher für soziale und diakonische als für binnenkirchliche Zwecke geben“. Ist das nicht unglaublich? Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime gehören also nicht zu den „binnenkirchlichen“ Aufgaben. Das ist die Spaltung: Wer auf Hilfe angewiesen ist, gehört nicht in den Binnenraum der Kirche, sondern an den Rand.

    Diese Spaltung möchte ich aufzeigen auch an dem sogenannten Heilungsauftrag der Kirche. Nun habe ich so häufig und so ausführlich nachzuweisen versucht, daß sich der in der Theologie landauf, landab behauptete Heilungsauftrag der Kirche von einer sauberen Textexegese nicht halten läßt, daß ich es langweilig fände, das heute zu wiederholen. Heute möchte ich einmal hypothetisch voraussetzen: Okay, den Heilungsauftrag gibt es; aber wie jetzt weiter? „Heilungsauftrag“ kann ja nur heißen: Die Kirche hat den Auftrag, Blinde sehen, Gelähmte gehen, Gehörlose hören und Krebskranke ohne Befund sein zu lassen. Kommt so etwas vor, gehäuft vor? Mir hat noch niemand gesagt: Stehe auf und wandle. Und mir hat noch kein Behinderter erzählt, ihm sei so etwas gesagt worden. Die Kirche scheint den Heilungsauftrag, den sie behauptet zu haben, gar nicht auszuführen, wenigstens nicht umfassend. Ich stelle mir vor, die Kirche nimmt sich beim Wort und lädt zu Heilungsgottesdiensten ein. Allen Behinderten und Kranken wird zugesprochen, von dem, was sie einengt, ab sofort frei zu sein; denn Gott wolle nicht, daß sie so geschwächt und eingeschränkt leben. Logischerweise gibt es jetzt nur zwei Möglichkeiten: es klappt, oder es klappt nicht. Gegen die erste Möglichkeit hätte wohl kaum ein Behinderter etwas einzuwenden – höchstens dieses, daß die Kirche in dieser Hinsicht nicht schon längst aktiv wurde. Hier könnte eine Kirche ohne Spaltung sichtbar werden: Wir sind alle stark (die einen waren es schon vorher, die anderen sind es in diesem Gottesdienst geworden), keinem „fehlt“ noch etwas. Und bei der zweiten Möglichkeit (wenn es nicht klappt)? So sehr es Sie überraschen mag: auch hier könnte eine Kirche ohne Spaltung sichtbar werden: Wir sind alle schwach: Die einen sagen, wir möchten gern gehen, aber es geht nicht; andere sagen, ich würde gern sehen, aber ich kanns nicht; und die, die zu diesem Gottesdienst eingeladen hatten, müßten sagen: und wir wollen gern heilen, aber wir kriegen das nicht hin. Auch hier gäbe es keine Spaltung, nun aber nicht auf der Ebene der Stärke, sondern auf der der Schwäche. In den Blick käme die Kirche als die bunte Gemeinschaft der unterschiedlich begabten Hilfsschüler Jesu; wir können alle nicht so, wie wir wollen. Wir wissen: solche flächendeckenden Heilungsgottesdienste gibt es nicht. Und darum sehe ich für die Kirche nur zwei faire Möglichkeiten: Entweder gibt sie zu: Wir haben keinen Heilungsauftrag (das entspräche, wie gesagt, nach meiner festen Überzeugung den Bibeltexten) – hier wäre Raum für eine geschwisterliche Kirche der Behinderten und Nichtbehinderten; keiner ist besser oder schlechter, keiner ist normal und andere unnormal, alle sind gleichberechtigt und gleichbedürftig vor Gott und voreinander. Trotz aller Unterschiede im Körperlichen, im Geistigen, im Seelischen gibt es keinerlei Unterschied in der „Richtigkeit“ der Gottesbeziehung: auch ohne des Menschen Heilung kann ihm das Heil ganz gehören. Oder die Kirche sagt: Wir haben zwar einen Heilungsauftrag, aber dem sind wir in keiner Weise gewachsen; auch hier gäbe es keine Spaltung, denn wir sind (wie eben ausgeführt) die Gemeinschaft der Nicht-Könner.

