Mt 25 – Jesu Kirche als Patientenkollektiv

Ulrich Bach
Jesu Kirche als Patienten-Kollektiv

25. Deutscher Evangelischer Kirchentag,
München (9. bis 13. Juni 1993)

(Kirchentags-Losung: Nehmet einander an)

Überlegungen zum Kirchentags-Bibelarbeits-Text Mt 25, 31 – 46

(Hinweis: Dieser Text war gedacht als eins von mehreren Referaten auf einem vorbereitenden „Kichentags-Bibelarbeiter-Treffen“. Da dieses Treffen kurzfristig abgesagt werden mußte, wurde mein Text als Kopie denen zugeschickt, die für eine Bibelarbeit zu Mt 25 vorgesehen waren.)

Meine Damen und Herren!

Sie kennen die Anekdote: Ein hochrangiger deutscher Politiker beginnt seine Rede in Afrika mit den Worten: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“ Was hat dieses Geschichtchen mit Mt 25 zu tun? – Da muß ich etwas ausholen: Unser Bibeltext hat mir lange Zeit Unbehagen bereitet. Ich konnte nicht sagen, was mich da störte, bis mir vor Jahren eine Mitarbeiterin ein Licht aufsteckte: Wir saßen da, eine recht große Gemeinde, beim Festakt zum soundsovielten Jubiläum eines Behinderten-Wohnheimes. Der Redner erging sich, wie es in der Diakonie keine Seltenheit ist, in dankbaren und lobenden Worten über unsere Behinderten-Arbeit, was man gern mit Mt 25 garniert: Die Mitarbeiter haben dem Ruf Jesu Folge geleistet und sich hingewandt zu Jesu „geringsten Brüdern“. Niemanden schien es zu stören, daß mit den „geringsten Brüdern“ ja wohl die Männer gemeint sein mußten, die, in ihren Rollstühlen sitzend, zahlreich im Raum zugegen waren. Zehn Jahre im Heim wohnen, das heißt also (der Festredner sagt es, und alle scheinen zuzustimmen): zehn Jahre „geringster Bruder“ derer sein, die vielleicht Brüder sind, aber beileibe keine geringsten Brüder. Nein, jemand stimmte nicht zu; die Mitarbeiterin, die hinter mir saß, brachte ihren Protest nicht laut vor, doch so, daß ich’s verstehen konnte; sie zitierte einfach jenen Satz: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger!“

Plötzlich war mein undefiniertes Unbehagen auf den Punkt gebracht: Mögen noch so viele diakonische Aktionen auf Mt 25 zurückgehen, da mischt sich noch anderes hinein, total Undiakonisches, etwas Stolzes, Dünkelhaftes, Abständiges: Wir, die einen: die Stärkeren, die Normalen, die irgendwie Besseren – die anderen: die Schwächeren, die nicht ganz Normalen, die – wie sagte Jesus so schön? – die „Geringsten“.

Hat Jesus das wirklich gesagt? Und mir fallen Situationen ein, die mir in dieser Hinsicht Unbehaben bereiteten:

a) Der Diakonen-Schüler, der von einem schwerbehinderten Mann im Wohnheim gefragt wird: Warum machst du das alles – noch an deinem freien Wochenende schreibst du Briefe für die, die nicht schreiben können! Antwort: Ich mach das, weil ich meinen Heiland so lieb habe. Noch heute freue ich mich über das, was er da zu hören bekam: Ach du Sch…!, ich hatte gedacht, du hast uns ein bißchen lieb.

b) Die EKD-Umfrage (1984). Da wird erkundet, für was die Befragten am liebsten spenden würden. Reichlich für Altenheime und Behindertenhilfe; spärlich für die Renovierung der Orgel. Der offizielle Kommentar: Man spendet lieber für diakonische Aufgaben als für „binnenkirchliche“ Zwecke! Das heißt also: Alte Menschen und behinderte Menschen kommen nicht im Binnenraum der Kirche vor; das heißt also: Von der Kirche Jesu können wir reden, ohne daß wir von Alten und Behinderten reden! Kein Wunder, daß diese Gruppen dann in die Nähe der Exoten geraten.

c) In den Kommentaren der EKU zu Barmen III gibt es Ausführungen zum Thema Diakonie, und hier bezieht man sich auf Mt 25. Interessant, wie man das beides zusammenbringt: die Kirche der Brüder (der Geschwister), Barmen III, und: die Sache mit den geringsten Brüdern, Mt 25. Wie das zusammenzubringen wäre, muß von Barmen III her klar sein: Wenn wir inmitten der Welt der Sünder die Schar der begnadigten Sünder sind, dann gibt es absolut kein Gefälle von oben nach unten: Wir sind nicht besser, wir sind allenfalls besser dran: wir können ein Lied davon singen, was Gnade heißt (die anderen sind nicht schlechter, sie hatten nur keine Gelegenheit, dieses „Lied“ kennenzulernen). Und der EKU-Kommentar? Er behauptet, Diakonie bestehe darin, daß die Kirche der Brüder Verbindung aufnähme zu den geringsten Brüdern Jesu! Die „Brüder“ auf dem Wege zu den „geringsten Brüdern“: plötzlich ist ein Gefälle da, in krassem Gegensatz zu Barmen (aber etwa in Übereinstimmung mit Mt 25?).

