Rezension Rolf Zerfaß

Aus:
Lebendige Seelsorge (Echter Verlag) Würzburg
58. Jahrgang 4/2007, S. 269-271

Ohne die Schwächsten ist die Kirche
nicht ganz
Bausteine einer Theologie nach Hadamar

378872160X

Ulrich Bach
506 Seiten, gebunden
34,90 Euro (D)
Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vlluyn 2006

Dieser vielschichtige Band bündelt die Entdeckungen, die der Autor, seit dem 21. Lebensjahr an den Rollstuhl gebunden und seit seiner Ordination als Seelsorger in einer evangelischen Behindertenanstalt tätig, im täglichen Umgang mit geistig und/oder körperlich behinderten Menschen gemacht hat. Dabei geht es ihm aber nicht um eine Didaktik oder Seelsorgetheorie im Umgang mit Behinderten. Es geht ihm vielmehr um die entgegengesetzte Frage, was behinderte Menschen ihrer Kirche zu sagen haben, was Kirche wie Gesellschaft von ihnen über sich selbst lernen können und auch müssen.

Welche verborgenen Abwertungen und Ängste manifestieren sich in unserer Alltagssprache, wenn von ihnen die Rede ist? Wieviel Bevormundung schleicht sich in unsern Umgang mit ihnen ein? Welche „Apartheidsmetastasen“ stecken selbst in den theologischen Denkgebäuden, in denen wir ihnen ihren Platz zuweisen? Sind die Leidensgeschichten in den Mauern unserer ehrwürdigen diakonischen bzw. caritativen Einrichtungen für das „Volk Gottes auf dem Weg“ wirklich nicht der Rede wert? Oder müssen wir uns fragen lassen, ob wir unseren Weg als Gemeinde wie als Kirche viel zu einseitig als „Aufbruch“ denken, gepflastert mit den Begriffen .,Glaubensstärke, Mut, Kraft, Einsatzbereitschaft, Wachstum, Ganzheit“, kurz: als „Weg in Herrlichkeit“. Damit wird wie von selbst der „Kreuzweg“ zur Sache derer, die bei uns nicht mitkommen, für die wir uns deshalb glauben „engagieren“ zu müssen …

Die zwanzig Kapitel dieses Bandes, allesamt im Rollstuhl zu Papier gebracht, zielen darauf, die fatale Kirchenspaltung bewusst zu machen, die solch tatkräftiges Christentum produziert, und sie aus dem Glauben heraus zu überwinden.

„AUF DIE EIGENEN FÜSSE KOMMEN“

Ein erster Teil (Kap. 1- 5) vermittelt einen Eindruck vom mühsamen Lernweg des Autors selbst, erwachsen aus dem Schock einer Polioerkrankung, die ihn lebenslang in den Rollstuhl zwingt, alle seine Lebenspläne durchkreuzt und ihn – genau auf diesem Weg – als Theologe und Seelsorger überhaupt erst „auf die eigenen Füße kommen“ läßt. Sein Credo: „Gott will, dass dieses leben mein Leben ist“ (54-57).

Der Leser wird so einerseits mit der Härte eines solchen Schicksalsschlages konfrontiert, aber auch mit der Widerstandskraft, die sich inmitten all der Einschränkungen aufbauen kann und sich bei Bach nicht zuletzt in seinem ausgeprägten Sinn für die Situationskomik manifestiert, die sich aus unserer, der „Nichtbehinderten“ Hilflosigkeit im Umgang mit Behinderten entwickeln kann (Kap. 1 und 3). Er selbst findet so zu seiner Berufung: Seelsorger und Anwalt behinderter Menschen zu sein. Die einfühlsamen gütigen Umgangsformen eines älteren Anstaltsseelsorgers regen ihn zu einer Haltung respekt- und liebevoller Offenheit im Umgang mit seinen kleinen und großen Leidensgefährten an. Deren Wahrnehmungsmuster und deren Sprache beeindrucken ihn so, dass er sie zu protokollieren beginnt und dass sie aus ihm einen Katecheten mit Bodenhaftung machen, einen Deuter der Stärke der Schwachen und einen beherzten Streiter für ihre Sache und für die Überwindung der geheimen Spaltung im Volk Gottes. Wer ist dort denn schon „gesund“ und wer ist „nicht behindert? (Kap. 2 und 5).

SUBTILE FORMEN DER SELBSTÜBERSCHÄTZUNG

Ein zweiter Teil (Kap. 6-16) beschreibt die geistigen Voraussetzungen der Nazipolitik zur „Beseitigung unwerten Lebens“, die auch in manchen Kreisen der evangelischen Kirche Sympathisanten fand und sich schließlich in der diakonischen Behindertenanstalt Hadamar (Hessen) austoben durfte (Kap. 10). Der Verf. analysiert die Euthanasie-Mentalität seit den zwanziger Jahren und würdigt den mühsamen Weg nach 1945, der im Jahr 1985 endlich zu dem offenen Schuldbekenntnis der Synode der Evangelischen Landeskirchen Rheinland führte. Vor diesem Hintergrund setzt Bach sich sodann mit den Ansprüchen der Bioethik (Kap. 11) und analog dazu mit subtilen Formen der Selbstüberschätzung innerhalb der Theologie besonders in Sachen „Heil und Heilung“ (Kap. 12) auseinander und interpretiert sie als verführerische Tendenzen einer „Herrlichkeitstheologie“ zu Lasten der „Kreuzestheologie“ (Kap. 13).

