Wir Behinderten und die christliche Gemeinde

Wir Behinderten und die christliche Gemeinde –
womit dürfen – womit müssen wir rechnen?

Die übliche Frage-Richtung kehre ich einmal um. Heute frage ich nicht als Gemeindeglied, als Pastor in unserer Kirche, nach den behinderten Menschen: Was sollen wir für sie tun, wie können wir sie besser verstehen, auf welche Weise könnte ihre Einbeziehung in unser Gemeindeleben intensiviert werden? So berechtigt diese Fragen sind, heute will ich meinen eigenen Rollstuhl, auf den ich seit Jahrzehnten angewiesen bin, bewußt zum Ausgangspunkt meines Denkens wählen: Wie soll unsereiner mit der Kirche klarkommen?, was für eine Kirche ist das eigentlich?, was kommt auf uns zu, wenn Kirche uns tatsächlich intensiver einbezieht: wird uns dann (ich überspitze bewußt) die Luft abgeschnürt, oder erleben wir, daß wir endlich frei durchatmen können? – Welche Erfahrungen mit unserer Kirche mögen aus den provozierenden Worten sprechen, die mir ein Rollstuhlfahrer schrieb; er bete seit einiger Zeit: “Gott, schütze die Spastiker. die Muskelschwundler, die Verwirrten … Gott, schütze sie alle – vor den Kirchen”?

Jedenfalls sollten wir damit rechnen: Die Kirche scheint kaum einen Zweifel daran zu kennen, daß es uns um so besser geht, je fleißiger die kirchlichen Aktivitäten uns gegenüber sind. Schon die Frage allein, ob uns auf solche Weise nicht vielleicht die Luft enger werden kann, wirkt wie eine grobe Ungezogenheit. Das darf mich aber nicht hindern, die Frage zu stellen und auch schon eine erste Antwort zu versuchen: Kirche, besonders Caritas und Diakonie, sieht sich oft so sehr in der Rolle der Aktivisten, daß mindestens die Gefahr besteht: Behinderte Menschen geraten dadurch verstärkt in die Rolle der (wenn auch gut versorgten) Objekte. Darum klingt es für uns wie eine Befreiung, fast wie eine kopernikanische Wende, wenn wir einen (nichtbehinderten) Theologen sagen hören: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen“ (Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, 1992, S. 15). Das heißt: Wer über Hilfe reflektiert und sie organisiert, darf Hilfsfähige und Hilfsbedürftige nicht auf ihre jeweiligen Rollen fixieren; es muß Raum bleiben für wechselseitiges Helfen. – Um nicht grob mißverstanden zu werden: Wenn ich mich hier kritisch zum Helfen äußere, dann kritisiere ich weder Angehörige noch Mitarbeiter im Pflegedienst. Es geht in diesem Text nicht sofort um die Frage: Wie begegnen Helfende den auf Hilfe Angewiesenen?, sondern um die andere: Wie wird in Kirche und Gesellschaft solches Helfen gesehen und organisiert? Als Beispiel: Viele Mitarbeiter beklagen, daß bei knapper werdenden Finanzen und recht kurzer Personaldecke zu wenig Zeit bleibt zur personalen Begegnung. Aber: Finanz- und Personal-Fragen werden nicht von den Pflegekräften entschieden. Diesen jedoch einen Vorwurf zu machen, wenn ihr Tun dann zuweilen fast nur noch ein Hantieren sein kann, wäre geradezu zynisch.

Was eben zur Sprache kam (daß wir nämlich, wenn wir den Helfenden vorrangig als Akteur und den Schwächeren als Nutznießer sehen, den Hilfsbedürftigen dadurch, gewiß gegen unsere Absicht, in der Objekt-Rolle festhalten), das ist nur ein Teil-Thema: Auf mannigfache Weise wird (im Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten) in unserer Gesellschaft unterschieden zwischen den einen und den anderen, zwischen den Normalen und den übrigen, zwischen den Regel- und den Ausnahme-Existenzen. Seit 1989 wird wieder offen über „Euthanasie“ diskutiert. Seit Mai 1993 liegt ein Text des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 vor, in dem ein Abbruch im allgemeinen als rechtswidrig gilt, im Falle einer vorgeburtlichen Schädigung des Kindes ein Abbruch aber als nicht rechtswidrig bezeichnet wird – belastetes Leben genießt weniger Rechtsschutz! – Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß ich einen schweren Vorwurf erhebe, wenn ich nun behaupte: Die Kirche ging hier bisher nicht eindeutig, mindestens zu kleinlaut, auf Gegenkurs; auch sie kommt nicht los von der genannten Unterscheidung. Dabei richtet sich mein Vorwurf weniger gegen die Tatsache dieser Unterscheidung (total beseitigen können wir die vielleicht nie; s.u.) als dagegen, daß wir solches Unterscheiden kaum wahrnehmen, daß wir oft so tun, als gäbe es das nicht – bei uns nicht, höchstens bei anderen: Unser Nein zur südafrikanischen Apartheids-Theologie ist einhellig. Aber gibt es Vergleichbares nicht auch bei uns? Wir nennen zwar nicht die Weißen die Regel-Existenzen, womit Schwarze zu Ausnahmen würden; aber wir sind geneigt, den Gesunden (den Nichtbehinderten, den zur Hilfe Fähigen) als den eigentlichen Menschen zu sehen, wodurch der stark auf Hilfe Angewiesene ins Abseits gerät.