So also sieht es aus, wenn es die „Damen und Herren“ auf der einen, die „lieben Neger“ auf der anderen Seite gibt. Und damit sind wir – wieder einmal – abgerutscht in eine Apartheidstheologie: da stehen die einen oben, die anderen unten; da sind die einen Gott näher und lassen sich von ihm zu den anderen, zu den Ferneren, senden; da plant die „Kirche der Brüder“ ihren diakonischen Großeinsatz zugunsten der „geringsten Brüder“. Aber hat es Matthäus nicht tatsächlich so gepredigt? Hat er nicht gesagt: Am Jüngsten Tage werde Jesus kommen, und dann stehen alle vor ihm: Christen und Heiden? Hat er nicht gesagt, Jesus werde dann alle fragen, was sie getan haben, was sie den Menschen in Not, was sie seinen geringsten Geschwistern, getan haben? Hat er damit nicht gesagt, daß die Menschen in Not Jesu „geringste“ Geschwister sind? Nein, er hat etwas total anderes gesagt. Zunächst aber eine Zwischenüberlegung:

Von welcher Seite betrachten wir das gotische Fenster? 

Von wem der folgende Vergleich stammt, weiß ich nicht mehr (Karl Jaspers?), jedenfalls sieht er so aus: Da stehen viele Menschen an einem sonnigen Tage vor einem mittelalterlichen Dom. An dieser Stelle möchte ich den Vergleich sofort ändern und von einem mittelalterlichen, in gotischem Stil kunstvoll gebauten Hospital sprechen. Die vielen Menschen betrachten nun, herumrätselnd, die herrlichen farbigen Glasfenster des Hospitals, können sie aber nicht eindeutig erkennen. Da sie auf der Sonnenseite stehen, sehen sie nur dunkle, farblich kaum zu unterscheidende Flächen; sie kommen über ein kontroverses Fragen und Deuten nicht hinaus. Schließlich geht einer von ihnen in das Hospital hinein; jetzt ist er da, wo man Eiter und Verstümmelungen sieht; jetzt ist er da, wo es nach menschlichen Ausscheidungen und Ausdünstungen riecht; jetzt steht er auf der Schattenseite, was aber eben auch bedeutet: Er sieht die Fenster gegen den hellen Himmel, sieht die leuchtenden Farben der Fenster. Damit sind die Geheimnisse aufgelöst; die Bilder geben keine Rätsel mehr auf: dieses ist ein Weihnachtsbild, jenes eine Osterdarstellung, das sieht doch jedes Kind.

Aus welcher Perspektive lesen wir die Bibel, zum Beispiel Mt 25? Wenn wir auf der Sonnenseite stehen, können wir dieses Kapitel vielleicht nicht anders verstehen, als eben angedeutet. Das Bild ändert sich aber radikal für den, der im Hospital zu Hause ist; für den also, der davon ausgeht (das ist keine späte, einmalige, erst durch Mt 25 vermittelte Erkenntnis), daß Jesus sich mit den Verachteten und an den Rand Gedrängten solidarisiert. Mögen im Neuen Testament recht unterschiedliche Akzente gesetzt sein; eins wird nie behauptet: daß die Starken Gott näher seien als die Schwachen. Die Verachteten und Kleinen sind nicht etwa die „Ferneren“, zu denen die „Brüder“ gesandt werden; sie sind Jesu naher Geschwisterkreis. Sie sind ihm so nahe, daß die anderen entweder mit ihnen Jesu Gemeinde sind, oder sie sind es gar nicht.

Aber ist nicht auch dieses eine Art Apartheidstheologie, dieses Mal nur anders herum? Sind jetzt die Schwachen die „eigentlich“ zu Jesus Gehörenden, und die übrigen wären es nur indirekt? – Ich glaube, nicht. Ich glaube nicht einmal, daß man im Hospital sein muß, um das zu sehen, was diejenigen sehen, die im Hospital wohnen. Manche der draußen Stehenden warten geduldig bis zum Abend; wenn dann, nach Sonnenuntergang, die Kranken aktiv bleiben und etwas Licht machen, kann man auch von außen die Bilder erkennen. Man muß also vielleicht nicht selber ins Hospital gehen; nötig aber scheint zu sein, sich geduldig ein bißchen abhängig zu machen von den Kranken; darauf zu warten, daß die Kranken tätig werden und dadurch den Gesunden die Augen öffnen. Kurz: Nötig ist heute für uns alle, für Kirche und Theologie, ein Perspektivenwechsel. Es ist der gleiche, von dem unsere Geschwister in Lateinamerika reden: das Evangelium von den Armen her lernen. (Das ist kein lateinamerikanisches Thema, das ist ein ökumenisches Thema.)

Nehmen wir also dieses „Glasfenster Mt 25“ aus der Innen-Perspektive des Hospitals in Augenschein:

Der Weltenrichter erscheint „in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm“. Ich schaue die Begleitung des Weltenrichters an und erkenne Petrus und Paulus und andere Jünger. Mir fällt ein, daß auch im übrigen Judentum diese Vorstellung zu finden ist: Wenn der Messias kommt, wird er etwa von Henoch und Elias begleitet (4. Esra 7,28). Hier kommt Jesus als der Weltenrichter: Jesus, als König der Juden, trug bekanntlich eine Dornenkrone. Wenn Jesus nun, wenn dieser König, zum Weltgericht erscheint, besteht seine Herrlichkeit im Kranz der geringsten Brüder; die elend mickrigen Apostel bilden die Ehrengarde des auferstandenen Gekreuzigten (vgl. oben: die Geringsten sind Jesu naher Geschwisterkreis). Denn tatsächlich, diese Begleitung des Weltenrichters wird von ihm so genannt: meine „geringsten Brüder“. (Schon 1901 konnte es H. J. Holtzmann in seinem Synoptiker-Kommentar, S. 288, nur so sehen, daß „die Gäubigen selbst … bereits beim Thron des Königs außerhalb des Gerichts stehen … von ihrer Sichtung war ja schon früher die Rede“: 24,51; 25,12-30.) Mir fallen Jesu Zeigefinger auf: Seine Hände weisen seitlich nach unten, wie wir es kennen vom Thorvaldsen-Christus. Anders ist nur, daß er mit den Zeigefingern auf die Umstehenden zeigt: was ihr diesen meinen geringsten Brüdern getan habt. Gericht, aber Ruhe; großer Ernst, aber Friede – das sind die „Farben“ dieses Bildes.