    Die Kirche aber sträubt sich, einen dieser beiden Wege zu gehen, sie entscheidet sich für einen dritten: Wir haben einen Heilungsauftrag, und den führen wir auch ständig aus, womit jetzt gemeint ist: wir fördern behinderte Menschen je nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen. Dabei ist nicht nur an Behinderte gedacht. Horst Seibert führt in seinem Buch über das „Hilfehandeln“ alle Arbeitszweige des weitgefächerten Diakonischen Werkes auf das heilende Handeln Jesu zurück. Ist es sehr ungezogen, wenn ich in solcher Ideologie, ohne die Kirche, Theologie und Diakonie heute kaum zu denken sind, einen Etiketten-Schwindel sehe? Jesus brachte Blinde zum Sehen; wir bringen sie nicht zum Sehen, sondern in eine Blindenschule, behaupten aber, das sei doch in etwa das gleiche. Zudem muß man so etwas „zynisch“ nennen. Ein blinder Mensch steht vor der Aufgabe, sich klar zu machen: ich werde mein Leben lang blind bleiben; ich will versuchen, als Blinder mein Leben frohgemut zu gestalten (ich will von euch nicht in irgendein Lügennest hineingeglaubt oder hineindefiniert werden). Ist es nicht zynisch, hier zu widersprechen: Im Grunde haben wir dich doch geheilt, du hast jetzt sogar eine Arbeitsstelle. Der Unterschied zu einem sehenden Arbeitnehmer, und alle Mühe und Erschwernis, die damit zusammenhängt, wird von dieser Theologie einfach nicht ernst genommen. Verständlich; denn in dem Augenblick, wie sie sagen würde: wir haben dich nicht geheilt, müßte sie zugeben: wir können nicht heilen. Und diese Schwäche kann und will man offenbar nicht einräumen. Sichtbar wird damit die Funktion des angeblichen Heilungsauftrages: Er hilft zwar nicht den Behinderten (wie gezeigt, erschwert er im Gegenteil einem behinderten Menschen die mutige Lebensgestaltung), aber er tut den nichtbehinderten Christen gut: sie können sich in der starken Pose aalen: Wir haben einen Heilungsauftrag, und den üben wir fleißig aus. Saniert wird mit dem sog. Heilungsauftrag kein kranker oder behinderter Mensch, aber vielleicht das Ohnmachtsgefühl einer schlappen Kirche, die sich gern auf der Könner-Seite sieht.
     
  • Wie Sie merken bin ich längst beim vierten Stichwort: „Diakonie“. Wenn sie und solange sie von dem aufgezeigten Reden von Kirche herkommt, ist auch die Diakonie von der Spaltung befallen: Die Starken tun etwas für die Schwachen, anstatt mit den Schwachen zu leben, wobei jeder aufmerksame Mitarbeiter die Erfahrung machen wird: ich profitiere von diesem Miteinander genau so wie der sogenannte Klient. – In der Diakonie wird der Satz gern zitiert: Gott hat keine anderen Hände als unsere. Kaum einer sagt aber: Gott hat (wenn ich Hilfe brauche) ebenfalls keine anderen Hände als die meiner Mitmenschen. Vermutlich stimmen beide Sätze nicht; denn sie bestreiten, daß Gott, abgesehen von unseren menschlichen Händen, noch „eine andere Hand mit ins Spiel“ bringen kann. Aber wenn ich jenen ersten Satz sage, wird auch der zweite nötig; sonst behaupte ich ja: Auf mein Helfen ist Gott angewiesen, wenn es um andere geht; mir aber hilft Gott ständig ohne Mitwirken der anderen. Damit praktizierten wir eine Zwei-Klassen-Diakonie. Ich frage mich zuweilen, was eine so sich verstehnde Diakonie noch grundsätzlich unterscheidet von einem Tierschutzverein. Nun gut, bei uns werden keine Kaulquappen oder Singvögel geschützt, sondern Menschen; aber in beiden Fällen gibt es das krasse Gegenüber von Subjekten und Objekten. Von einer Kaulquappe erwarte ich nichts (oder fast nichts) für mich und für die Sinnfindung meines Lebens; aber sie verdankt ihr Leben meinem Einsatz. Im Schema „Hilfehandeln“ wäre das gleiche zu sagen auch vom Umgang etwa mit Schwerstmehrfachbehinderten.

Damit aber genug zu diesem ersten Abschnitt, in dem ich von einer spaltenden Theologie sprach, die ich aufzeigte an den Stichworten: Gott, Mensch, Kirche und Diakonie.

2.
Beim zweiten Abschnitt muß ich aufpassen, daß ich mich nicht wiederhole. Thema ist hier die nicht spaltende, die integrierende Theologie; die vier Stichworte sollen die gleichen sein.

  • Wenn ich richtig, wenn ich biblisch von Gott rede, darf ich nicht nur von seiner Stärke reden. Wenn ich den ganzen Gott benennen möchte, muß ich sagen: er ist auch grausam, dunkel, nicht verstehbar und leidend. Ich will mich hier beschränken auf das, was Theologen den „deus absconditus“ nennen, den verborgenen Gott. Bei Luther etwa ist klar, daß alles, was wir in unserer Welt kennen, bis auf das, was uns in Christus offenbart wurde, auf den „verborgenen Gott“ zurückzuführen ist: Sonne wie Regen, Glück wie Leid, Lachen und Weinen, Gesundheit und Krankheit. Erkennbar ist Gott nur in Christus, da ist er der offenbare Gott, der „deus revelatus“. – Ich könnte es verstehen, wenn Sie jetzt denken: Im Augenblick driftet er aber ins Abstrakte ab; jetzt redet er – im Sinne des Brecht-Zitats – von Bäumen und hat die „kleinen Leute“ vergessen. Aber nein! Gerade an diesem streng theologisch aussehenden Punkt läßt sich zeigen, wie nahe „Bäume“ und „Elend in der Welt“, saubere Theologie und die „kleinen Leute“ beisammen sind.