Es führt zu nichts, diese Tatbestände anderen besserwisserisch „um die Ohren zu schlagen“. Viel sinnvoller ist es, etwa Gemeindekreise mit einer Art kreativem Spiel zum Nachdenken zu bringen, indem man ‚harmlose‘ Sätze nennt (nennen läßt) und sie dann so ergänzt (ergänzen läßt), daß der schwerbehinderte Mensch als völlig gleichberechtigter Mensch ins Spiel kommt (spüren wir da Widerstände?). Drei Beispiele: a) Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild. Und nun: Gott schuf den Kerngesunden und auch den Schwerstbehinderten zu seinem Ebenbild. b) Wir sollen uns gegenseitig helfen. Und jetzt: Den Behinderten würde viel fehlen, wenn Nichtbehinderte nicht bei ihnen wären, und den Nichtbehinderten würde viel fehlen, wenn Behinderte nicht bei ihnen wären. c) Gott will, daß wir dem Nächsten Gutes tun. Und dann: Mit mir kann Gott etwas anfangen, wenn er einem Schwerstbehinderten Gutes tun will, und mit dem Schwerstbehinderten kann Gott etwas anfangen, wenn er mir etwas Gutes tun will. – Von mir muß ich sagen: Was in den drei Ergänzungen jeweils vor dem „und“ steht, macht mir weniger Schwierigkeiten als das, was dann folgt. Aus vielen Gesprächen weiß ich, daß ich da kein Einzelfall bin. Daher mein Vorschlag: Wir sollten endlich die Risse und Trennungen im Reden vom Menschen zur Kenntnis nehmen, die es in uns allen gibt. – Die Bibel kennt kein gespaltenes Reden vom Menschen (je nachdem, ob einer stark oder schwach, gesund oder krank … ist); solche Spaltungen lassen sich aber in unserer Theologie an etlichen Stellen nachweisen (zu dieser Doppelthese ausführlich: U.Bach, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, 1991).

Wie es mit jener Unterscheidung (die einen / die anderen) in der Kirche bestellt ist, wird sichtbar auch durch die Frage: Ist die Kirche mit ihrer Theologie schon ohne uns (ohne den Beitrag Behinderter) fertig, oder kann sie erst dann fertig werden, wenn wir als gleichberechtigte Subjekte zur Beratung mit herangezogen wurden? Wird zum Beispiel ohne uns entschieden, wie theologisch über Gesundheit und Krankheit zu reden ist (in solchem Falle müßte nur noch gefragt werden, wie man die Ergebnisse behinderten Menschen „vermitteln“ könne), oder ist allen Beteiligten klar: Wie man das Thema „Kirche und Bischofsamt“ nicht ohne Bischöfe, „Kirche und Frauen“ nicht ohne Frauen diskutieren und entscheiden kann, so selbstverständlich auch nicht die Thematik „Kirche und Behinderte“ ohne die gleichberechtigte Beteiligung behinderter Menschen?

Aber weiter: Wenn ein behinderter Mensch nicht zu einem Sonder-Wesen, wenn die Frage der Behinderung nicht zu einer exotischen Frage werden soll, dann dürfen behinderte Menschen nicht nur zur Frage „Kirche und Behinderte“ herangezogen, dann müssen sie auch gebeten werden, aus ihrer Situation heraus mitzuhelfen, wenn über „Gott“ oder den „Sinn des Lebens“, über „Gemeinde“ und anderes nachgedacht wird.