Ich überlege: Wie bewegt Jesus wohl seine Hände bei jenem anderen Verständnis, wenn also alle Menschen in Not seine geringsten Brüder genannt würden? Dann müssen sich die Gemeinten, dann müssen sich diese Menschen irgendwo zwischen denen befinden, die hier „alle Völker“ heißen. Denn eine umgrenzte Gruppe können sie nach dieser Interpretation kaum bilden, da sie weder „alle Völker“, noch die auf die linke Seite, noch die auf die rechte Seite Sortierten sind; sie müssen sich irgendwo und überall zwischen den unzählig Vielen befinden; sehr gewagt ist es, trotzdem „diese“ zu sagen, als sei doch von einer Gruppe die Rede. Mit einem Mal gerät daher in meiner Phantasie der Weltenrichter notgedrungen in eine sagenhaft verkrampfte Hektik: was ihr diesen und diesen und diesen „geringsten Brüdern“ getan habt: Jesu Finger hopsen von hierher nach dorthin; er pickt, aufgeregt gestikulierend, in die Menge. – Hektik oder Ruhe: welches Bild ist das von Matthäus gepredigte? – Da fällt mein Blick auf ein anderes Fenster: Es stellt Mt. Kap. 10 dar, und Jesus nimmt eine sehr ähnliche Körperhaltung ein: Wer einem von „diesen“ (!) Geringen (!), einem von meinen Jüngern, auch nur einen Becher Wasser reicht, dem soll es am Ende der Tage nicht unbelohnt bleiben. Sonderbar: Dieses „Fenster“ wird auch von „außen“ so erkannt, daß hier „diese Geringen“ fraglos Jesu Jünger sind. Ist das bei Mt 25 so viel schwerer zu erkennen? In beiden Fällen drei Personen bzw. Gruppen: Jesus, seine geringen Jünger und die anderen; und es geht beidemal um die Frage, ob „die anderen“ den Jüngern Jesu ihr Elend ein wenig gemildert haben oder nicht. Was für dieses „Fenster“ klar ist, kann bei jenem nicht plötzlich total anders gemeint sein. Demnach zeigt auch in Mt 25 Jesus auf seine Jünger, wenn er von seinen „geringsten Brüdern“ spricht.

Das Bild strahlt nicht nur Ruhe aus, auch Trost. Wer euch hört, der hört mich – Jesus solidarisiert sich mit seinen Predigern, das kennen wir. Wie aber, wenn die Prediger nicht predigen können, weil sie krank sind; nicht predigen können, weil man sie ins Gefängnis warf; nicht predigen können, weil sie in fremde Länder entweichen mußten, wo sie die Sprache nicht beherrschen – wie dann? Hat unser Meister uns jetzt vergessen? Der Evangelist predigt: Auch dann solidarisiert sich Jesus mit uns; so sehr tut er das, daß der Heide, der uns unser Elend ein bißchen erleichterte, von Jesus angesehen wird als einer, der Jesus geholfen hat. – Ist es Zufall, daß mein Blick auf ein anderes „Fenster“ fällt, auf das Fenster von Mt 2? Da liegt das Wickelkind, und vor ihm knien die Heiden. Heiden, die reicher sind als das Kind. Heiden, die dem Elend dieses Kindes ein bißchen aufhelfen können. Die Sterndeuter bringen dem Kind neben Weihrauch und Myrrhe eben auch Gold; und dieses Zahlungsmittel wird bald gebraucht werden für die Flucht nach Ägypten. Was wäre geworden aus unserem Weltenretter, wie hätte er jemals der Weltenrichter werden können, wenn ihm Heiden nicht das getan hätten, was sie taten: sie finanzierten seine Flucht? – Das also predigt Matthäus: Laßt euch die Hilfe der Heiden gefallen; vertraut euch dem himmlischen Vater an, der Sonne und Regen gibt; der die Lilien auf dem Felde kleidet (wie eigentlich?: mit Sonnenschein und Regen), der auch euch versorgen kann (wie eigentlich?: mit den Raben, die dem Elia Speise bringen; mit Sterndeutern, die dem Krippenkind Gold brachten; mit einem Gefängniswärter, der dem Paulus in Cäsarea eine Sonderration zuschiebt; mit einem Gestapo-Mann, der für Bonhoeffer einen Brief nach draußen schmuggelt). Vertraut euch dem himmlischen Vater an; seid nicht besser als die Heiden, steht nicht ein paar Stufen über ihnen; gönnt ihnen die Rolle, euch zu helfen; seid nicht zu stolz, ihnen „danke“ zu sagen – dann seid ihr meine Brüder, Brüder des armseligen Krippenkindes; dann seid ihr meine „geringsten Brüder“.