    Es gibt nämlich seit einiger Zeit Theologen, die Luthers Reden vom verborgenen Gott heranziehen, wenn sie von der Frage sprechen: Wie kann Gott das Leid in der Welt zulassen? Jetzt soll der verborgene Gott plötzlich das Leid in der Welt erklären, und nicht mehr, wie bei Luther, das unverständliche, uns ungerecht erscheinende, Nebeneinander und Miteinander von Glück und Leid. Jetzt wird der verborgene Gott benötigt, wenn die Frage ansteht: Warum kann der total gelähmte Peter niemals im Leben auch nur einen Happen selber zum Munde führen. Der verborgene Gott wird aber nicht benötigt, wenn wir fragen: Warum kann Boris Becker so toll Tennis spielen? Aber (und jetzt wird’s spannend!) wenn die Stärke des Sportlers nichts mit Gottes Verborgenheit zu tun hat, dann ja wohl mit seiner Offenbarung (eine dritte Möglichkeit gibt es nicht). Das heißt: Wenn ich beim „verborgenen Gott“ nicht an die scheinbar ungerechte Verteilung von Stärke und Schwäche denke, sondern nur noch an die Schwäche, dann bringe ich automatisch die Stärke auf die Seite des offenbaren Gottes; ich rücke die Kraft eines Sportlers und die geistigen Fähigkeiten eines Gelehrten in die Nähe von Gnade, Versöhnung, Heil; und unter der Hand stehen die Schwäche des körperlich und des geistig Behinderten in der Nähe von Ungnade (Verwerfung), Gericht und Unheil: Eine schrecklichere Spaltung kann es gewiß nicht geben. Und sie ergibt sich unmittelbar (denken Sie noch einmal an die „Konsequenzen“) aus einem bestimmten Reden von Gott. Wer richtig, biblisch von Gott redet, wer vom ganzen Gott redet, der wird umfassend vom verborgenen Gott reden: Wir wissen nicht, warum es uns vergönnt ist, Mitarbeiter in der Diakonie zu sein, warum es uns erspart blieb, lebenslänglich in einer Einrichtung der Diakonie versorgt werden zu müssen; und genauso wenig wissen wir, warum es bei den von uns Betreuten andersherum ist. Im Nichtwissen stehen wir beisammen, werden wir Geschwister.
     
  • Wer vom dunklen Gott redet, vom nichtverstehbaren, ungerecht erscheinenden Gott, hat die Möglichkeit, auch vom Menschen anders zu reden: der Mensch ist, als Geschöpf!, auch schwach, hilfsbedürftig, nicht ohne Leiden und Angst. – Zu diesem Punkt stelle ich einmal zwei außer-theologische Beispiele einander gegenüber. Der Bundesverband der Lebenshilfe formulierte in einem Grundsatzpapier (1990; zit: Westfalen Lesebuch, S. 239): „Es ist normal, verschieden zu sein. Behinderung ist eine besondere Form von Gesundheit.“ (Nebenbei gesagt: Dieser Satz wird zuweilen zitiert als ein Satz des ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker; der hat ihn aber offensichtlich von der Lebenshilfe übernommen.) Warum fällt es der Theologie so schwer, genau so locker, nicht spaltend von Behinderungen zu sprechen? – Nun das andere Beispiel. Der Bochumer Philosoph Hans Martin Saß (und mit ihm andere Bioethiker) unterscheiden zwischen Mensch und Mensch, zwischen Menschen, die nur geweblich, organisch Menschen sind, und Menschen, die dank ihrer geistigen Fähigkeiten „Personen“ genannt werden können. Rechtlich geschützt und ethisch zu würdigen sind, so wird behauptet, nur die „Personen“. Ich halte es heute für eine dringliche Aufgabe von Theologie, Kirche und Diakonie, an dieser Stelle mindestens so laut Krach zu schlagen, wie sie es bei der Abschaffung des Buß- und Bettages getan haben; auf den können wir gewiß zur Not verzichten, aber auch darauf, daß jeder von einem menschlichen Vater Gezeugte und von einer menschlichen Mutter Geborene als Mensch im umfassen Sinne, als „Person“ also, anerkannt ist? – Im Zeitalter der sogenannten Bioethik scheint die Parole sinnvoll zu sein: Sage mir, wann du Krach schlägst, und ich sage dir, ob du Kirche bist oder bloß ein Verein zur Pflege religiöser Traditionen.
     
  • Beim Thema „Kirche“, der nicht-spaltenden Kirche, muß von vornherein klar sein: sie ist auch ein Haufe von Stolpernden, der Gottes Hilfe ständig für sich selbst nötig hat. Auch dazu nur zwei Punkte:
    • Seit 1975 hat die Ökumene das Thema aufgegriffen: Behinderte und nichtbehinderte Menschen gehören in der „Familie Gottes“ zusammen: „Die Einheit der Kirche muß die »Behinderten« wie die »Unbehinderten« einschließen.“ Bisher läuft vieles falsch: „Die Behinderten werden als die Schwachen behandelt, die bedient werden müssen, und nicht als völlig verpflichtete und integrierte Glieder des einen Leibes Christi …“. Dann kommt man auf „die gegenseitige Abhängigkeit aller Menschen“ zu sprechen und stellt die aufregende Frage: „Wie kann die Kirche sich dem Zeugnis öffnen, das Christus durch diese Menschen ablegt?“ (H.Krüger u. W.Müller-Römheld (Hg.), Bericht aus Nairobi. Ergebnisse, Erlebnisse, Ereignisse. Offizieller Bericht der fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen.  Frankfurt (1976), 2. Aufl. 1976, S.28f). Behinderte Menschen also haben eine Mission an die Gesamt-Kirche, das ist deutlich eine total andere Perspektive als die stolze These vom Heilungsauftrag der Kirche behinderten Menschen gegenüber. Auf dieser Linie erkannte dann 1978 eine ökumenische Konsultation in Bad Saarow (DDR): „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht. Wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert“ (Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow, DDR, in: Jahrbuch DW EKD 1978/79; S.227ff; Zit.: S. 228).
       