Eine „Theologie nach Hadamar“ ist für ihn – in Analogie zu einer „Theologie nach Auschwitz“ – zu konzipieren: als eine „kontextuelle Theologie (Kap. 2) bzw. als eine „europäische Gestalt der Befreiungstheologie“ (Kap. 6-8). Sie befreit zu einem neuen Umgang mit Krankheit und Sterben in der Gemeinde (Kap. 9), denn sie befreit von falscher Selbstüberschätzung (Kap. 12) und von der Neigung, „Andere“ zu diskriminieren (Kap. 13), zu einer „ebenerdigen Theologie“, die zum „aufrechten Gang an zwei Gehstöcken“ ermutigt. Eine Gemeinde wird dann zum Ort, an dem die Mängel der Stärksten und die Gaben der Schwächsten „aufgehoben“ sind (Kap. 14). Auch in der Theologie werden wir mit einigen Traditionen brechen müssen. besonders im Blick auf die traditionelle Auslegung der biblischen Heilungsgeschichten. Auch unsere Beziehungen zu den Juden werden sich ändern, wenn wir lernen, uns mit deren Augen, in deren Perspektive zu sehen (Kap. 15). Insgesamt geht es also um die Umkehr zu einer „Diakonie ohne Hochmut, ohne Herablassung und ohne religiösen Mehrwert“ (Kap. 16).

HEILUNG

Der dritte Teil der Beiträge (Kap 11-20) greift das heikle Thema „Heilung“ nochmals in Gestalt einer Bibelarbeit zu Mk 1,21-2.12 auf – unter der kritischen Fragestellung, was die „Heilungsgeschichten“ uns verheißen und wozu sie uns verführen können. Dieses älteste Evangelium unterscheidet offensichtlich zwischen der Verkündigung Jesu vom Anbruch der Gottesherrschaft (zu der die Austreibung der Dämonen untrennbar gehört) und den Heilungswundem. in denen sich die Gottesherrschaft manifestieren kann, die Jesus aber schroff verweigert, wo sie die Gottesherrschaft ins Zwielicht rücken würden. Jesus hat Kranke geheilt, aber er ist nicht zum Heilen „gekommen“. Gottes Heil ist auch ohne des Menschen Heilung „ganzes Heil“ (442). Nach Joachim Gnilka „bemißt sich der Offenbarungswert der Wunder Jesu als ein im Kreuz gebrochener. Macht des Wundertäters und Ohnmacht des Gekreuzigten stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, das nicht aufgelöst werden kann“ (415). Die Heilungsgeschichten sind insoweit in Gefahr, eine innerkirchliche „Apartheidstheologie“ zu befördern (wie 281-94, 321-30, 349-60 bereits demonstrieren). Aber „Gottes Heil kommt nicht mit Glanz und Gloria; es ereignet sich da, wo Jesus am Kreuz stirbt […] Gesundheit ist da, wo Gott herrscht nicht besser, Behinderung ist nicht schlechter […] Ihr seid allzumal einer in Christus (Gal 3,28)“ (440). Für Bach bietet das Ringen Jesu in Gethsemane die Vorlage zum Gebet von Kranken, wie von Behinderten und ihren Angehörigen; denn es lässt ihnen Raum für das Nein, die Klage und für den Wunsch, die Kirche hätte einen Heilungsauftrag. Doch immer muss Jesu Wort gelten: „Nicht, was ich will, sondern, was Du willst“ (463).

Das Buch klingt aus mit Bachs Predigt bei seiner Verabschiedung 1996, in der er eine Gemeinde, in der behinderte Kinder Sitz und Stimme haben, als „Sonderschule Jesu“ beschreibt: „Hier sitzen die Professoren, die uns deutlich beibringen, was Evangelium […] ist“ (F. v. Bodelschwingh). Bach beschließt sein Buch mit einem Satz, der wohl als das Credo dieses lebenslangen Suchers nach dem Sinn der eigenen Behinderung zu begreifen ist: „Jesus Christus wurde uns allen in gleicher Gültigkeit Bruder und Freund; darum ist keiner von uns wichtiger als der Schwächste von uns“ (495).

Rolf Zerfaß

Buchbericht Dörte Gebhard

Rissige Theologie
Bausteine einer Theologie nach Hadamar (Buchbericht)
Dörte Gebhard
in:
Pastoraltheologie,
97. Jahrgang, 144-153

dazu:

Ulrich Bach, Rönsahl am (07. bis) 22.06.08

Sehr geehrte, liebe Frau Gebhard!

Auch wenn meine Gedanken noch nicht sauber geordnet sind, will ich den vereinbarten Brief beginnen. Ich werde einfach Punkt für Punkt einige Dinge nennen.

Gefreut habe ich mich darüber, daß Sie die einzelnen Kapitel auch einzeln gelesen als sinnvoll bezeichnen. Das nimmt manchem hoffentlich die Angst vor dem dicken Buch.