An anderer Stelle führte ich für diese These noch weitere Begründungen an („Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein“, S. 73 ff). Natürlich bin ich nicht der einzige, der sie vertritt. Klaus Wengst sagte mir telephonisch, sie finde sich auch im jüngsten Mt-Kommentar (von Graham N. Stanton, 1992). Zusätzlich zu dem dort („… Traum …“) Gesagten jetzt noch ein weiteres Argument. Ich frage nach dem Motiv: „Indem ich den Armen etwas gebe, gebe ich Christus etwas“. Dieses Motiv wird in Mt 25 als ein zweifellos ehrenwertes Motiv eingesetzt. Wie ist es zu erklären, daß dieses Motiv auch kränken kann (ich erinnere an das, was ich vom Diakonenschüler erzählte)? – Wenn ich die Dinge richtig erspüre, kommen wir der Sache auf den Grund, wenn wir den Satz „ich habe mit ihm (im Grunde) nichts zu tun“ (bzw.: „ich habe mit ihm etwas – oder: sehr viel – zu tun“) ins Spiel bringen. Zwei Beispiele: a) Nach einem Streit bitte ich meine Frau um Verzeihung. Wenn sie dann sagen würde: ich verzeihe dir, denn du bist ein Bruder Jesu, dann müßte mich das kränken (eben weil zwischen den Zeilen gesagt ist; im Grunde habe ich mit dir nichts zu tun). b) (Dieses Beispiel beruht auf Tatsachen:) Mein Onkel lädt im Mai 1945 einen amerikanischen Soldaten der Besatzungsmacht privat zum Kaffee ein, von dem er per Zufall hörte, daß er (wie er selber) evangelischer Pfarrer sei. Auch diese Begründung (mindestens, wenn sie deutlich ausgesprochen wird) denkt im Muster: an sich haben wir miteinander nichts zu schaffen; und trotzdem wurde sie nicht als Kränkung empfunden – warum nicht? Der Grund kann nur darin bestehen, daß hier zwei Menschen durch das Argument „wir sind doch beide …“ näher zusammengerückt werden; im Beispiel „a“ dagegen wurde durch das gleiche Denkmuster eine lange bestehende enge Verbindung gelockert. – Wenn Mt 25 so verstanden wird: Wir (auch wir Christen) sollen den Notleidenden helfen, denn sie sind Jesu Geschwister, dann wird damit (ungewollt) behauptet: an sich haben Christen mit Notleidenden nichts zu tun – das wäre eine unbiblische und unmenschliche Aussage (diese Aussage hat zumal in einem Evangelium, das auch den Satz Mt 7,12 bringt, keinerlei Chance). Wenn dagegen Mt 25 anders verstanden wird, nämlich so: Heiden lindern gelegentlich die Not, in die Christen geraten, und sie tun es mit der Begründung, daß diese anderen Christen, daß sie Brüder Jesu sind, dann ist auch jetzt mitzuhören: an sich haben wir (Heiden) mit euch Christen ja wenig zu schaffen; aber diese Aussage ist durchaus legitim: Die Sache Jesu hat mich noch nie überzeugt; aber geschadet hat sie gewiß auch nichts, jedenfalls will ich nicht zulassen, daß Jesu Leute Hunger leiden. Mit solchem Denken und dem entsprechenden Tun bringen sich Heiden in Verbindung mit der Sache Jesu, und zwar so eindeutig, daß diese Verbindung am Jüngsten Tage vom Weltenrichter als fest bestätigt wird. – Und was ist mit alledem den Christen gesagt (Matthäus hält keine Rede an die Heiden, er predigt nicht zum Fenster hinaus)? Den Missionaren Jesu wird der Blick dafür geöffnet, daß sie unter Umständen auch dann Missionare bleiben, wenn sie keine Gelegenheit zum Predigen haben (s.o.): Ihr streckt eure Hände nicht nur aus, um andere zu taufen und sie so in Verbindung mit Christus zu bringen; ihr streckt gelegentlich die Hände aus, um ein Stück Brot zu erbetteln, und auch auf diese Weise bringt ihr Menschen mit Christus in Verbindung. (Ein Nebengedanke: Der unmittelbare Kontext, Mt 25, 14-30, könnte einen Apostel, der krank oder gefangen ist, ängsten: Sind jetzt die mir anvertrauten Pfunde nicht gegen meinen Willen vergraben? Bin ich somit vielleicht ein „böser und fauler Knecht“ [Vers 26]? Nein, denn unser Herr erntet auch da, wo er nicht gesät hat [Vers 24.26]: Gott kann – durch seine Apostel! – auch da Menschen mit sich in Verbindung bringen, wo die Apostel das Wort nicht „ausstreuen“ konnten; noch einmal: 24 und 26.) – Vorhin sahen wir: Bewohner des Hospitals sind zuweilen Jesu Boten, die den anderen die Augen öffnen. Dem entspricht jetzt: die Apostel bleiben, auch wenn es sie ins Hospital verschlagen hat, Jesu Boten. Denn Jesus solidarisiert sich umfassend mit seinen Jüngern: nicht nur für die Situationen, in denen sie predigen (können), sondern auch für die Zeiten, in denen es ihnen elend geht.

„Jesu geringste Brüder“ – das ist unser Würdename, darüber kommen wir nicht hinaus. Mehr kann es nicht geben für einen, der dem nachfolgen will, vor dem die Sterndeuter knieten. Mehr kann es nicht geben für einen, der sich zu dem zählt, der seine Jünger gebeten hat: wacht eine Stunde mit mir; der sich von einem heidnischen Soldaten sterbend den Schwamm reichen ließ.

Die „geringsten Brüder“ – Titel für Exoten oder Nomen Ecclesiae?

Habe ich den Text jetzt zerstört, mindestens für den vorgesehenen Zweck? War er nicht für den Kirchentag ausgesucht als ein Text, der uns aufruft zu mehr Menschlichkeit: Helft den Arbeitslosen; kümmert euch um Asylanten; protestiert, wenn „Spastis geklatscht“ werden; mischt euch ein bei den Nord-Süd-Fragen! Ist Matthäus 25 jetzt für all so etwas nicht völlig unbrauchbar geworden? Auf den ersten Blick: gewiß ja; denn unmöglich geworden ist jedes forsche „los, ihr Brüder und Schwestern, Ärmel hoch; wir wollen den geringsten Geschwistern helfen, denn in ihnen helfen wir unserem Herrn“. Aber vielleicht ist das gerade gut so? Gut auch für die Diakonie, gut für alles kirchliche Sozial-Engagement? Vielleicht wird jetzt erst Solidarität wirklich möglich.