    • Wenn ich die Dinge richtig sehe, geht es bei dem hier zur Rede stehenden Gegensatz (Kirche der Starken / Kirche als Familie Gottes, in der behinderte und nichtbehinderte Menschen ebenbürtig zusammengehören) um einen Gegensatz, der um 1930 zwischen Otto Dibelius und Karl Barth sichtbar wurde. Nach dem ersten Weltkrieg gab es viele Stimmen, die die Kirche priesen als Fels in der Brandung, als Hilfe in den Wirren der Nachkriegszeit. Schon 1920 widersprach Karl Barth einer solchen Position der Stärke: „So ist die biblische Kirche bezeichnenderweise die Stiftshütte, das Wanderzelt; von dem Moment an, wo sie zum Tempel wird, existiert sie wesentlich nur noch als Angriffsobjekt“ (Karl Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke , München 1920, S. 16). Und weiter: „Das ewige vermeintliche Besitzen, Schmausen und Austeilen, diese verblendete Unart der Religion, muß einmal aufhören, um einem ehrlichen grimmigen Suchen, Bitten und Anklopfen Platz zu machen“ (S. 26). Als dann Otto Dibelius ein Buch veröffentlichte mit dem markigen Titel: „Das Jahrhundert der Kirche“ (1928; daraus nur ein Zitat: „die Aufgabe der Kirche ist der Kampf! In eine Welt der Sünde ist sie hineingestellt, damit sie ihr (!) das Urteil Gottes verkündige“; zit: Karl Kupisch (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871 bis 1945, Siebenstern-Taschenbuch, München und Hamburg 1965, S, 237), konterte Barth mit einem Vortrag: „Die Not der evangelischen Kirche“ (1931, abgedruckt in: Der Götze wackelt, hg. Kupisch, Berlin 1961, S. 31ff). Etwa: „Kann und darf die Sichtbarkeit der Kirche unter dem Kreuz die Sichtbarkeit einer Schar in ihrer Geistlichkeit offenbar sehr reicher, mit vollen Händen aus einem wohlgefüllten Schatz austeilender Leute sein? Wo und wann und wie wird denn die Kirche der verlorenen, der geistlich bankerotten, der auf Barmherzigkeit angewiesenen und von Barmherzigkeit lebenden Leute sichtbar? (S. 52) Oder: [Oft muß man] „den Eindruck haben, als ob es mit dem Vorhandensein von allerlei Lebenskräften und mit dem Zirkulieren von allerlei Lebensströmen, was die Kirche betrifft, aufs Beste bestellt sei, als ob der Fehler nur draußen in der immer gleichgültiger werdenden, immer mehr verwildernden und sich zerreißenden Welt zu suchen sei. Und das geht eben nicht …! Wo ist eigentlich die Kirche, die selber in der Buße steht, die sie predigt, die von Luthers »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, das sie so trefflich anzupreisen weiß, Gebrauch macht?“ (S. 52f).

      Mein Vikars-Vater Johannes Klevinghaus, lange Jahre Anstaltsleiter im Wittekindshof, sagte 1964 genau auf dieser Barth-Linie: Als Mitarbeiter in der Diakonie „sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“ (Ernst Brinkmann, Hg., Heil und Heilung, Gedenkbuch für Johannes Klevinghaus, Luther-Verlag Witten 1970, S. 61 f).
       
  • Sie haben es gemerkt: Ich leitete soeben über zur nichtgespaltenen Diakonie. Hier möchte ich berichten von einem Anstaltsleiter und dann von einer über 80-jährigen Anstaltsbewohnerin.
    • Karl-Adolf Bauer fragte in einem Vortrag, 1976: „Haben wir erkannt, daß die unserer Hilfe Bedürftigen nicht nur auf uns, sondern auch wir auf sie angewiesen sind, damit wir alle miteinander Menschen werden? Die Praktizierung einer solchen Gemeinschaft von Helfenden und Hilfsbedürftigen ist das Betriebsziel der Diakonie!“ (K.-A. Bauer, Diakonie am Wendepunkt, in: Die offene Tür, Mitteilungen aus den Diakonie-Anstalten Bad Kreuznach, Nr. 132, Dezember 1976, 9. Seite.) Ich halte fest: Hier wird das Miteinander klar betont. Aber weiter: Die törichte Frage, ob sehr schwer behinderte Menschen weniger „Menschen“ sind als wir anderen (s.o. zu H.M. Sass), wird unterlaufen: ein Mensch ist nie fertig, ein Mensch ist immer im Werden, Menschsein ist grundsätzlich ein Prozeß; und der ist bei uns allen in gleicher Weise noch nicht abgeschlossen; so hoffen wir, „miteinander Menschen (zu) werden (!)“. – Dieser Prozeß ist keineswegs ein Nebenprodukt der Diakonie, sondern wird geradezu das „Betriebsziel der Diakonie“ genannt; und das nicht so, daß wir von einzelnen reden (der eine bekommt eine neue Hüfte, der andere trotz Rollstuhl eine Berufsausbildung und der Mitarbeiter nach 25 Jahren Tätigkeit das Kronenkreuz in Gold), sondern so, daß die auch uns Mitarbeiter einschließende Gemeinschaft in den Blick kommt. Der andere ist noch nicht fertig, und auch ich bin noch nicht fertig ohne Diakonie! Der krasse Unterschied zu jener Hilfehandeln-Mentalität springt gewiß ins Auge.
       
