Neuere Rasiertexte

Ulrich Bach
Neuere Rasier- (und andere Kurz-) Texte

Bin vierundsechzig,
und jetzt: Lungenentzündung.
Nach vierzehn Tagen
zum ersten Mal wieder
einige Minuten im Rollstuhl.
Nach einer Viertelstunde
fragt mein Sohn:
Wie ist es Dir jetzt?
Vielleicht lachst Du, sage ich,
aber es ist so:
Ich bin stolz,
daß ich
schon wieder so viel leiste.
Na, siehst Du!, sagt er
und hilft mir zurück ins Bett.

(Okt. 1995)


Zug um Zug sein Leben verpassen

Weil niemand merken sollte: er kann nicht tanzen,
schlug er die begehrte Einladung zur Party aus.
Er war ein Kauz.

Er fürchtete, in sein Haus könne eingebrochen werden;
darum ließ er es in Flammen aufgehen.
Er war krank.

Er hat Angst, sein Augenlicht verlieren zu können;
das macht ihn kopflos.
Er ist normal.

(1996 / 1998)

Meine Serviette als Siegertreppchen

Schließlich fanden wir doch zum Hotel.
Bis kurz vor Luxemburg – kein Problem.
Dann aber – offenbar verpaßten wir eine Abfahrt.
Nach etlichem Hin und Her fanden wir’s doch.
Netter Abend mit letzten Planungen für „morgen“.
Am nächsten Tag dann das Treffen der Kranken-Seelsorger.
Meine These: Krankenseelsorge beginnt bei Gesunden:
Wer als Gesunder glaubt: Hast du was, bist du was,
der muß sich wie ein „Mensch zweiter Wahl“ vorkommen,
wenn er die Gesundheit verlor.
Lange sprachen wir über: Ich habe, also bin ich,
und über: Ich werde gehalten, also bin ich.
Glaube kontra Leistungsideologie,
Kirche nicht als gesellschaftlicher Stabilisator,
sondern als humane Kritik, als Lobby der „kleinen Leute“.
Ein langer Tag, gute Gespräche, ehrliche Begegnungen.
Dann waren wir eingeladen zum Abendessen im Leitungsteam.
Mehrere Gänge, fast nicht mehr diakonisch,
trotzdem (oder deshalb) – es schmeckte vorzüglich.
Spät abends,
als meine Frau mir vom Rollstuhl ins Bett half:
Was hast Du denn da?
Auf meinem Schoß lag die vornehme Stoff-Serviette
aus dem Restaurant, fünf Stockwerke tiefer.
Ich hatte vergessen, sie wieder auf den Tisch zu legen.
Geklaut hatte ich sie also nicht – ehrlich.
Aber sie zurückgeben? – Kommt nicht in Frage!
Rollstuhl kann auch gewisse Vorteile haben.
Wer hat schon zu Hause
eine Hotel-Serviette, die er nicht klaute?
Ich, ich habe eine!
So ‚was hat so rasch kein zweiter.
Und manchmal,
wenn meine Frau mir eine besondere Freude machen will,
legt sie mir abends
meine luxuriöse Luxemburgische Serviette neben den Teller.
Und tief innen
spüre ich in mir eine diebische Freude:
Hast du was, bist du was!


Nachruf

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?
      Zwei Sträußchen Blumen
      – immerhin –
      lagen dabei.

Gabriele Z.,
seit sieben Monaten lebte sie bei uns,
auf der vierten Etage des Altenheims.
Eine der Altgewordenen,
für die man sonst keinen Platz hat:
Altenheim, Etage vier, Endstation.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z., eine von denen,
die man „altersverwirrt“ nennt.
Was die einem so alles erzählen!
Das Personal ist knapp.
Wer soll zwischen Betten und Waschen
und Füttern und Abtopfen
denn zuhören können
auf all diese Geschichtchen?

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z. eine der vielen:
schrullig wie manche,
mit persönlicher Note, wie man’s öfter erlebt.
Sie behauptete, was keiner sonst sagte:
Sie sei Sekretärin gewesen,
in Düsseldorf sei sie Sekretärin gewesen.
im Ministerium.
Geschichten. Hinfällig. Verschroben.
Jeder, der’s hörte,
empfand ‚was wie Mitleid.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z., vor acht Tagen gestorben.
Außer den Bestattern vier Menschen noch,
die ihr die letzte Ehre erwiesen:
der Pfarrer, zwei Mitarbeiterinnen von vier,
der Organist.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?

Gabriele Z., der Nachlaß –
machte keinerlei Mühe.
Viel zu regeln gab es nicht.
Doch da fand sich ein Brief, handgeschrieben.
Ein handgeschriebener Brief, zwei Seiten lang,
geschrieben und unterschrieben
vom damaligen Innenminister des Landes.
Der freundliche Herr
bedankte sich;
dankte für jahrzehntelange treue Dienste;
für die Dienste unserer Frau Gabriele Z.