Daß schwer behinderte Menschen tatsächlich eine unverwechselbare Hilfe bedeuten können, wenn es darum geht, die biblische Botschaft in ihrer Abzielung auf unser praktisches Leben zu begreifen, das erfahre ich seit etwa 20 Jahren in einem Bibelkreis, zu dem sich in der Evangelischen Stiftung Volmarstein wöchentlich einige schwerbehinderte und wenige nichtbehinderte Menschen zusammenfinden. Ich nenne nur ein paar Sätze, die ich in den vergangenen Jahren notierte. – Zum Thema: „Wie reden wir von Gott?“, fand ich den Satz einer stark spastisch gelähmten Frau: „Jesus ist ein unbequemer Freund“. Kann man Gottes Liebe und gleichzeitig seine Unbegreiflichkeit knapper benennen als so? – Bittere Erfahrungen mit Gott, verbunden mit einem unbeirrbaren Vertrauen zu ihm, zeigt der folgende Satz (Thema war: ‚Wie kann Gott das zulassen?‘): „Wir bitten um die Kraft, an Gott festzuhalten, wie die Mutter eines Mörders sagt: er ist trotz allem mein Sohn.“ – Solches „trotz allem“ muß sich allerdings oft mühsam durchsetzen gegen einen Naiv-Glauben, der von Gott rasche Behebung aller Schwierigkeiten erwartet: „Was antworten wir, wenn jemand uns fragt: du willst ein Christ sein und bist schon drei Wochen depressiv?“ – Wir überlegten, was gemeint sein mag mit der Bitte: ‚Gott, segne uns‘? Eine mehrfach behinderte Teilnehmerin versuchte es so: „alles, was wir tun, soll freundlich angeguckt sein“. Und ich warne davor, in diesem Satz eine Notlösung für Menschen zu hören, bei denen von Gütern und Erfolgen nicht viel zu erzählen ist. Nein, diese Antwort ist für uns alle der biblischen Botschaft näher als unsere naive Hoffnung, Gottes Segnen möge darin sich äußern, daß er uns Güter, Ansehen und Gesundheit zukommen läßt. – Wichtig war uns manches, was Frau N. beisteuerte, die kürzlich mit 91 Jahren gestorben ist: „Die Kunst des Lebens ist Aushalten“ (und nicht: seinem Leben ein Ende machen). „Die Jünger waren im Glauben auch nicht immer stark. … Es kommen immer wieder Wankel-Stunden“. Zur Gefangennahme Jesu war ihr staunender Kommentar: „Er nimmt Gott wichtiger als sich selbst“. Bei ihr schienen Glaube und Alltag wirklich nicht zweierlei zu sein: „Als ich gestern hinfiel und nicht hochkam, dachte ich: Wo ist jetzt Gott?“ Unvergeßlich ist mir, wie sie zuversichtlich und treffsicher reagierte, als eine nichtbehinderte Teilnehmerin nach mehrwöchiger Abwesenheit gesagt hatte, sie habe uns „richtig vermißt“: „Ist viel wert. Ist wenigstens einer da, der uns vermißt. Ist doch nicht so schnell jemand, der uns vermißt.“ Frau N. wußte also, daß sie wertvoll war, daß ihren nichtbehinderten Mitmenschen ohne sie und ihre Nachbarinnen Wichtiges fehlen würde. – Eine Diakonische Helferin, die für einige Wochen zum Kreis gehört hatte, sagte uns beim Abschied, sie habe hier gelernt: „Glaube ist keine Traumtänzerei.“ Zwei andere nichtbehinderte Teilnehmer erlebten den Kreis „wie eine Oase“. Wir in unserer Runde spüren gelegentlich, wie wir miteinander „Luft zum Durchatmen“  (s.o.) geschenkt bekommen. – ‚Womit müssen wir rechnen?‘ Müssen sich schwerbehinderte Menschen wirklich darauf einstellen, in der christlichen Gemeinde ständig nur unter dem Aspekt „hilfsbedürftig“ wahrgenommen zu werden?

Inzwischen habe ich wohl meine Rolle gewechselt; ich fragte wieder stärker als Theologe in unserer Kirche; diese Rolle möchte ich noch ein bißchen beibehalten.

Klar muß mir sein: Wenn wir theologisch nach der Kirche fragen, ist das Neue Testament der Maßstab. Und ohne Zweifel wird dort so von der Kirche geredet, daß darin jeder noch so schwer Behinderte Heimat finden könnte: Alle sind gleichberechtigte Glieder an dem einen „Leib Christi“ (1Kor 12); wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit (Vers 26); Unbegabte gibt es gar nicht, allenfalls Menschen, deren Begabungen von den übrigen nicht anerkannt werden (aber dann liegt das Manko nicht bei den angeblich Unbegabten, sondern bei den schlechten „Haushaltern der mancherlei Gaben“, vgl. 1Petr 4,10); so wird Kirche eine Gemeinschaft, in der jeder geben und jeder nehmen darf, ohne alles Oben und Unten.