1) Interessant fand ich zunächst Ihr Spielen mit dem Wort „Riß“. Nach und nach kommen mir aber Bedenken. Für mich bezeichnet der Riß ein Faktum, das mir übergestülpt wurde. Ich war rein passiv, hatte mich mit dem Riß zu arrangieren. Wenn Sie nicht schreiben: Biographie mit Riß, sondern rissige Biographie, dann ist das doch wohl zweierlei. „Rissig“ heißt für mich soviel wie brüchig: Es kann zu einem Riß kommen oder auch zu vielen; die Nähe zu „darauf ist kein Verlass“ ist erheblich. Wenn Sie an anderer Stelle schreiben, ich risse aus meinen theologischen Elternhäusern aus, oder ich zerrisse die Nähe von Jesu Predigen und Heilen, dann hat das mit dem ursprünglichen Riß nicht oder nur wenig zu tun; oder wollen Sie das überhaupt nicht andeuten?

2) Die zweite Hälfte Ihrer Text-Seite 146 „hat es in sich“, wenn ich das mal so sagen darf. Ihr Nein zu einer kalten Uniformität ist deutlicher als die von Ihnen gemeinte Position. Die „unvergleichlich verschiedenen Gottesbilder“ sehen Sie offensichtlich als Reichtum. Zu meinen ältesten theologischen Grundthesen gehört die Forderung, in Diakonie und Kirche sauber zu entscheiden, ob unser Denken von Baal oder von Jahwe herkommt (nach E.Käsemann), etwa: „Sage mir, wie du von Gott redest und ich sage dir, wie deine Diakonie aussieht“ (so in einem Text, um den mich der Weltrat der Kirchen, Genf, bat; abgedruckt in „Boden unter den Füßen hat keiner“, S.193-218, Zitat: S. 196). Die gleiche Unterscheidung schimmert in meinem Buch von 2006 mehrfach durch. Wer sich in der Käsemann’schen Alternative „Baal oder Jahwe“ für Jahwe entscheidet, geht damit ein Risiko ein. Der Rückenwind gebende Wünsche–Erfüller Baal hat bei uns Menschen die „besseren Karten“. Bei Jahwe leidet die „Quote“. Vor wenigen Wochen „erfand“ ich diese Ausdrücke: Quoten–Kirche, Quoten–Theologie und Quoten-Diakonie und denke dabei an Micha 2,11: „Wenn ich ein Irrgeist wäre und ein Lügenprediger und predigte, wie sie saufen und schwelgen sollen – das wäre ein Prediger für dies Volk!“. Wie wir heutzutage auch in der Kirche wie Politik und Fernsehen nach Umfragen und Quoten–Zahlen schielen, verbittert mich geradezu. Die dritte Versuchung Jesu (nach Matthäus) darf man gewiß als Jesu Kontra gegen das Angebot eines unschlagbaren Quoten–Plazes interpretieren („das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest“). Vor Jahrzehnten beklatschten wir den Mut derer, die sich zu DDR-Zeiten weigerten, sich den östlichen Ideologien anzupassen. Sind die damaligen Sätze seit 1990 aktuell nur noch zur Pflege unserer gelegentlich wach werdenden kirchlichen Helden-Gedenktags-Anwandlungen, oder benennen sie eine Gefahr, die in für die Kirche ruhigen Zeiten vielleicht größer ist als damals? Ich denke da an zwei Sätze, die der Magdeburger Bischof Werner Krusche 1979 sagte: „Eine Kirche, die unbedingt überleben will, hat sich überlebt“, und: „Eine Kirche, die es mit keinem verderben will, ist durch und durch verdorben.“ – Jedenfalls behaupte ich, daß es in Kirche, Diakonie und Theologie auch Gottesbilder gibt, die schädlich sind; dabei denke ich beispielsweise an die Ideologie der Berufsbildungswerke. Der starke und alles Schwache stärken wollende Gott soll helfen, daß der schwerbehinderte Mensch in unserem Wirtschaftsleben konkurrenzfähig wird. Wenn jemand diesem Anspruch nicht genügen kann, muß er vorzeitig seine Koffer packen, und die anderen sagen: Den ham`se totgeschrieben (Vgl. S. 57).  Die Scheu dieser jungen Leute, in die Häuser der Schwerstbehinderten zu gehen oder mit ihnen gemeinsam Unternehmungen zu starten, ist sehr ausgeprägt; bei den Mitarbeitern ist es zuweilen ganz ähnlich (deutlich: Spaltung durch ein unbiblisches Gottesbild). Meine These, die ich, ohne die These deutlich schon zu formulieren, in meinem Kapitel 3 breit erkläre, kann so lauten: Ein Gottesbild, das in Kirche und Theologie gelebt und gepflegt würde, das es aber ermöglicht oder gar fördert, die in irgendeinem Sinne besonders Schwachen diskriminierend zu übersehen oder auszusondern, ein Gottesbild also, das am Horizont die Konturen von Hadamar erkennen läßt, darf in der Nachfolge Jesu niemals als legitim gelten. In der Titelfrage des 3. Kapitels darf / muß das Fragezeichen gestrichen werden; in der Spur Jesu gilt tatsächlich: Keinerlei Grenzen nach unten! So verstehen Sie bitte mein Bemühen um eine saubere reformatorische Theologie, in der ja ein Spielen mit mehreren Gottesbildern völlig undenkbar ist.