    • Frau K., eine nichtbehinderte Teilnehmerin unseres Andachtskreises in einem Wohnheim für behinderte Menschen, wurde nach einem Krankenhausaufenthalt freudig im Kreis begrüßt, woraufhin sie sagte: Das müßt ihr mir glauben, ich habe euch auch richtig vermißt. Damit hatte sie der über 80jährigen Frau N. ein wichtiges Stichwort geliefert. (Noch einmal: Frau K. hatte gesagt: ich habe euch auch richtig vermißt. Und nun Frau N.:) Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt. – Ich konnte nur staunen und ihr und dem Kreis mein Staunen erklären: Wir Mitarbeiter haben das hohe Ziel, so fleißig für die Bewohner einer Einrichtung da zu sein, daß niemand die Pflegerin oder den Seelsorger, den Pädagogen oder die Ärztin „vermissen“ muß. Bei Frau N. lerne ich: es gibt auch den entgegengesetzten Blick. Frau N. weiß: auch sie ist jemand, den man möglicherweise vermissen kann. Nur, davon haben viele keine Ahnung: sie sorgen dauernd für uns, sie sind davon überzeugt: ohne die Nichtbehinderten würde den Behinderten vieles fehlen; aber kaum jemand gibt zu, daß auch den Nichtbehinderten ohne die Behinderten etwas fehlt. Frau K. hat das begriffen, sie sagt als Nichtbehinderte: ich habe euch vermißt. Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.

3.
Halten wir kurz inne! In zwei ausführlichen Abschnitten stellte ich zwei grundverschiedene Arten, theologisch von Gott, vom Menschen, von der Kirche und ihrer Diakonie zu reden, einander gegenüber. Ohne jeden Zweifel kommen behinderte Menschen und insgesamt die „kleinen Leute“ bei der zweiten Art der Theologie besser zurecht. Aber, so müssen wir jetzt kritisch weiterfragen: Ist das ein Argument, das in der Theologie Sinn macht? Könnten wir dabei nicht in einem uferlosen Relativismus landen: Jeder sucht sich aus, was ihm am besten paßt: Der Sportler kommt vielleicht besser klar in einer Theologie der Stärke (also in der ersten unserer beiden Arten), die Schwachen besser in der zweiten Art. Warum sollten sich nicht auch Musiker, Astronauten und Briefmarkensammler eine jeweils für sie passende Theologie zurechtschneidern? Klar, so geht es nicht. Aber wie geht es denn? Natürlich nur so, daß wir den in der Theologie einzig gültigen Maßstab anlegen: Welche Art der Theologie ist vom Zeugnis der Heiligen Schrift her legitim? – Übrigens war diese Zwischenbemerkung schon mein ganzer dritter Teil, und ich komme bereits zum vierten:

4.
Jede Theologie, vor allem jede evangelische Theologie vermag den Maßstab noch präziser zu benennen: Welche der beiden Theologie-Typen könnte sich auf das biblische Zeugnis von Jesus Christus berufen? Diese Rückfrage möchte ich jetzt nicht an alle vier Punkte richten, sondern nur (zunächst nur) an den ersten: Wie ist in der Person Jesu Christi von Gott die Rede? Da ich hoffe, meine These hat Sie überzeugt, daß mit dem Reden von Gott schon eine Vorentscheidung getroffen ist über unser Reden von Mensch, Kirche, Diakonie, ist die Eingrenzung auf den ersten Punkt sachlich wohl berechtigt. Ist Jesus der starke Held? Angekündigt wird er als der Retter der Welt, aber dann muß er (ich denke an die Flucht nach Ägypten) erst selber einmal gerettet werden. Wir kennen diese Geschichten und wundern uns nicht mehr viel über die Inhalte. Aber im Grunde ist das doch peinlich: Was für ein Gott ist das! Gott als Flüchtlingskind. Vor Jahren sagte ein Kollege, als wir über diese Zusammenhänge sprachen: Eigentlich ist das ein Skandal, wenn man bedenkt, was wir für’n Gott haben. – Oder denken Sie an die Weihnachtsgeschichte bei Lukas. Gelegentlich sprachen wir im Volmarsteiner Andachtskreis über den Ausdruck: „Weg damit!“ Behinderte Menschen empfinden gelegentlich so: was willst du hier, du störst, du kannst ja doch nichts; weg damit! Und dann fiel uns Lukas 2 ein: Auch die beiden aus Nazareth störten, erst recht, als man merkte, Maria ist hochschwanger. Weg damit, ab in den Stall. Da kam der Heiland zur Welt. Gott wurde selber ein „weg damit!“: Denn sie hatten keinen anderen Platz in der Herberge. Der erste Petrus-Brief nennt später Jesus den Stein, den die Fachleute „verworfen“ haben, wieder: weg damit! Aber zurück zu Lukas 2! Bei der Botschaft des Engels denkt man zunächst an die Theologie der Stärke: Er kündigt den Herrn in der Stadt Davids an. Und bei der unmittelbaren Fortsetzung wird man gespannt: Und das habt zum Zeichen; jetzt werden also die Erkennungszeichen Gottes genannt, die Königsinsignien des „Herrn in der Stadt Davids“: Ihr werdet finden ein Kind (keine Macht, eher Ohnmacht), in Windeln gewickelt (die blieben auch beim Gotteskind nicht trocken; die Rede ist hier von der Hilfsbedürftigkeit Jesu) und in einer Krippe liegen (jämmerliche Armut). Verstehe, wer kann: Gottes Kennzeichen in dieser Welt sind nicht Macht, Stärke und Reichtum, sondern Ohnmacht, Hilfsbedürftigkeit und Armut.