Denn wenn „ich“ zu den Kranken und Hungernden gewiesen werde, setzt das voraus, daß ich selber nicht krank bin, keinen Hunger leide. Ich sehe mich auf einer Ebene, die vielleicht nicht leid-frei ist, aber da gibt es relativ wenig Leid. Das massive Leid gehört nicht zu mir, gehört überhaupt nicht in den „Binnen“-Raum (s.o.) der Kirche. Das Gering-Sein ist nicht typisch für uns, es ist typisch für die unterschiedlich „fernen Nächsten“; es bleibt ein bißchen exotisch; es ist die Ausnahme, nicht die Regel: Die Not der „Geringsten“ wird global in der „Dritten Welt“ gesehen und lokal nur am Rande unserer Gemeinden. Wir wollen zwar helfen, aber wir helfen aus einer abgesicherten Position heraus. Aus einem binnen-kirchlichen Schon-Raum senden wir unsere Liebesgaben an andere, nach „draußen“. – Dagegen die Predigt des Matthäus: Hunger haben, eingelocht sein – nun, Matthäus sagt nicht geradezu, das seien die „notae ecclesiae“ (die unverzichtbaren Kennzeichen der Kirche). Matthäus sagt nicht: nur am Elend kann man Kirche erkennen. Aber so viel sagt er: diese Dinge sind typisch für uns, nicht nur typisch für irgendwelche anderen; nichts davon ist in der Kirche Jesu (in ihrem Binnen-Raum) exotisch. – Ich glaube schon, wir dürfen (und sollen!) uns freuen, wenn wir satt zu essen haben, wenn uns niemand bespitzelt, wenn wir für heute und morgen keines Arztes bedürfen. Aber die Selbstverständlichkeit, jedes: „Das ist doch klar so, warum sollte es denn anders sein?“, dieser naive Schön-Wetter-Glaube wird uns gründlich zerschlagen. Und gerade damit werden wir zu Geschwistern der Menschen in Not, wenn uns (anthropologisch) die Rolle der Care-Paket-Schicker genommen wird.

Bei meinem Freund lernte ich, daß so etwas in Ansätzen Wirklichkeit werden kann. In einem gemeinsamen Urlaub sagte er mir: „Wie gut, daß ich nicht im Rollstuhl sitze!“ Nein, diesen törichten Satz sagte er eben nicht. Er sagte ihn ähnlich, und damit sagte er es total anders: „Wie gut, daß nicht auch ich im Rollstuhl sitze; dann ging’s doch gar nicht mehr mit uns.“ Ein andermal sagte er: „Wir beide haben zusammen zwei gesunde Beine, und das reicht für diese vier Wochen.“ Unausgesprochen war da unüberhörbar mitgesagt: „Wir beide haben zusammen einen Rollstuhl, und das ist zu verkraften für diese vier Wochen.“ – Daß er kräftig war, war gut; aber nicht „gut für ihn“, so daß er sich in seiner Stärke sonnen könnte; es war „gut für uns beide“. Wir schmissen zusammen (wenigstens für vier Wochen) und stellten fest: es reicht für uns beide.

Liegt das nicht genau auf der Linie von Mt 25? Mir geht immer stärker auf die theologische Bedeutung des mehrmaligen „ich“ in diesem Kapitel. Jesus sagt: „ich“ war krank, gefangen, Flüchtling … Das bedeutet zunächst etwas für die Christologie: Wie wir nach 1945 mühsam gelernt haben, daß „Gottes-Sohn-Sein“ und „Jude-Sein“ keine Gegensätze sind (Jesus war ein Jude), so müssen wir endlich lernen, daß „Gottes-Sohn-Sein“ und „Krank-Sein“ keine Gegensätze sind; Jesus sagt: ich war krank (ob er es jemals tatsächlich war, weiß ich nicht). Jesus sagt: ich war gefangen (und das blieb bekanntlich nicht nur ein Satz). Jesus sagt: ich war Flüchtling (Matthäus ist der einzige Evangelist, der vom Flüchtlingskind Jesus in Ägypten erzählt). – Für die Ekklesiologie ist von großer Bedeutung, daß wir hier nicht ausweichen, sondern den Mut finden, die „geringsten Brüder“ auf die Jünger Jesu zu beziehen; damit wird nämlich klar: Krank-Sein, Hunger-Haben, Flüchtling-Sein – das alles gehört eindeutig in den Binnenraum von Kirche. Kirche versammelt sich nicht vor dem Hospital, um für die darin Lebenden zu sammeln. Kirche ist das Hospital. Luther sagte: Die Kirche ist der Ort und das Krankenhaus der Kranken und Heilungsbedürftigen; erst der Himmel ist der Fürstenhof für Gesunde und Gerechte (Luther, Clemen-Ausgabe, Band 5, S. 243. – Aus diesem Zitat entwickelte ich den Ausdruck „Kirche als Patienten-Kollektiv“, zuerst: „Volmarsteiner Rasiertexte“, 1979, S. 74 und: „Boden unter den Füßen hat keiner“, 1980, S. 203). – Auch für die Anthropologie scheint mir das zur Christologie Gesagte enorm wichtig zu sein: Wenn sich Gottes-Sohn-Sein und Krank-Sein nicht gegenseitig ausschließen, dann erst recht nicht Mensch-Sein und Krank-Sein: Ein Kranker, ein Behinderter ist ein normaler Mensch, ein gutes Geschöpf Gottes; auch der Schwerstbehinderte ist ein „ganzer“ Mensch. Von da aus müßten wir uns gründlich verabschieden von allen Entwürfen, nach denen Krankheiten etwas Gegengöttliches, etwas nicht zum wahren Menschsein Passendes bedeuten. Gesund-Sein und Krank-Sein: beides ist in Gottes guter Schöpfung so normal wie Wind-Stille und See-Sturm. Wie stark ist unsere Theologie eigentlich ideologisch verseucht, wenn wir zwar die Tatsache rühmen, daß Christus sich mit den Kranken identifiziert, aber wir scheuen uns, daraus die anthropologische Konsequenz zu ziehen: „ich“, der Mensch, „bin“ krank, könnte (als Normalfall) krank sein? – Zugegeben, es ist lästig, behindert zu sein (und „lästig“ ist noch eine sehr vorsichtige Formulierung). Aber das ist eine Aussage über unsere Gefühle, Nerven und Erfahrungen; damit ist noch nichts gesagt über Gottes Tun und Planen mit uns Menschen; davon aber redet unser Matthäus-Text, indem er ansagt: Keine Krankheit, keine Behinderung ist ein anthropologisches Malheur.

