Ulrich Bach, Kierspe-Rönsahl
Muß ein Engel immer artig sein?
Nachmittags, kurz vor fünf – und ich hatte immer noch keine Idee. Die Dame, die sich für 17 Uhr angesagt hatte, und ich kannten uns lange. Wir arbeiteten in verschiedenen Gruppen kooperativ miteinander. Plötzlich war Sand im Getriebe, es knirschte erheblich. Die Vorwürfe gegen mich und Verdächtigungen mußten ausgeräumt werden. Dazu die heutige Verabredung. Klar ist in solchen Lagen, daß man nicht sofort das heiße Eisen zur Sprache bringen sollte; vorher brauchen beide die Gelegenheit zu ein paar ungefährlichen Plauder-Sätzen. Das Wetter kam als Thema nicht in Frage, möglicherweise hätte sie das als primitiv und deshalb kränkend empfunden. Mit ihrem Sohn stand ich in direkter Verbindung, so war ich über sein Studium bestens informiert – auch er kam nicht in Frage. Was tun?
Punkt 17 Uhr schellt es. Immer noch ohne Einfall. Wie soll das nur werden!? Ich öffne die Tür: „Oliver!“ „Da bin ich mal wieder.“ Blitzschnell spult sich in meinem Kopf, rascher als im Zeitraffer-Film, unsere gemeinsame Geschichte ab, Olivers und meine. Oliver hatte ich vor wenigen Jahren konfirmiert; ihm war es zu „verdanken“, daß die zwei Jahre des kirchlichen Unterrichts in seiner Klasse für mich anstrengender wurden als alle anderen Jahrgänge. Oliver hatte im Alter von etwa acht Jahren einen schweren Verkehrsunfall, lag mehrere Wochen im Koma. Inzwischen sah man ihm seine Behinderung äußerlich kaum noch an, aber daß er zu der Gruppe gehört, die man heute „Menschen mit herausforderndem Verhalten“ nennt, bestätigt er Tag für Tag. Mehrere Unterrichtsstunden brachte er zum Platzen. Etwa an einem 6. Dezember; ständig brüllte er in die Klasse: „Wo‘s mein‘ Niklaus-Tütäää?“; zweimal rasch hintereinander, die letzte Silbe mit verstärktem Druck. Bis ich den „Stoff“ fallen und die Gruppe ihre Nikolauserlebnisse aus der Schule erzählen ließ. Es gab Stunden in denen mir die Gruppe sagte: dem müssen Sie einfach mal eine scheuern. Meine Antwort war die Wiederholung des Satzes. den ich in der ersten Stunde als Spielregel eingeführt hatte: „Bei uns darf jeder so sein wie er ist.“ Die Gruppe verstand es im Lauf der Zeit, mit diesem Satz umzugehen: Als ich gelegentlich einem Schüler seinen gekonnt geistreichen, aber den Fluß des Gesprächs sabotierenden Einfall mit einem schmunzelnden „Ich-zerreiß-dich-gleich-in-der Luft“-Blick quittiert hatte, sagte sein Kamerad, eingeleitet mit einem singenden „Herr Bach“: Bei uns darf jeder so sein wie er ist.
Als es auf die Konfirmation zuging, fragte die Klasse: Aber nachher geht der Unterricht doch weiter? Das sei nicht üblich, sagte ich, merkte aber, daß die Gruppe ihre Frage deutlich als Bitte gemeint hatte. Für die Kinder der Volmarsteiner Behinderten-Schule gehörten unsere Unterrichtsstunden fest in den schulischen Stundenplan. Darum war die Bitte der Konfirmanden für den Schulleiter kein Problem: Er musste für die wenigen Wochen zwischen Konfirmation und Schuljahresende keinen neuen Stundenplan erstellen. Die drei externen Kinder (aus Mitarbeiter-Familien) fragten ihre Eltern und bekamen ebenfalls grünes Licht. Wir trafen uns also weiterhin, bei gutem Wetter gelegentlich auch in unserem Garten. Als meine Frau einmal für jeden ein Schüsselchen mit Eis auftischte, war das natürlich ein besonderer Höhepunkt der zwei Jahre.
Aber auch zwei Jahre sind dann doch irgendwann zu Ende. Zur Schlußrunde trafen wir uns noch einmal im gewohnten Klassenzimmer; wie üblich sangen und beteten wir. Dann erzählte ich eine Geschichte, die ich vor Jahrzehnten erlebt hatte. Über sie kamen wir in ein intensives Gespräch. Zu meiner Freude fand die Gruppe heraus, daß als Überschrift unser Satz passen könnte: Bei uns / bei Gott, darf jeder so sein wie er ist. Nach einem Abschluß mit vielen guten Wünschen rollte ich aus der Klasse heraus und setzte mich auf der Flurseite neben die Tür, ich wollte allen noch einmal die Hand geben und jedem ein, zwei Sätze sagen. Als erster kam Oliver, hatte es aber nicht eilig, sondern stellte sich nach unserem Händedruck auf die andere Türseite und lehnte sich etwas schlaksig an den Türrahmen. Genau schaute er hin und hörte er zu, wie jeder einzelne sich von mir verabschiedete. Ursula, der Gymnasiastin, sagte ich, sie sei ja wohl in den zwei Jahren nicht auf ihre Kosten gekommen. Darüber solle ich mir mal keine Gedanken machen, sagte sie; sie habe in dieser Gruppe unheimlich viel gelernt. Als auch der letzte gegangen war, lehnte Oliver noch immer an der Tür. Sollen wir uns noch einmal verabschieden?, fragte ich. Und er: Wissen Sie, wie das ist? Wie auf `ner Beerdigung. Die Gruppe hat dir gut getan, ja? Von Oliver kam nur: wie auf `ner Beerdigung. Ich versuchte, ihm klarzumachen, daß bei einer Beerdigung der Abschied um so schwerer wird, je wichtiger der Mensch war, den man nie wieder erleben wird; ihm habe offenbar sehr gut getan, daß die Gruppe ihn so sein ließ wie er ist. „Wie auf `ner Beerdigung.“ Oliver lehnte weiter am Türrahmen. Nach einer Weile sagte ich: mir kommt gerade ein Gedanke. Oliver, könnte es dir vielleicht gut tun, wenn du mich einfach mal ganz feste drückst? Der Satz war kaum raus, da lag Olivers Kopf auf meiner rechten Schulter und an meinem Hals wurde es etwas feucht. Du, wir setzen uns noch mal in die Klasse. Ich gab ihm Taschentücher und wir saßen einfach beisammen mit wenigen sparsamen Sätzen. Nach kurzem schon war es so weit, daß wir uns verabschieden konnten.