3) Das Beispiel der „Ideologie der Berufsbildungswerke“ führt direkt zu zentralen Fragen und Aussagen meines Buches: Sind wir unterwegs zu den Schwächsten, „nicht nur um zu helfen, sondern um hier (!) Theologie (!) zu lernen (!)“? (S. 92). Realisieren wir den mehrfach im Buch zitierten Impuls aus Nairobi: Wie kann die Kirche sich öffnen für die Jesus-Botschaft behinderter Menschen (S. 149)? Von einer Tagung in Lunteren berichte ich Seite 73 f: Leichter Behinderte widersprachen kräftig meiner These, Behinderung gehöre in die gute Schöpfung Gottes; Menschen aber die selber schwerstbehindert waren oder beruflich Erfahrungen mit Schwerstbehinderten hatten, stimmten erleichtert zu. Oder ich denke an eine Studentin die während einer Seminarsitzung uns sehr offen von ihrer kaum sichtbaren Behinderung erzählte und davon, daß ihr ein Pfarrer gesagt hatte, sie dürfe nicht mit Gott hadern, sondern müsse ihm dankbar dafür sein, daß es sie nicht schwerer getroffen hatte (S. 147–149); spannend wurde es dadurch, daß sie uns sagte, Gott sei vielleicht gerecht, aber diese Gerechtigkeit könne sie absolut nicht verstehen. Wir erkannten die beiden Möglichkeiten, das zwar zu respektieren, aber für uns keineswegs zu übernehmen (damit käme es zu einer Art Zwei- Klassen–Theologie), oder aber ihren Satz auch für uns persönlich zu übernehmen (wir können ja auch nicht verstehen, warum wir ohne die selbe Behinderung leben dürfen). Auf der ganzen Linie ist eine Bewegung zu fordern, die Ursula Adams „Karriere nach unten“ nennt (so betitelte sie 1979 einen Aufsatz in: Geist und Leben, 52, S. 201ff), und die von Bodelschwingh dazu führte, die Schwerstbehinderten „unsere Professoren“ zu nennen (S. 92). – Nebenbei gesagt: Diese Bewegung bezieht sich nicht nur auf die Theologie, sondern bezieht anderes mit ein. Zwei Alltags-Beispiele: In einem Mitarbeitergespräch erklärte ein Arzt den Unterschied zwischen behindert und krank und sprach mich unmittelbar an: Sie würden doch (außer im Fall einer Grippe) niemals sagen, Sie seien krank. Ich weiß meine Antwort nicht mehr, spüre aber noch deutlich die mir plötzlich bewußt werdende Zweischneidigkeit dieser Frage. Setze ich mich nicht, wenn ich „natürlich nicht“ antworte, von den vielen auch in Volmarstein lebenden Muskelkranken ab, zu deren Behinderung es gehört, dass ihre Behinderung sie unaufhaltsam schwächer werden läßt: Ganz so schwer wie ihr bin ich ja nicht behindert, denn ihr seit ja auch krank? Oder: Einige Jahre widersprach ich heftig, wenn jemand sagte, ich sei an den Rollstuhl gefesselt (vgl. Bach Boden, S. 21); bis ich dann spastisch gelähmte Menschen erlebte, deren Spasmen in den Beinen so heftig sind, daß ihre  Beine mit Lederriemen am Rollstuhl fixiert werden müssen. Seitdem protestiere ich kaum noch gegen das Wort gefesselt.

4) Zunächst sträubte ich mich gegen ein Gefühl, das eine Passage Ihres Buchberichtes bei mir auslöst, aber es ließ sich nicht abwimmeln, der Schmerz nämlich über Ihre Darstellung meiner Markus-Exegese. Ich hatte mich bemüht, meinen tatsächlich zu einer aufregenden These führenden Gedankengang in kleinen Schritten dem Leser vorzulegen und zu erklären, hatte an einer besonders wichtigen Stelle eine selbstkritische Kontrolle eingebaut (ich denke an S. 419 ab Mitte und dazu an S.442 f), um wirklich sicherzugehen, daß ich hier nicht eigenen Gedanken freien Lauf lasse, sondern klar in der „Spur“ (so sage ich mehrfach) des Markus bleibe. Und bei Ihnen lese ich: „in einer sehr gewagten, weitreichenden Spekulation (…) malt sich der Theologe aus, wie Jesus… verzichtet hat.“ Liebe Frau Gebhard, das tut weh. Von da aus fiel mir auf, daß Ihr Eingehen auf meine Markus-Kapitel auch sonst spärlich und meist kritisch ist: Bach „zerreißt auch Jesu Predigtauftrag und Heilungsberichte, die nach Markus zusammenhängend berichtet werden“. Bin ich zu empfindlich, wenn ich hier einen Gegensatz Markus / Bach heraushöre? Jedenfalls scheinen Sie meinem (wie ich meine) Nachweis nicht folgen zu können, daß Markus selber „Predigtauftrag und Heilungsberichte“ sehr deutlich und scharf auseinander hält. Was könnte ich da „zerreißen“? Markus selbst hat beides sauber getrennt, und ich warne nur davor, beides wieder miteinander zu verrühren und sich dabei österliche Arzt-Bilder „auszumalen“, wie es heute oft geschieht (vgl. z.B. S. 432 zu Mk 1.31). Mich macht es schon neugierig, an welcher Stelle Sie meinen wiederholten Hinweisen auf diese Markus–Unterscheidung nicht mehr zustimmen können. Klar: Ihre Formulierung „Spekulation“ meint eindeutig die „Meditation“, also das Kapitel 19, aber offenbar sehen Sie auch das Kapitel 18 schon sehr kritisch; und hier fällt die für den Gesamtinhalt des Buches noch wichtigere Endscheidung: Weil Markus die Dämonenaustreibung als eine Weise der Predigt versteht (wie Sie ja S.151 auch zitieren) und die Heilungen davon absetzt, anders gesagt: Weil Markus den Kampf Jesu gegen das Böse auf sein Predigen (gegen Unglauben und falschen Glauben) und auf seine Exorzismen (gegen die bösen Geister) begrenzt und damit alle Kranken und Behinderten aus der Kampfarena befreit, darum vertritt Markus insgesamt die Gegenposition zu jeder Apartheids–Ideologie, die nicht auskommt, ohne Krankheiten als Teil des Bösen zu definieren.