Ich blicke noch einmal auf das, was ich von meinem Freund erzählte, und es wird schnell deutlich, daß unser Text für die Diakonie äußerst wichtig sein könnte, allerdings nicht in der Weise, daß wir in unseren humanitären Impulsen biblisch unterstützt würden, sondern so, daß uns der Text in die Buße führt. Denn wer wagt es schon, für dauernd und nicht nur für vier Wochen, zudem in allen in Mt 25 genannten Beispielen und nicht nur im Blick auf einen einzelnen (zudem sogar befreundeten) Rollstuhlfahrer, solche Sätze zu sagen? Ich denke an einen Obdachlosen. In Parallele zu den Sätzen meines Freundes müßte ich sagen: wie gut für uns beide, daß wenigstens ich eine Wohnung habe; die wird reichen für uns zwei. Im Blick auf einen Sozialhilfe-Empfänger: wie gut für uns beide, daß wenigstens ich ein ordentliches Gehalt beziehe; wenn wir deine Unterstützung und mein Gehalt zusammenschmeißen und halbieren, wird es für uns alle reichen. – Ich spüre: ich wenigstens will so lieber nicht reden (allenfalls sehr selten, also als Ausnahme, und dann auch nur in streng eingegrenztem Rahmen).

Ich weiß nicht, ob der Text Mt 25 unbedingt diakonisch „gemolken“ werden soll. Nur: wenn, dann müßten wir gewiß so reden, wie ich es gerade anklingen ließ. Jedenfalls dürfte unsere Gewohnheit, von diesem Text abzuleiten, daß wir Krankenhäuser bauen (zum allergrößten Teil übrigens mit staatlichen Geldern), und andere sind die Patienten (eben die „Geringsten“, die uns [nicht etwa der Staat, sondern] der Herr anvertraut hat), diese Gewohnheit dürfte ein arges Mißverständnis des Textes sein.

Matthäus 25 – unbrauchbar für diakonische Impulse? Keineswegs. Dieser Text ist sehr brauchbar für solche Sachen: ungemütlich brauchbar, zum Weglaufen brauchbar. Oder vielleicht auch: zum bußfertigen „kleine Schritte probieren“ brauchbar.

Hilfe-Handeln – oder: Sich-gegenseitig-nötig-Haben?

Ich komme zum Schlußteil. Deutlich gibt es in meinen Ausführungen zwei Tendenzen: Eine Einladung, den Text Mt 25 aus der Perspektive der Hospitalbewohner zu lesen (dann sind mit „geringste Brüder“ die christlichen Gemeinden, dann sind „wir“ gemeint); und gleichzeitig eine Warnung davor, diesen Text nur von „draußen“, von der Sonnenseite aus, in Augenschein zu nehmen (dann ist bei „geringste Brüder“ an andere, nämlich an alle Menschen in Not gedacht). Da in den vorangehenden Ausführungen die „Einladung“ deutlich im Vordergrund stand, soll nun noch die „Warnung“ thematisiert werden:

Wovor eigentlich warne ich? Ich weiß es selbst nicht genau. – Möglichkeit 1: Ich warne insgesamt vor der üblichen Auslegung, da es gar nicht ausbleiben kann, daß sie in Apartheids-Theologie abrutscht. – Möglichkeit 2: Ich warne nur vor Auswüchsen dieser Auslegung, sofern sie in Apartheids-Theologie abrutscht.

Ob sie dahin abrutschen muß, weiß ich aber eben nicht. Ich kann nur sagen: Was (nicht nur im Bereich der Diakonie) zu Mt 25 oft gesagt wird, kann kaum im Sinne der Matthäus-Predigt sein, weil sich nämlich offenbar ein Apartheids-Gefälle, mindestens gewisse Versatzstücke einer Apartheids-Theologie sozusagen automatisch einstellen. – Das ist natürlich noch keinerlei Beweis.

Ein Hinweis allerdings soll es sein, wenn ich abschließend auf Jürgen Moltmanns Auslegung zu sprechen komme (Kirche in der Kraft des Geistes, 1975, S. 141ff). Ich wähle diesen Text aus doppeltem Grunde: Er gehört nicht zu den Diakonie-Texten im engeren Sinne; und (dieses ist mir der wichtigere Grund): in J.Moltmann sehe ich einen der wenigen bekannten Theologen, die sehr deutlich angehen schon gegen das, was ich Apartheids-Gefälle nennen möchte. Das sei belegt mit einem Satz aus „Diakonie im Horizont des Reiches Gottes“, 1984 (S. 27): „Wir finden das Reich Gottes mit Jesus, wenn wir in die Gemeinschaft der Armen, Kranken, Traurigen, Schuldigen eintreten, sie als Reichsgenossen anerkennen und [jetzt kommt die m.E. entscheidende Stelle] von ihnen als Brüder angenommen werden.“ Hier ist aller Einbahnstraßen-Diakonie gründlich der Abschied gegeben. Nicht nur: der andere braucht mich, sondern ebenso: ich brauche den anderen, ich habe es nötig, von ihm als Bruder (als Schwester) angenommen zu werden.