Nun gut, könnte man einwenden, wir haben alle mal klein angefangen; später aber war er doch der starke Heiland. Wirklich? Angefeindet ist er, zuweilen gerade da, wo er eine Heilung vollzogen hat: ich denke an die Heilung des Blindgeborenen, durch die sich Jesus Ärger einhandelt (Joh 9). Zudem sagt Jesus von sich, er sei ärmer als Fuchs und Vogel (Lk 9,58). Und dem entspricht das Ende seines irdischen Weges. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß da, wo Jesus das große Werk zu unserer Rettung tut, auf Golgatha, daß sich gerade da die Hinweise auf seine Hilfsbedürftigkeit häufen? Man hat deutlich den Eindruck, Markus etwa legt Wert auf diese Sache, denn er betont sie auch da, wo es absolut nicht nötig ist. Ein Mißverständnis muß dafür herhalten, die Hilfsbedürftigkeit zu erwähnen. Jesus ruft: Eli, Eli; manche verstehen, er rufe den Elia und sind gespannt, „ob Elia komme und ihm helfe„! Zuvor hatte Simon von Kyrene ihm helfen müssen beim Kreuztragen. Mk 15, 31 lesen wir: andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Am auffälligsten ist sicher die Erwähnung der Frauen, die von ferne stehen; Markus hätte über sie nichts weiter sagen müssen; wenn er aber Galiläa erwähnen möchte, hätte er sagen können: sie waren schon in Galiläa seine Zuhörerinnen; oder: die sind von Galiläa aus mit hierher gewandert; nein, Markus sagt: diese Frauen hatten ihm in Galiläa „gedient“. Diese Notiz ist für den Fortgang der Kreuzigungsgeschichte absolut nicht nötig; offenbar ist sie aber für das Predigtanliegen des Evangelisten unabdingbar. Markus will unüberhörbar den in die Hilfsbedürftigkeit heruntergekommenen Gottessohn predigen.

Aber aufgepaßt! Markus predigt hiermit keineswegs einen schlappen Gott. Nein, auf dem Weg der unüberbietbaren Hilflosigkeit schafft er unser Heil: Der Vorhang im Tempel zerreißt, der das Allerheiligste vom Rest der Welt abtrennte: Jeder hat ab sofort unmittelbaren Zutritt zu Gott. Und der heidnische Hauptmann ist der erste, der davon Gebrauch macht: Er bekennt sich unter dem Kreuz zu Jesus als dem Gottessohn. Was Paulus im zweiten Korintherbrief sagt, müßte man zweimal sagen und jeweils anders betonen: Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung. Aber eben auch: Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung (IIKor 12,9).

5.
Wir kommen zum Abschnitt 5. Auch wenn ich sagte, daß ich von der Überlegung, wie von Jesus Christus her über Gott zu reden sei, nicht die drei anderen Punkte unter der Perspektive „Konsequenz“ beleuchten will, für den vierten Punkt, also für die Diakonie, möchte ich es doch tun – im Thema ist die Diakonie ja besonders genannt. – Klar ist gewiß von vornherein: Eine Diakonie, die ehrlich herkommt von der Art, in der das Neue Testament von Jesus predigt, muß auf alles verzichten, was man „Heldenpose“ nennen könnte: Jedes Gegenüber von starken Helfern und schwachen Hilfeempfängern, alles einseitige Hilfehandeln, das die eigene Bedürftigkeit und Dürftigkeit verdrängt, vergeht wie der Schnee in der Sonne. Denn in der Person Jesu wird deutlich: Stärke ist nicht besonders göttlich; Schwäche ist kein Makel; Hilfsbedürftigkeit ist nicht schlimm. Anders gesagt: Sich helfen lassen zu müssen ist genau so „göttlich“, wie anderen helfen zu können. Das rückt in der Diakonie Mitarbeiter und Versorgte radikal zusammen. Denn unmöglich geworden, durch unser „Aufsehen auf Jesus“ (vgl. Hebr. 12,2; der ganze Vers scheint mir diakonisch bedeutsam) unmöglich gemacht, ist es, im diakonischen Alltag Jesus einseitig auf der Seite der Helfer zu sehen (im Sinne von: Jesus half den Schwachen, somit ist Helfen göttlich); Jesus ist ebenso (kein bißchen weniger) auf der Seite der Hilfbedürftigen (im Sinne von: Jesus mußte sich helfen lassen, somit ist es göttlich, auf Hilfe angewiesen zu sein). Darf ich’s so sagen: Die Botschaft von Jesus verdonnert uns zu einer Geschwisterlichkeit, in der jedes Festklopfen von Oben und Unten Verweigerung der Nachfolge Jesu bedeuten würde.