Hinterließ sie eine Lücke,
oder war da nur das Loch,
in das der Sarg sich senkte?
    Zwei Sträußchen Blumen
    – immerhin –
    lagen dabei.

(Volmarstein 1992; Rönsahl 2008)


Die Gerechten

Menschen stehen vor dem Haus,
beratschlagen: Was können wir machen?
Aus dem Haus dringt Qualm
und die Stimme einer älteren Frau:
Hilfe, Hilfe!
Jedenfalls erst mal klingeln!
Man schellt, man klopft, man ruft,
schellt erneut.
Einer geht los, Polizei
und Feuerwehr zu informieren.
Ein junger Mann kommt vorbei.
Da schreit doch einer!
Er tritt eine Scheibe ein,
verschafft sich Zugang.
Schon bald öffnet sich die Haustür.
Der junge Mann schiebt die alte Frau
im Rollstuhl ins Freie.
Die schimpft sofort gegen die Gruppe los:
Und warum haben Sie mit nicht geholfen?
Wir nicht geholfen? Geschellt haben wir,
geklopft, gerufen,
Feuerwehr und Polizei alarmiert –
was sollten wir denn noch?!
Einfach tun, was der Junge tat;
den könnt Ihr Euch zum Vorbild nehmen.
Den – zum Vorbild – wir?
Sind Ihnen denn etwa
seine Fingernägel nicht aufgefallen?
So etwas Ungepflegtes!

(7.4.05)


Wenn Sie als Rollstuhlfahrer jünger aussehen als Sie sind, und Sie sagen Ihrem Gegenüber auf seine Frage nach Ihrem Alter wahrheitsgemäß „67“, und Sie sehen seinen mitleidig-ratlosen Gesichtszügen an, wie es in ihm klarer und klarer wird: ‚mit Zahlen kann der also auch nicht umgehen‘, dann, sage ich, dann spüren Sie wieder einmal: das Leben ist mehrschichtig interessant.

(August 1998)


Irma schickte mir ein altes Urlaubs-Foto:
links im Bild, auf sonnen-hellem Sand,
ein verlassener Rollstuhl, mit „Blick“ zum See,
dessen ruhiger Ausläufer fast die Räder erreicht.
Im nahen Hintergrund: Wald und Gebüsch.
Gemeinsam hatten unsere Familien Südschweden besucht,
gern verbrachten wir halbe Tage am wenig besuchten See.
Martin hatte mich also ins Schlauchboot gehoben.
Wie so oft besuchte ich stundenlang Schilfinseln und Möwen,
genoß im Schatten des Ufers gegenüber
den Frieden dieser wie einladend schweigenden Landschaft.
Irmas Zeilen zum Foto:
„Bist Du einfach ausgestiegen?
Weggegangen über die Wellen?
Nahm eine Wildgans
Dich mit auf ihren Flügeln?
Hoffnung!“
Schön.
Gut tat das – .
Und dennoch: Hoffnung?
Diese Hoffnung kenne ich nur noch als Versuchung,
als Einladung zur Flucht aus meinem tatsächlichen Leben.
Ich mußte lernen, die Hoffnung aufzugeben,
wie Lagerlöfs Klein-Nils von Wildgänsen getragen zu werden
in traumweite Fernen,
oder über die Wellen zu gehen wie der Gottessohn.
Ich mußte lernen zu hoffen,
nicht etwa: den Rollstuhl lieben zu können,
aber: dem Rollstuhl zum Trotz
im Rollstuhl mein Leben zu lieben,
meine Tage sinnvoll gestalten zu können
– und Freunde zu finden, die meine Hoffnung füttern,
indem sie – zum Beispiel – ins Schlauchboot mich setzen. wie Martin.
Klar ist das und richtig.
Und trotzdem:
Irmas Zeilen sind schön.
Sie tun mir gut.
– Und das dürfen sie dann auch,
danke, Irma.

(2005 / 2006)

D e n k s t e !

Haben Sie sicher auch schon gehört:
Woanders soll’s ja nicht so sein.
In Spanien hat’s nicht so viel geregnet.
In Kanada ist viel mehr Einsamkeit.
Und in Schweden ist man zu Behinderten ganz anders.
Denkste!

Ich machte jetzt Urlaub in Schweden.
Einmal besuchten wir eine Ausstellung,
waren gerade wir wieder auf dem Parkplatz,
neben uns hielt ein schwedischer Bus mit jungen Leuten.
Ich sah, wie mich ein Mädchen anschaut,
dann die Hand vor den Mund hält,
dann ihren Vordermann anstupst.
Was sie sagt, kann ich natürlich, durch die Scheibe,
                        nicht verstehen.
Der Vordermann glotzt meinen Rollstuhl an,
und auch er hält sich die Hand vor den Mund.