Nun aber zu Moltmanns anderem Text (1975). Auch hier ist eindeutig, daß er kein Gefälle entstehen lassen möchte. Aber kann er es verhindern? Moltmann übernimmt die Blickrichtung der üblichen Auslegungen (die „geringsten Brüder“ sind nicht wir, sie sind überhaupt nicht hier; sie sind dort: dort draußen, allenfalls: dort an unseren Rändern), wenn er von einer doppelten Gegenwart Christi redet: im Apostolat („wer euch hört, der hört mich“) und in den Geringsten („wer sie besucht, besucht mich“) (S. 146). Wenn es auf der gleichen Seite heißt: „Der Elende ist keineswegs das Objekt christlicher Nächstenliebe und moralischer Pflichterfüllung“, dann soll damit die diakonische Einseitigkeit wiederum klar abgewehrt sein. Kritische Frage jedoch: Ist dieses Nein zur diakonischen Einseitigkeit so „dicht“, daß keinerlei Spalt bleibt für das Eindringen des Apartheids-Gefälles? Oder gibt es diesen Spalt doch; könnte er bereits in der Behauptung einer „doppelten“ Gegenwart Christi zu sehen sein, in dem Gegenüber von Apostolat und Geringsten? Zwar werden (S. 148) die „zwei Bruderschaften Christi“ („Bruderschaft der Gemeinde“, „Bruderschaft der Geringsten“) wieder zusammengefügt als „doppelte Bruderschaft Christi“. Woher aber kommen trotz allem die Anklänge an ein Apartheids-Gefälle – oder sind es nicht nur Anklänge? Ich frage etwas ratlos, was gemeint ist mit einem Satz von Seite 148: „Das Apostolat sagt, was die Kirche ist. Die Geringsten sagen, wohin die Kirche gehört.“ Die Geringsten, mögen sie noch so wichtig sein, gehören also nicht auf die Seite des Apostolats. Spitz gefragt: Sind sie etwa für das Wesen der Kirche nichts-’sagend‘?! Das wäre freilich eindeutige Apartheids-Theologie, aber so kann es wohl nicht gemeint sein. Was aber ist hier gemeint?

Mit diesen Fragen bin ich bei einer These, die seit etwa 1970 in den Befreiungstheologien und auch sonst in der Ökumene entdeckt worden ist: Die Geringsten sind Boten des Evangeliums, sie gehören durchaus auf die Seite des Apostolats. 1975 (im gleichen Jahr erschien Moltmanns Buch) sagte man bei der Weltkirchenkonferenz in Nairobi: „Wie kann die Kirche sich dem Zeugnis öffnen, das Christus durch diese [gemeint: behinderten; U.B.] Menschen ablegt?“ (Nairobi-Dokumente, S. 29). Kirche ist also nicht schon fertig, bevor sie ins Hospital geht. Vielmehr lernt sie gerade da (nicht von den Aposteln, sondern von den Kranken – und darin werden die Kranken zu Aposteln), was Kirche ist. – Eine alte Kirchenordnung sagt, laut Rolf Zerfaß (Lebensnerv Caritas, 1992, S. 64 und 196), der Diakon sei das Auge der Kirche. Eine Kirche, die den Blick auf die Kranken nicht täglich (aus- und ein-)übt, ist blind; sie kann dann auch nicht für sich selbst sagen, „was Kirche ist“ (das könnten allenfalls gescheite Schreibtisch-Definitionen sein).

Wenn ich die Befreiungstheologien nicht völlig falsch verstehe, ist das Aufregende an diesem Punkt: beides fällt zusammen. Indem ich (nur indem ich) ins Hospital hineingehe, erkenne ich, was Kirche ist; und: wenn ich erkenne, was Kirche ist, bin ich sofort im Hospital. – Gerhard Ebeling sagte schon vor etlichen Jahren:

„Es ist ein Grundirrtum, es für zweierlei Ding zu halten: das Evangelium zu verstehen und es dann dahin zu bringen und verständlich zu machen, wo es ausgerichtet werden soll. Wir müssen endlich begreifen, daß das nicht zweierlei sondern eines ist. Was es um das Evangelium ist, versteht nicht nur der andere, sondern verstehen auch wir selbst als Theologen nur dann, wenn wir uns auf die Welt der Menschen einlassen, denen das Evangelium gilt, und deren Welt, selbst wenn sie scheinbar nicht die unsere ist, doch um Jesu willen unsere eigene Welt ist. Die tiefsten und verborgensten Verständnisschwierigkeiten, die uns Theologen selbst erwachsen, haben darin ihren Grund, daß wir mit unserer Theologie am falschen Ort sind.“ (Gerhard Ebeling, „Hauptprobleme der protestantischen Theologie in der Gegenwart“, ZThK 1961, 123-136; Zitat: S. 135)

Ein anderes Moltmann-Zitat (S. 146): Christus identifiziert sich auf doppelte Weise: „Im Falle des Apostolats liegt … eine Identifikation mit der aktiven Sendung vor; im Falle der Geringsten aber eine Identifikation mit der leidenden Erwartung.“ Einerseits also: Apostolat, aktiv, Sendung; andererseits: Geringste, Leiden, Erwartung.