Erlauben Sie, daß ich Ihnen an dieser Stelle eine persönliche Begegnung erzähle, eine für mich spannende Begegnung mit einem theologischen Satz. Zuweilen wird mir gesagt, meine Thesen und Veröffentlichungen seien sehr neu und aufregend. Meine Antwort ist regelmäßig: das sehe ich anders; ich trage doch nur zusammen, was jeder etwa bei Markus und bei Paulus, bei Luther und Barth nachlesen könne. Nur eine Ausnahme gab ich zu: Die starke Betonung der Hilfsbedürftigkeit Jesu, und die Behauptung, von der Hilfsbedürftigkeit Jesu her müsse sich unser übliches Reden von Diakonie gründlich ändern, dieses beides hätte ich so nirgendwo sonst gefunden. Und dann, eines Abends, fand ich’s zufällig doch. Ich las, unter einer ganz anderen Fragestellung, Wicherns Gutachten von 1856 und begegnete darin unvermutet folgendem Satz: Christus »ist nicht bloß das Subjekt der Diakonie; seine Liebe erfüllt sich (!), indem er sich zugleich als Objekt derselben ergibt« (in: J.-H. Wichern, Sämtliche Werke, hg. von P.Meinhold, Bd.III/1, 1968, S. 132). Jesus, der Bedürftige, Jesus als „Objekt“ der Diakonie. Und das nicht als bedauerliche Ausnahme von der eigentlich geltenden Regel, so als wollte Jesus am liebsten der ständig Helfende sein, aber leider geriet er zwischendurch in Situationen, in denen er Hilfe nötig hatte. Nein, das gehört notwendig und gewollt mit zu Jesu Liebestätigkeit: Darin „erfüllt“ sich seine Liebe; das heißt doch: Wäre Jesus immer nur kraftvoll der helfende Heiland gewesen, dann wäre seine „Liebe“, seine „Diakonie“, nicht vollständig gewesen! Von einer Diakonie, die herkommt von Jesu Diakonie, muß das gleiche gelten. Wer meint, immer nur helfen zu sollen, wer allein im „Hilfehandeln“ das Wesen der Diakonie definiert sieht, wer als Schwäche bei sich selbst allenfalls das Eingeständnis gelten läßt, daß er mit dem Helfen nicht fertig wird, wer sich weigert zu erkennen: ich vermisse die mir Anvertrauten gelegentlich, denn ohne sie würde mir etwas fehlen, der mag von einem großen humanitären Ideal sprechen (vielleicht aber auch nicht, denn vermutlich landet man mit diesem „Ideal“ rascher als gedacht beim Burn-Out), aber von der Diakonie, wie sie von Jesus gelebt wurde und wie sie von uns wenigstens versucht werden sollte, hat er keinesfalls geredet. – Was Rolf Zerfaß von der Caritas sagt, hat daher auch für die Diakonie Gültigkeit: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen.“ (Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, (Herder) Freiburg, 1992, S. 15). Vereinfacht ausgedrückt: Die vorhin genannte Frau K. kann den Bewohnerinnen des Hauses nur helfen, wenn sie, Wochen von ihnen getrennt, sie ehrlich vermißt, wenn sie neben dem Satz „die brauchen mich doch“ als gleichwichtig den Satz zuläßt: „und ich brauche Frau N. und die anderen ebenso“.

6 und 7.
Die eingangs genannten Thesen, von denen her ich mein heutiges Referat gliedere, trug ich in der Heidelberger Universität vor. Damit ist gegeben, daß ich in zwei Thesen (6 und 7) auf das Verhältnis zwischen praktischer Diakonie und Universitätstheologie einging. Das möchte ich, bis auf eine Sache, überspringen.