Bald nach den Sommerferien schellt es mittags an der Tür. Oliver will mal nachschauen, wie es mir geht. Wir sitzen in meinem Zimmer mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser. Für ihn ist gerade die mittägliche Schulpause, da ist Gelegenheit zu solchen Besuchen. Er war nie sehr gesprächig, einfach nur ein lockeres Hin-und-Her; dann wird es Zeit zur nächsten Schulstunde. Diese Besuche wiederholte Oliver von Zeit zu Zeit; gelegentlich brachte er die Flasche Wasser schon mit. Inzwischen ist er von Volmarstein weggezogen, unser Kontakt findet jetzt stärker übers Telefon statt. Nur wenn er sowieso gerade in Volmarstein ist, macht er auch schon mal, so wie heute, einen Abstecher zu mir: Da bin ich mal wieder.
Oliver verstand sofort meinen Hinweis darauf, daß ich gleich einen unaufschiebbaren Termin hätte, wollte direkt kehrt machen; aber wir plauderten dann doch miteinander, bis es erneut schellte. Die Besucherin fragte ich, ob sie sich an das Gesicht des jungen Mannes erinnern könne. Das zwar nicht; aber sie ging sofort, gelernte Pädagogin, mit interessiertem Fragen auf meine knappen Angaben ein. Wir mussten achtgeben, nicht zu ausführlich zu werden, wir hatten ja ein anderes Thema. Als wir dieses angingen, zeigte sich, daß das Oliver-Thema hervorragend den Boden bereitet hatte für ein offenes, verständnisvolles, eine faire Lösung suchendes Gespräch.
Abends dachte ich zurück an den Tag; klar wurde mir: Heute hat mich ein Engel besucht. Oliver war keineswegs eine Art „ Sargnagel“, wie es mir vor Jahren nach besonders drastischen Erlebnissen mit ihm in den Sinn kommen konnte; vielmehr war er der Engel, mit dem mir Gott über eine Blockade hinweggeholfen hat. Ich kann mir einen besseren „Einstieg“ in unser schwieriges Gespräch, auch wenn ich mir Mühe gebe, nicht vorstellen. Oliver „paßte“ einfach vorzüglich zu diesem Gast, zu unserer schwierigen Gesprächs-Situation, und er kam zum schlechthin idealen Zeitpunkt.
Beim weiteren Nachdenken kam mir ein Oliver-Erlebnis in den Sinn, an das ich länger nicht gedacht hatte. Das war am Tag der Konfirmation; wir trafen uns eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes in der Sakristei zur inneren Sammlung, zu letzten Absprachen, zum Gebet. Oliver stand links halb hinter meinem Rollstuhl. Plötzlich beugte er sich zu mir: Herr Bach, wissen Sie, daß Sie einen Platten haben? Ich fühle nach. Stimmt. Auch das noch! Dazu machte er ein „unschuldiger-Engel“-Gesicht, wie er das nach Dummheiten perfekt konnte. Ich wollte und konnte ihm nichts beweisen; jetzt mußte jemand organisiert werden, der mir das Rad wieder aufpumpte. Übrigens hielt diese Luft mehrere Wochen; es kann also kein Schleich-Platten gewesen sein, es mußte jemand das Ventil geöffnet haben. Jetzt im Rückblick denke ich: War Oliver in diesem Augenblick nicht ebenfalls mein Engel? Hatte er mir nicht auch dieses Mal aus einer Blockade heraus geholfen? Denn eins ist mir immer klar gewesen: Konfirmations-Gottesdienste sind bei mir mit einem enormen Druck verbunden (bist du deiner Verantwortung gewachsen? Hast du die Gruppe richtig vorbereitet, was immer man unter „ richtig“ verstehen mag?).
Dieser Druck kann mich geradezu blockieren in meinem Verhältnis zur Gruppe: Ich, der wichtige Verantwortungs-Träger, dort die, „Kleinen“, für die ich Verantwortung trage. Jetzt der Platten! Mit einem fast hörbaren „Peng!“ stieß er mich von meinem stolzen Podest. Verantwortung hin, Verantwortung her, jetzt sind plötzlich wir alle darauf angewiesen, daß andere Verantwortung für uns übernehmen. Ich habe es sogar nötig, daß mir jemand kompetent Luft in den Reifen pumpt. Oliver sorgte dafür, dass ich mit den anderen wieder eine Gruppe wurde. (Diese Nähe spürte man im Gottesdienst offenbar deutlich; so wurde mir nachher von verschiedenen Seiten gesagt). Ja, Oliver war auch an dem Tag, an dem ich ihn konfirmierte, Gottes Engel für mich. Wirklich?, das Öffnen des Ventils war aber doch ein ausgesprochen ungezogener Dummer–Jungen-Streich! Ja und?, dürfen Engel denn niemals Unfug treiben?