Ich möchte dagegensetzen, was wir im Volmarsteiner Andachtskreis Bethesda bei der alten Frau N. lernten. Frau K., eine nichtbehinderte Dorfbewohnerin, die mit zum Kreis gehört, war mehrere Wochen krank gewesen; heute war sie wieder dabei und sagte, sie habe uns auch „richtig etwas vermißt“. Da macht Frau N. ein sehr nachdenkliches Gesicht und sagt drei Sätze, die ich mit ihrer Erlaubnis sofort aufschrieb: „Ist viel wert. Ist wenigstens einer, der uns vermißt. Ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.“ Hier protestierte die von Geburt an behinderte Frau N. gegen jene Zweiteilung, nach der sie als Behinderte auf die Seite des Leidens und des Wartens gehört (natürlich gehört sie auch dahin; sie kann erheblich schimpfen, wenn sie zu lange die Hilfe einer Mitarbeiterin vermissen muß): Frau K. hat es richtig gemacht. Sie hat erkannt, wie wichtig Frau N. ist: sie ist so wertvoll, sie ist so selbstverständlich meine Schwester, daß mir etwas fehlt, wenn wir länger nicht beisammen sind. – Frau N. wagt mit ihren zwei Stöcken den aufrechten Gang: Ich bin wer; euch fehlt etwas, wenn ich auf Dauer nicht bei euch bin. Man muß nicht nicht-behindert sein, um solche Sätze sagen zu dürfen. Frau N. verdrängt nicht das eine: „Geringste, Leiden, Erwartung“ (s.o.); und trotzdem nimmt sie das andere ebenfalls auch für sich in Anspruch: „Apostolat, aktiv, Sendung“ – warum auch nicht? – Und nachdem ich im Kreis diese schier revolutionäre Wende im Denken der Frau N. ausführlich zur Sprache gebracht hatte (die „Armen“ merken zuweilen ohne interpretierende Hilfe nicht, was sie da liefern, wie enorm das ist, was sie mit wenigen Worten predigen), bekam ich auch noch „mein Fett“ ab: Frau N. schaute mich kritisch-schmunzelnd durch ihre starken Brillengläser an: „Ja, Herr Pastor Bach, haben Sie mich denn etwa schon mal vermißt?!“ – Diese Geschichte der Frau N. kann gelesen werden als Illustration jenes Moltmann-Satzes (1984), nach dem wir es nötig haben, von den „Armen“ angenommen zu werden; gleichzeitig scheint sie ein kritisches Licht zu werfen auf seine früheren Sätze (von 1975).

Ein drittes Zitat von J.Moltmann nur ganz kurz (ich vermute, daß wir hier ins Zentrum der Argumentation kommen und eigentlich also besonders ausführlich werden müßten): „Im Apostolat spricht der erhöhte Herr. Sollte in den Geringsten nicht der Gekreuzigte sprechen?“ (S. 146). Schon in der Behauptung zweier Gruppen (Apostolat / die Geringsten) sah ich die Gefahr des Apartheids-Gefälles (s.o.). Wird diese Gefahr jetzt nicht noch gesteigert durch die Zuordnung von Apostolat zu Ostern und der Geringsten zu Karfreitag? Spricht im Apostolat nicht auch der Gekreuzigte (nach Joh 20,20f läßt sich der Auferstandene, bevor er die Jünger sendet, durch seine Wunden identifizieren!)? Und ist es für die Geringsten nicht von entscheidender Bedeutung, daß der Erhöhte ihnen zusagt, er sei alle Tage bei ihnen (Mt 28,20)?

Alles in allem: ich kann und will nicht beweisen, daß es unabwendbar zur Apartheids-Theologie führt, wenn man Mt 25 in der üblichen Blickrichtung (hier – dort; s.o.) liest und auslegt. Aber die Lektüre der Moltmann-Passage gibt mir doch zu denken: Wenn sogar J.Moltmann, der eindeutig ein Abschieben der „Geringsten“ in die Objekt-Rolle verhindern will (s.o.), dennoch nicht loskommt von (sehr vorsichtig gesagt) gewissen Anklängen an ein Apartheids-Gefälle, dann scheint es nicht abwegig zu sein, doch insgesamt zu warnen vor der üblichen Auslegung dieses Matthäus-Textes.

Die Befreiungstheologie des Matthäus kann offenbar nur in jener anderen Sicht in den Blick kommen: Wir sind die Geringsten. Wir sind die Brüder des Wickelkindes, das auf die Hilfe der Heiden angewiesen war. Wir sind die Kinder des Vaters, der die Lilien auf dem Felde kleidet und der „viel mehr“ auch uns kleiden (und sonstwie versorgen) kann, was hin und wieder heißen wird, daß wir für die Hilfe heidnischer Mitmenschen zu danken haben. Frei sind wir, solange der Weltenherr uns darin (ich sage nicht: deswegen) seine Geschwister nennt, seine kleinen, seine „geringsten Schwestern und Brüder“.

Diesen Namen tragen wir auch dann, wenn es uns (zur Zeit) gut geht, wenn uns weder Hunger noch Gefängnis direkt belasten. Denn die Matthäus-Predigt lädt uns ein, uns nicht in unseren Vorteilen zu sonnen, sie nicht für uns allein auszubeuten (das würde uns voneinander trennen), sondern zu wissen, zu sagen und zu praktizieren: Wie gut für uns beide (s.o.), daß es wenigstens mir einigermaßen gut geht. – Keineswegs also werden dadurch, daß wir einerseits in den „geringsten Brüdern“ von Mt 25 die Jesus-Jünger (das heißt: uns) erkennen, daß wir andererseits aber zur Zeit ohne besondere Not sind, soziale Impulse verhindert; im Gegenteil: sie können jetzt, weitab von aller Geber-Pose, ehrlich werden, solidarisch, geschwisterlich. Günter Ebbrecht sagte 1987 in anderem Zusammenhang: „Nicht, weil ich genug habe, teile ich mit denen, die nicht genug haben, sondern weil ich das Bedürftigsein mit ihnen teile, Verwundbarkeit und Verletzlichkeit in mir selbst kenne und darum weiß, wie gut es tut, Nähe und Stärkung zu erfahren. Darum kann ich mich in die Bedürftigen, Verwundeten und Verletzten hineinversetzen und kann sie teilhaben lassen an dem, dessen ich selber so dringend bedarf.“  [G.Ebbrecht, „Als Jesus das Volk sah, jammerte es ihn.“ (Mt 9,36), Weisheit, Güte und Barmherzigkeit im Umgang mit kranken und gesunden Menschen, in: Veröffentlichungen der Evangelischen Akademie Iserlohn, Reihe „Studienhefte“, Aug. 1987, S. 19.]