Und ich?
Ich entdecke,
daß ich mich freue.
Zum ersten Mal in meinem Leben
freue ich mich
über solche blöden Blicke.
Zu Hause –
wie oft erlebe ich das da!
Aber in Schweden
soll’s ja ganz anders sein,
erzählten mir Bekannte.
Denkste!
Wie gesagt, ich hab‘ mich richtig gefreut.
Sozusagen für Deutschland gefreut.
Ich bin kein Nationalist,
bestimmt nicht.
Aber diese Fußtritt-Blicke auch in Schweden –
das hat mir richtig gutgetan.
Die kochen eben auch bloß mit Wasser.

Und dann öffnen sich die Türen,
und es strömt aus dem Bus
prustend und lachend.
„Eis gibt’s da vorne!“
„Toiletten sind hier links rum, hab ich schon vom
                        Bus aus gesehen!“
„Ich geh‘ mal erst ‚was kaufen!“
Da werde ich
innerlich
ganz kleinlaut.
Auch den Backfisch von eben
höre ich,
meine Muttersprache im Mund.
Was sollte ich jetzt denken?
Ich konnte nur noch
anderswohingucken.


Menschen
sind dir
– vielleicht –
anvertraut.
Nimm ihnen
das Gefühl,
sie seien dir
– bestimmt –
ausgeliefert.

(1986)


Das höchste Glück auf Erden ist ein Trostpreis.
Mehr als ein Trostpreis steht uns nicht zu.
Mehr als einen Trostpreis kann keiner erreichen.
Trostpreis – was willst du mehr?
In diesem Leben gibt es nur Trostpreise –
wer’s anders sieht, ist noch nicht aufgewacht.


S i e  erziehen Ihre Kinder doch sicher auch so.
Ich meine: Wichtig ist, daß sie einem Hitler
                            nie in die Hände arbeiten.
Wenn meine Tochter zu mir sagt: alter Blödmann,
dann schau ich in den Spiegel,
blinzele mir zu und sage oder denke:
Meine Tochter wenigstens wäre nichts für einen Hitler.
Denken Sie gewiß auch, wenn Ihr Sohn
Zwerg-Nelke zu Ihnen sagt oder so ‚was.
Nur:
Wer für einen Hitler nichts ist,
der ist eben  n i c h t s  für einen Hitler,
möglicherweise noch
eine Vorform von Seife.
Erziehen, versteh’n Sie,
erziehen ist ein heißes Geschäft.
Heißer jedenfalls, als mir lieb ist.
Soll ich also meine Tochter dazu bringen,
nichts für Hitler zu sein,
auf die Gefahr hin,
daß man eines Tages,
falls es einen zweiten Hitler gibt,
Seife aus ihr macht oder eine Rauchwolke?
Oder soll ich mich bemühen,
für alle Fälle,
sie dahin zu bringen, geeignet zu sein,
aus anderen Menschen
Rauchwolken zu machen?
Man selbst
– immerhin –
könnte überleben dabei.
Überleben – um solchen Preis?
Ein heißes Geschäft,
so oder so,
ist das Erziehen.
Heute jedenfalls macht es mich froh –
oder bin ich nur mutig?
Seien wir mutig und sagen:
Heute macht es mich froh,
wenn meine Tochter zu mir sagt:
alter Blödmann du.


Wenn ein Halbsatz, den ein Behinderte mir sagte –
gerade finde ich den Zettel, auf den ich den Satz vor Jahren schrieb –
wenn ein solcher Satz mir wichtiger sein kann
als ein Buch, das ein Nichtbehinderter schrieb –
sagen Sie selbst –
Dann kann mein Schreibtisch
doch nicht aufgeräumt sein.


Das sind Erinnerungen.
Ich konnte schon laufen,
als Hitler an die Macht kam.
Ich konnte noch laufen,
als er sich –
      nach Tausend Jahren –
die Kugel gab.
Das sind Erinnerungen.


Volkstrauertag.
Friedhöfe mit namenlosen Gräbern,
Bundestage mit Rednern ohne Gesicht –
was eigentlich ist schlimmer?
Frage zum Volkstrauertag.


Weihnachtswunsch 1990

Vor wenigen Tagen
erreichte mich
aus einer kirchlichen Chefetage
– so etwas gibt es –
ein „Weihnachtsbrief 1990“.
„Ein Jahr der Wunder Gottes
liegt hinter uns.“
So beginnt dieser Brief.
Dann geht es weiter mit
„Öffnung der Grenzen“
und „Fall der Mauer“ und
„politischer Einheit“.
Danach dann noch einmal:
„Es war ein Jahr
der Wunder Gottes!“

Nun weiß ich,
endlich,
was ich mir wünsche
und denen, die ich mag:
Ein Christfest,
das ein
„gesegnetes“
genannt werden könnte,
weil wir Menschen finden,
mit denen zusammen
wir die Verwegenheit wagen,
dem Seichtsinn zum Trotz
„Christi Narren“ zu sein,
die bei „Wundern Gottes“
immer noch
an Bethlehem denken
und Golgatha.

(20.XII.1990)