(Kleiner Nachtrag zu „Spekulation“. Seit Jahren bin ich oft entsetzt über die Lässigkeit, mit der manche theologische Sätze zustande kommen. Kleines Indiz für meinen Zorn ist, was ich auf Seite 449 sage: „Tun wir doch nicht so, als seien uns“ biblische Texte „zur theologischen Plünderung freigegeben worden!“ Darum gehört es für mich zu den schmerzhaftesten Kritiken an meinen theologischen Äußerungen, wenn jetzt auch meine Sätze Spekulation genannt werden. Denn für mich ist klar: „Indem ich mich der Predigt der Evangelisten stelle, stelle ich mich dem verbindlichen (das heißt: dem ihn und mich zusammen–bindenden) Wort unseres Herrn“, so Seite 413).

5) Daß bei Ihnen meine Markus–Ausführungen recht knapp behandelt werden, könnte, wenn ich recht sehe, in einem größeren Zusammenhang stehen. Den Grund–Gegensatz, der sich durchs ganze Buch zieht, bilden die beiden Pole

6) Eine weniger wichtige Korrektur noch eben. Auf Seite 150 schreiben Sie, ich sei „unmittelbar nach [m]einer Krankheitserfahrung aus [m]einen theologischen Elternhäusern“ ausgerissen. Das passierte aber erst wesentlich später. Die ersten 10 Jahre im Rollstuhl gab es für mich viele Fragen der Frömmigkeit: Was kann ich beten, worauf kann ich hoffen, wie lange darf ich um Genesung bitten? Auch suchte meine Spiritualität weiterhelfende Bibelverse und Bilder, etwa „die Wüste“. Aber daß ich mich als Geschöpf Gottes, als gleichberechtigtes Gemeindeglied sah, war völlig selbstverständlich. Meine vier Bonner Semester studierte ich völlig „normal“ Theologie, mit einer kleinen Ausnahme: In einer Seminar–Sitzung sagte H.J. Iwand einen Satz (inhaltlich längst vergessen), bei dem mir sofort klar war: Wenn der richtig ist, war das, was ich in der Klinik den Kameraden gesagt habe (in Richtung: Wir brauchen Jesus), falsch. Nach Ende der Sitzung sprach ich Iwand an, er ging sehr freundlich auf meine Argumente ein, versuchte aber behutsam, mich auf die Gefahr hinzuweisen, daß wir Jesus als Quasi-Medikament anpreisen. Zehn Jahre nach meiner Erkrankung, bei meinem Dienstantritt in der Volmarsteiner Behinderteneinrichtung, ergaben sich dann theologische Fragen in Fülle (S.19–21). Die Hilfe, die ich plötzlich brauchte, suchte ich lange Jahre bei der Theologie, die ich im Bücherschrank hatte. Die ersten großen Fragezeichen an die Theologie ergaben sich in den siebziger Jahren, zunächst sehr vereinzelt, dann aber an mich erschreckend vielen Stellen. Das Ergebnis kennen Sie, haben dankenswerterweise ausführlich darüber berichtet. – Mag sein, ich habe selber für diese (gerade von mir kritisierte) Ungenauigkeit gesorgt. Zwar sage ich mehrfach, die durch meine Erkrankung aufbrechenden Fragen und Gedanken hätten erst recht langsam deutliche Formen angenommen (S. 18: damals „mehr Gefühl als These“; S.93: die Bonner Semester verliefen normal, das bisher eher Gefühlte meldete sich 1962 „um so dramatischer zu Wort“). Aber das zweite Kapitel, das ja ausdrücklich biographisch sein soll, ist da recht ungenau, indem ich unter der Überschrift „radikales Fragezeichen von 1952“ in systematischer Weise sozusagen fertige Früchte vorstelle. Mindestens die Überschrift hätte ich anders gestalten müssen, etwa: „Das langsam sich abzeichnende und Gestalt annehmende radikale Fragezeichen seit 1952“.