Klar muß aber auch das andere sein: Diese Kirche hat es seit den Zeiten der Apostel noch nie gegeben; die real existierende Kirche sieht anders aus. Darum kann es zur Resignation führen, wenn ich fordere, wir müßten endlich verwirklichen, was im Neuen Testament geschrieben steht. Kirche in dieser Welt setzt sich nun einmal zusammen aus sündigen Menschen. Und das heißt (wobei ich offenlasse, wie groß dabei der Anteil von „Schicksal“ und der Anteil von „Schuld“ ist): Wir sind Sieger-Typen, wir wollen besser sein als andere; sogar derjenige, der ständig den „unteren Weg“ geht, ist nicht gefeit dagegen, es wie einen Triumph zu erleben, daß er wenigstens darin besser ist als viele andere. Zudem: Wir suchen (und brauchen offenbar) Nest-Wärme bei Gleichen (oder Vergleichbaren), womit die Tendenz gegeben ist, andere auszugrenzen. – Es geht mir nicht darum, uns „madig zu machen“, sondern darum, schlicht und ehrlich zur Kenntnis zu nehmen, wer wir sind. Ein Nichtbehinderter, der sich zutraut, auch bei einer plötzlichen, mit Hautkontakt verbundenen Begegnung mit einem ihm unbekannten schwerstbehinderten Menschen keinerlei Schwierigkeiten zu empfinden, der weiß noch recht wenig über sich selbst. Mir sagte ein Diakon, der bei behinderten Erwachsenen gearbeitet hatte: „Drei Jahre Pfleger, dann wissen Sie, wer Sie sind.“ Er hatte also, indem er behinderte Menschen kennenlernte, sehr aufmerksam sich selber kennen gelernt. Die genannten Schwierigkeiten lassen sich nicht einfach weg=wünschen und auch nicht weg=glauben; sie gehören zu uns. Wir können lernen, mit ihnen umzugehen; wir können sie aber nie völlig beseitigen – vielleicht sollten wir das nicht einmal versuchen.

Ich will weder mich und meine Umgebung madig machen, als negatives Gegenbild zu Gottes Vorhaben verurteilen müssen; noch will ich mich und meine Umgebung zurechtlügen als halbwegs realisiertes „himmlisches Jerusalem“. Seit Jahrzehnten erlebe ich bei mir und bei meinen Mitchristen beides: „danke“ und „ich krieg die Wut“; „das konnte ich“ und „hier bin ich gescheitert“; Stärke und Armseligkeit; Gottes Reichtum und menschliches Versagen; „Gott wohnt bei uns“ und „Jammertal“; „Schatz“ und „irdenes Gefäß“; Gemeinde als „Leib Christi“ und Gemeinde, von der man weglaufen möchte. – Und war es anders, als Jesus mit seinen Jüngern die Kirche in den Blick nahm (Mt 28,20ff)? Elf Jünger waren es gerade noch; und „etliche“ von ihnen zweifelten; es können nicht viele gewesen sein, die ohne Zweifel waren. Aber dieses unstabile Häufchen beauftragt Jesus mit der Weltmission! Wir sind nicht besser als Petrus und Johannes und deren Kollegen. Offenbar kann vor dem Jüngsten Tag Gemeinde immer nur dieses Gemisch sein von Ja und Nein, von Glaube und Zweifel, von Gehalten-Sein und Untergang, von Liebe und Schuld, von Teilen und Raffen, von Helfen und Sich-Behaupten-Wollen, von Für-Sorge und Ich-Sucht. – Sollen wir also doch besser weglaufen? Wenn wir das nicht tun, dann nicht deshalb, weil morgen Kirche „richtige“ Kirche sein wird, sondern darum, weil der Herr der Kirche seinen Auftrag an die Unfähigen (an uns also) immer noch nicht leidgeworden ist. Weil Gott auf krummen Linien gerade schreiben kann (so ein älterer Buchtitel), darum dürfen wir „krumme Linien“ sein – „Engel“ ist nicht nötig.