  • Nicht überspringen möchte ich die Anfrage, ob wir in der Diakonie nicht die Theologie zu wenig in die Pflicht nehmen und ihr damit erlauben, immer abstrakter zu werden. – Ich denke an eine Tagung mit Religionslehrer(inne)n aus Sonderschulen. Deren Not bestand unter anderem darin, daß sie auf die von schwerbehinderten Kindern gestellte Warum-Frage theologisch nicht zu reagieren wußten. Uns wurde klar: Wenn die Theologie Stärke für göttlich und Schwäche für einen Makel ansieht, ist man selbstverständlich bei solcher Warum-Frage mit seinem Latein am Ende. Auf dieser Tagung ging mir auf: Bei der Vokation schickt unsere Kirche diese Lehrkräfte mit einem theologischen Rüstzeug in die Sonderschulen, in denen sie mit diesem Rüstzeug scheitern müssen. Das gleiche gilt unter Umständen auch von diakonischen Mitarbeitern. Damit will ich sagen: Wir an der religions-pädagogischen und der diakonischen „Basis“ sollten der Universitätstheologie gegenüber wesentlich kritischer und offensiver werden. Diakonische Mitarbeiter sollten Mut entwickeln, alles, was sie theologisch gelernt haben, von ihrer Praxis her kritisch zu sichten. Und sie sollten andererseits den Mut haben, das, was sie an ihrem Ort über Gott und Gemeinde, über Schöpfung und Hoffnung, über Jesus und Nachfolge verstehen lernen, als „Theologie“ zu begreifen, als etwas so Wichtiges, daß eines Tages vielleicht sogar die Professoren davon lernen werden. Und immerhin gibt es schon heute Professoren, die uns in solchem Unternehmen bestärken. Dazu noch einmal Rolf Zerfaß: „Wer heute acht Stunden in der Station für desorientierte alte Menschen oder im Heim für Mehrfachbehinderte aushält, hat jedem akademischen Theologen einen Leidens- und Erfahrensvorsprung voraus, der in Theologie und Kirche Gehör verdient. Er besitzt eine Autorität, die ihm kein Diplom und keine Weihe zu geben vermag“ (Zerfaß a.a.O., S. 74).

    Was hieße das für den theologischen Unterricht in Diakonenschulen? Könnten diese Ausbildungsstätten nicht wesentlich selbstbewußter arbeiten? In den dreißig Jahren meiner Lehrtätigkeit im Martineum ist uns wohl immer bewußt gewesen, daß wir kein Mini-Theologie-Studium anzubieten haben. Aber kamen wir wirklich frei von dieser Vorstellung? War nicht doch der Student im dritten oder vierten Semester unser Wunschtraum, wenn wir an unsere Examenskandidaten dachten? Hatten wir den Mut, von unseren Begegnungen mit Frau N. und all den anderen eine eigenständige Theologie zu entwickeln, die sich herausnimmt, auch Professoren gelegentlich heftig zu widersprechen? Was in der Diakonie an Theologie erkannt und formuliert werden könnte, kann keine Universitätstheologie auf die Beine stellen. Entweder formulieren wir es oder es wird nicht formuliert; das hieße: unsere Schätze und Möglichkeiten werden von uns selbst nicht ernst genommen und gehen damit der Kirche und ihrer Theologie verloren. – Es ist gut, daß ich die letzten Sätze leicht korrigieren muß: Denn es gibt hin und wieder Professoren, die mit ihren Seminaren in Kliniken und Behinderten-Einrichtungen gehen, um dort mit Patienten und Bewohnern zu sprechen, um von ihnen zu lernen. Wenn ich die Dinge nicht völlig falsch sehe, prägt diese viel versprechende Praxis aber noch keineswegs das Wesen heutiger Universitätstheologie.

8.
Es bleibt noch die achte These. Es geht da wieder um die „Konsequenzen“; diesmal aber gehe ich den Weg in umgekehrter Reihenfolge: von der Diakonie hin zum Einzelmenschen. Wenn das Gespräch zwischen Theologie und Diakonie nicht intensiver als bisher geführt wird, verkommt die Diakonie zu einem Anhängsel an die Gesamt-Theologie; die Diakonie in den Gemeinden wird entsprechend zum Anhängsel an die übrige Gemeindearbeit, und die kranken und behinderten Menschen werden zu Anhängsel-Existenzen an die übrige Bevölkerung. Und damit sind wir bei einer heute weit verbreiteten inhumanen These: Es gibt normale Menschen und es gibt unnormale Menschen, „Personen“ und nur noch vegetierende biologisch menschliche Wesen (vgl. noch einmal H.M. Sass, s.o.). Daß die Bioethik, die Peter-Singer-Debatte und anderes sich so großer Publizität erfreuen können, geht somit auch „auf die Kappe“ von Theologie und Kirche. Denn auch die Theologie (davon war ausführlich die Rede) macht schwerstbehinderte Menschen zu Ausnahme-Existenzen, die angeblich von Gott so nicht gewollt sind. Sind wir wirklich so naiv? Wenn wir sagen: Gott will nicht, daß Menschen so leben, dürften wir uns eigentlich nicht wundern, wenn andere das nur ein bißchen anders sagen: Wir wollen nicht, daß so Menschen leben. – Wer heute verantwortlich Theologie betreibt, redet keineswegs (um noch einmal an Brecht zu erinnern) von Bäumen, sondern er muß sich der politischen Dimension und der politischen Implikationen und Folgerungen seiner Arbeit bewußt sein. Sonst könnte es passieren (ich fürchte: es geschieht bereits), daß Theologie und Kirche durch ein unbiblisches Reden von Gott unbeabsichtigt Wasser auf die Mühlen der Euthanasie-Befürworter leiten. Kein Theologie-Treibender kommt um die Frage herum: Richte ich etwas aus, oder richte ich etwas an? – Ich weiß: Die letzten sehr ernsten Sätze sind kein schöner Vortrags-Abschluß. Aber ich halte sie bei der Brisanz unseres Themas gerade deshalb für passend.