7) Lassen Sie mich noch eingehen auf Ihre Kritik an meinem Satz: Gott will, daß dieses Leben mein Leben ist. Dieser Satz löst auch bei anderen Lesern des Buches trotz meiner darin enthaltenen Versuche, Mißverständnisse auszuschließen, nach wie vor Kritik aus. Jetzt will ich mehrere Aspekte etwas ausführen:

  • Mein Satz will nicht als repressives Gesetz verstanden werden (das hieße: Gott will das so; du hast dich zu fügen), sondern als subversives Evangelium (laß dir nicht einreden, du seist weniger als die anderen; Gott könne nur mit intakten Geschöpfen etwas anfangen). (Vgl. im Buch von 2006 S, 169f; vgl. auch S. 54f u.ö.)
  • Die damalige Antwort will auch keinesfalls als allgemein gültiger, immer austeilbarer Satz verstanden werden, so als könne der Krankenseelsorger bei seinen Besuchen ihn von Bett zu Bett wie eine Tablette verabreichen. Vielmehr will er zunächst einmal den nichtbehinderten Leser (oder Hörer; bei der „Uraufführung“ war es ein österreichischer Offizier) anregen, ihn mit seiner eigenen Spiritualität ins Gespräch zu bringen: Was besagt eigentlich mein Glaube, ein Geschöpf Gottes zu sein, konkret: Bezieht sich dabei mein Glaube nur auf positive Dinge (gute Schulnoten, zufriedenstellender Arbeitsplatz, Begabungen); oder auch auf das negativ von mir Erlebte (daß der Kollege „besser“ ist als ich, daß ich meinen Kindern gegenüber oft wenig Geduld habe usw.)? (Vgl. S. 270).
  • Mein Satz degradiert Gott auch nicht zur Verstehens-Agentur für unsere Rätsel, und zwar in zweierlei Hinsicht:
    (a) Er redet von Gegenwart und Zukunft: Gott will, daß ich mein behindertes Leben mutig gestalte; ich sage nicht: Gott ‚wollte‘ (Vergangenheit), daß mich die Viren erwischten; diese Frage bleibt lebenslänglich ein Rätsel.
    (b) Der Satz behauptet auch nicht, für Gegenwart und Zukunft die Lösung der Kreuzworträtsel unseres Lebens zu sein. Der Satz lebt überhaupt nicht auf der Ebene von Frage, Antwort, Information und Wissen, sondern auf der Ebene von Zusage, Hören, Hoffen  und Vertrauen. In einem Exkurs zu meinem Urlaubssatz (Buch von 2006, S. 54f) zitiere ich Martin Luther, der auch im Blick auf verworrene Lebenssituationen dazu ermutigt, unseren väterlichen Gott am Werk zu sehen: „Wenn … dein Wesen ein Stand ist, der nicht an sich selber Sünde ist, selbst wenn du durch Sünde oder Torheit hineingekommen wärst…, so hat dirs gewiß Gott geschickt und bist in einem Wesen, das Gott gefällt“ (S. 55). Jedes Urteilen darüber, warum Gott mich in dieses „Wesen“ „geschickt“ hat, ist mir verwehrt. Ohne inhaltlich den göttlichen Willen genauer benennen zu können, darf ich darauf vertrauen, daß hier keine andere Macht meinem Schöpfer ins Handwerk gepfuscht hat: höre diese Zusage, vertraue darauf: Gott selber ist hier am Werk. – Genau entsprechend der dritten Vaterunser-Bitte überläßt mein Satz die inhaltliche Füllung (Perspektive des „Habens) des göttlichen Willens dem Schöpfer selbst. Wichtig allein ist das Vertrauen zu unserem himmlischen Vater (Perspektive des „Seins“): Dein Wille geschehe. Angesichts Ihres Textes, die letzten 16 Zeilen der Seite 152, sehe ich an dieser Stelle keinerlei Widerspruch zwischen uns.

Grundsätzlich, also auch bei jenem Urlaubs-Satz zu Anfang der siebziger Jahre, ist meine oft wiederholte These des einheitlichen theologischen Redens über behinderte und nicht behinderte Menschen mitzuhören. Diese These trieb ich in meinem Buch im Nachdenken über ein Zitat aus „Gott ist ein Freund des Lebens“ auf die Spitze (S. 108). Das dort entwickelte Bespiel möchte ich im Blick auf jenen alten Satz wiederholen: Wenn alle sagen, wir dürfen von Gott dem Schöpfer nicht so reden, daß jeder sich als persönlich so geschaffener Mensch glauben könnte, dann könnte ich zur Not auf meinen Satz verzichten, aber wirklich nur dann. Was auf jeden Fall ausgeschlossen bleiben muß, wäre die Möglichkeit, die für uns erfreulichen Tatbestände (Gesundheit, Arbeitsplatz usw.) auf Gott zurückzuführen, alles Negative aber nicht. (Solche Abspaltung des Negativen gehört zu unseren apartheids-theologischen Traditionen, vgl. S. 21f u.ö.) Wie selbstverständlich zum Bespiel jährlich das Erntedankfest zu feiern und bei Taufgottesdiensten Gott dafür zu danken, daß er Mutter und Kind bei der Geburt gnädig bewahrte, müßte zwingend die ebenso richtige Möglichkeit neben sich haben, als Behinderter zu sagen: Gott will, daß dieses Leben im Rollstuhl  mein Leben ist. Im Sinne der für alle Menschen einheitlichen theologischen Sätze werde ich weiterhin sagen, mein Satz sei verallgemeinerbar. Das aber nicht im Sinne eines Gesetzes, nach dem jeder diesen Satz ‚schlucken‘ müßte; andererseits ist der Satz aber auch kein Privat-Bekenntnis, das alle anderen nichts anginge. Vielmehr sehe ich in diesem Satz (a) ein Signal dafür, daß da jemand nicht schon beim dritten Sandkorn in der Sandale (vgl. S. 166) aufhört, sein Leben weiterhin unserem Schöpfer-Gott zu verdanken; und (b) eine Einladung (Frage, Aufforderung) an meine Mitchristen: wollt ihr nicht auch versuchen, etwa bei Verlusten (auch größeren Verlusten) mit Hiob daran festzuhalten: Gott hat nicht nur gegeben, er ist es auch, der es jetzt genommen hat, „der Name des Herrn sei gelobt“ (Hiob 1,21)