Hätte ich mir meine kritischen Anfragen also schenken können? Die klangen dramatisch, aber jetzt wird offenbar Entwarnung geblasen. Keineswegs! Beides (die herbe Kritik und die scheinbare Entwarnung) war nötig, wenn wir nicht entweder in Resignation oder in Lüge verfallen wollen. Beides ist nötig, damit – endlich! – klar werden kann, wie „normal“ behinderte Menschen sind. Sie müssen relativ häufig sagen: das kann ich nicht. Bei ihnen wird rasch sichtbar: dieses und jenes klappt nicht. Und gerade darin sind sie nicht anders als „wir“; gerade darin sind sie wie wir. Wir können unsere Sieger-Mentalität und andere Gegebenheiten nicht abschaffen und nicht wegbeten; bei uns klappt die Liebe nicht, ohne daß sich Schuld darein mischt, die Für-Sorge nicht, ohne daß sich die Ich-Sucht bemerkbar macht.

Also doch Entwarnung? Also doch Beschwichtigen jeder Kritik, vielleicht  mit Brecht’s: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“? O nein, es geht um etwas völlig anderes; darum nämlich, daß wir (a) die selbstgewählten Utopien aufgeben, die wir weder verwirklichen sollen noch können; und gleichzeitig: daß wir (b) uns mutig an die Aufgaben begeben, die uns aufgetragen sind, und die wir uns gegenseitig zutrauen sollten.

(Zu a:) Es ist ein Hirngespinst zu sagen: Wenn wir uns anstrengen, können wir die Gemeinde der Sündlosen, die Kirche der Schwestern und Brüder werden, bei denen es keinerlei Hick-Hack gibt. Paulus war Realist: Er wußte, daß er’s nicht „erreichen“ kann; „ich jage ihm aber nach“ (Phil 3,12). Kennzeichen der Gemeinde ist es nicht, daß sie dem großen Ziel schon recht nahe gekommen ist, sondern: daß sie unterwegs ist, bewußt auf dem Wege ist. Der Weg, das Wandern, ist das Kennzeichen des Gottesvolkes. Also nicht: Drangeben des Zieles, sondern Zugeben unserer Unfertigkeit: Wir können nur stolpernd (und mutig!) unterwegs sein.

(Zu b:) Solches Zugeben überfordert uns nicht. Und hierbei könnten gerade behinderte Menschen Lehrer der Kirche werden. Sie müssen schon immer trainieren zu sagen, was sie nicht können. Für den Einarmigen ist es kein Makel, wenn er darum bittet, ihm das Fleisch klein zu schneiden. Wer nicht lesen kann, muß sich nicht schämen, wenn er auf dem Bahnhof jemanden bittet, für ihn auf der Abfahrtstafel nachzuschauen, wo sein Zug abfährt. So etwas kann gelernt werden, etwa auch dieses: Zu sagen, daß bei der Begegnung mit Behinderten einen oft das große Mitleid überfällt; zu sagen, daß man sich als Nichtbehinderter oft wichtiger fühlt als das behinderte Kind dort drüben. Und auch die relativ leicht Behinderten müssen das lernen: Zu sagen, daß man sich als Rollstuhlfahrer zuweilen besser vorkommt als der Schwermehrfachbehinderte.

Ein Schulkind im dritten Schuljahr, das immer nur davon träumt, schon morgen Abitur machen zu können, gefährdet damit die Möglichkeit, das Abitur in zehn Jahren zu schaffen. Eine Kirche, die immer nur davon redet, in ihren diakonischen Aktivitäten noch perfekter werden zu müssen, drängt damit die Schwächeren (diejenigen, deren Stärke nicht so sehr in Aktivitäten zu suchen ist) deutlicher ins Abseits; das heißt, sie gefährdet die Möglichkeit, auf dem Wege einer diakonischen Kirche weiterzukommen.

Vor mehr als 25 Jahren umschrieb Johannes Klevinghaus (Leiter einer großen Einrichtung für geistig Behinderte) den „Platz“, der den in der Diakonie Tätigen durch die biblische Botschaft „angewiesen“ ist, so: „Da sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“ (Heil und Heilung. Gedenkbuch für J.Klevinghaus, hg. von E. Brinkmann, 1970, S. 62).

Womit dürfen – womit müssen wir rechnen? Dürfen wir mit einer Kirche rechnen, die den Mut findet, das „Spital“ zu sein (vgl. J.Klevinghaus), in dem wir miteinander die Erfahrung machen wollen (vgl. R.Zerfaß): Helfen können wir nur denen, von denen wir auch Hilfe für uns erwarten?

Quelle: Ulrich Bach, Wir Behinderten und die christliche Gemeinde, Womit dürfen, womit müssen wir rechnen?, in: Praktische Arbeitshilfe zur Woche für das Leben 1994, unBehindert miteinander leben (Hg.: Deutsche Bischofskonferenz, Bonn; Rat der EKD, Hannover; ZdK, Bonn; Redaktion: Felix Rathofer, Bonn), 1994, S. 11-19