8) Eine „Macke“ bei mir kenne ich lange und weiß sie nicht abzustellen: Meine Äußerungen zu einem Text, der mich erfreut hat, an dem ich aber relativ kleine Punkte kritisch sehe, gestalte ich ungewollt so, als sähe ich nur zu Kritisierendes und (fast) nichts anderes. Darum will ich noch einmal betonen: Das „riesig gefreut“ meiner ersten sehr kurzen E-mail an Sie gilt nach wie vor. Ich finde es großartig, wie viel Zeit und Mühe Sie eingesetzt haben, um einer größeren Öffentlichkeit über mein Buch zu „berichten“. Sehen Sie bitte auch die kritischen Passagen meines Briefes als meinen Beitrag zum theologischen Gespräch.

Mit nochmaligen Dank und vielen guten Wünschen

Grüßt Sie    Ihr Ulrich Bach 

Rezension Robert Mette

Aus:
Diakonia. Internationale Zeitschrift für die Praxis der Kirche.
38. Jahrgang, Heft 5, September 2007, S. 376f.

Ulrich Bach
Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz
Bausteine einer Theologie nach Hadamar
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006
512 Seiten, Eur-D 34,90

Auf einer theologischen Bestsellerliste müsste dieses Buch von Ulrich Bach, einem seit seinem Studium vor nunmehr 55 Jahren auf den Rollstuhl und entsprechende Assistenz von anderen angewiesenen evangelischen Theologen, auf einem der obersten Plätze rangieren. Es ist ein Buch, in dem viele Erfahrungen, wie Bach sie sowohl am eigenen Leib als auch in seiner beruflichen Tätigkeit in der Evangelischen Stiftung Volmarstein gemacht hat, und theologische Reflexionen engstens miteinander verschränkt sind. Leidenschaftlich setzt der Autor sich dafür ein, dass die – wie er sie im Anschluss an das Evangelium nennt – „Schwächsten“ als vollwertige Subjekte in Kirche und Theologie und darüber hinaus in der Gesellschaft anerkannt werden. Das zeitigt enorme Konsequenzen bis in die theologische Reflexion hinein, läuft auf eine totale Umkehrung mancher geläufig gewordener Annahmen hinaus, z.B. dass Behindertsein als etwas angesehen wird, was in Gottes heiler Schöpfung eigentlich keinen Platz hat.
Bach wehrt sich allerdings dagegen, dass es so etwas wie eine Behinderten-Theologie geben sollte. Damit würde ein weiteres Mal Apartheid gefördert. Nein, er möchte eine Theologie, in der alle Menschen so, wie sie sind, vorkommen können. Programmatisch schreibt er: „Die Hauptthese einer ‚Theologie nach Hadamar‘ kann ich so formulieren: Ob ein Mensch Mann ist oder Frau, blind oder sehend, schwarz oder weiß, dynamisch-aktiv oder desorientiert-pflegeabhängig, ist theologisch (von Gott her, im Blick auf Heil oder Unheil) absolut ohne Bedeutung. Von Bedeutung ist allein, dass das alles ohne Bedeutung ist. Das allerdings ist von Bedeutung; denn es entscheidet darüber, ob wir noch ‚dem Alten‘ zugehören (wir alle, ich denke jetzt nicht etwas nur an die Ausgegrenzten, sondern besonders stark an die unbewusst und ungewollt Ausgrenzenden) oder ob es unter uns ’neue Kreatur‘ gibt: alle allzumal einer in Christus, die Familie Gottes, der Leib Christi, die Gemeinde als ‚Gegenwirklichkeit zur Apartheid‘.“ (S.26)

„Hadamar“ steht – „Auschwitz“ vergleichbar – für das Euthanasieprogramm der Nazis. Die Relektüren, die Bach in diesem Buch zu biblischen Texten und theologischen Konzepten vornimmt, sind im wahrsten Sinne des Wortes aufregend und erhellend. Das kann in einer Rezension gar nicht adäquat wiedergegeben werden. Deswegen kann nur mit Nachdruck die Lektüre dieses Buches empfohlen werden. Wer sich darauf einlässt, liest nicht nur etwas, sondern wird unweigerlich persönlich von den Gedanken Ulrich Bachs betroffen und in sie involviert.

Norbert Mette, Dortmund

Rezension Ralf Prange

Von RALF PRANGE – © Die Berliner Literaturkritik, 01.11.07
www.berlinerliteraturkritik.de

Denn selig sind auch die Kranken
Der Theologe Ulrich Bach über Krankheit und Christentum

Von RALF PRANGE – © Die Berliner Literaturkritik, 01.11.07

Was ist das – Theologie nach Hadamar? Ulrich Bach hat ein intensives Plädoyer vorgelegt, das die Frage nach Gesundheit und Heil in der Theologie neu stellt. Wie oft lesen bzw. hören wir in der Bibel von jesuanischen Heilungen – Lahme gehen, Blinde sehen und Stumme bekommen wieder eine Stimme. Tolle Erzählungen von großer Kraft und schönem Eindruck sind das, aber, so fragt Pfarrer Bach als langjähriger Leiter der Volmarsteiner Anstalten, wie sollen Menschen mit ihren Krankheiten, Schwächen und Behinderungen diese Heilungswunder verstehen? Sind sie, die nicht perfekt gesunden, die eingeschränkter leben Müssenden, also nicht von Gott gewollt, nicht Teil der guten Schöpfung? Hatten am Ende die Nazis doch recht mit der Vernichtung Kranker an Unorten wie dem genannten Hadamar.

Wie es eine Theologie nach Auschwitz geben muss, die sich von derjenigen vor diesem Grauen deutlich unterscheidet, so muss es auch eine neue Theologie nach Hadamar geben, und diese hilft allen in unserer Gemeinschaft, sich besser zu verstehen als Gesündere und Kränkere. Annehmen können von Krankheit und Behinderung gehört dann ebenso dazu wie die laute Klage, die Anklage an Gott ob dieses Schicksals.

Am meisten müssen alle diejenigen dazu lernen und in Bachs gewaltigem Werk lesen, die bisher die Verwandlung Kranker in Gesunde als natur- und gottgewollte Ordnung gesehen haben. Die Schwächsten in unserer Mitte, in der Kirche ebenso wie in der Gesellschaft überhaupt, werden mit den Gesunden zusammen leben müssen ebenso wie mit ihren Krankheiten. Sie werden realiter eben nicht morgen von Jesus getroffen und geheilt, und doch sind sie so in Ordnung, wie sie nun einmal ausgestattet sind. Und das durchzubuchstabieren ist eben mehr als schwer!

Ulrich Bach versucht es, auf fast 500 Seiten, immer wieder neu die Situationen des Lebens und die Texte der Bibel ins Gespräch bringend. Sein Buch ist dabei von verwirrender Verästelung in kleinste Details voll wie von großen Entwürfen. Ich konnte wunderbar darin schmökern, dann wieder konzentriert lesen, dann schmunzelnd blättern. Mich reizt diese Sammlung unterschiedlichster Aufsätze zum Thema zum ständig neuen Nachdenken und Infragestellen von Altbekanntem. Nicht zuletzt lassen sich auch hervorragende Predigten über die Heilungswunder des Neuen Testamentes aus der Lektüre und Bearbeitung des Buches entwerfen.

Eine neue Sicht, die vielen in unserer Gesellschaft, so habe ich es wahrgenommen, sehr gut tut. Endlich werden sie einmal ernst genommen und für voll erachtet mit allem, was krumm und stinkend ist an der eigenen Existenz. Was ist der Mensch? Diese Frage beantwortet Ulrich Bach nicht mit einem Hochglanzprospekt, sondern mit der scharfen Feder des genau hinsehenden und dabei eben nicht selbst urteilenden Verstands des ebenso klugen wie biblischen Theologen.

Bleibt mir als Rezensenten also nur, diesem gelungenen, Michael Schibilsky gewidmeten Werk fünf Sterne zu geben und ihm viele Leser und Leserinnen zu wünschen.

Ralf Prange ist Vikar in Berlin und schreibt als freier Autor für dieses Literatur-Magazin.

Literaturangaben:
BACH, ULRICH: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2006. 512 S., 34,90 €.

Rezension Hilde Schädle-Deininger

aus:
Psych Pflege 2008; 14:167-184

Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz – Bausteine einer Theologie nach Hadamar

Bach, Ulrich: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz – Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchener Verlag Neukirchen Vluyn 2006, 512 Seiten, 34,90 €, ISBN 3-7887-2160-X

“So ging es nicht weiter – in der Kirche – wie vor 1933 – Antisemitismus und Nationalstolz – auch in der Kirche – auch bei Theologen – Wegschauen später – als die Juden geholt wurden – Holocaust – die Öfen glühten – in Auschwitz und andernorts – nötig wurde Buße – kirchliche Umkehr – Theologie nach Auschwitz
So geht es nicht weiter – in der Kirche – wie vor 1933 – Stärke und Stolz auf eigene Gesundheit – Diskriminierung der »Minderwertigen« – auch in der Kirche – auch bei Theologen – Wegschauen später – als behinderte Menschen geholt wurden – Euthanasie – die Öfen glühten – in Hadamar und andernorts – nötig wird Buße – kirchliche Umkehr – Theologie nach Hadamar”

Dieses Gedicht der Verfasser steht am Anfang des Buches und fasst zusammen, was wichtig ist, wenn über die Haltung der Kirche, ihre Verfehlungen, ihre Bereitschaft zu Nachdenken und Stellungbeziehen geschrieben und zum Nein-Sagen in verfänglichen Situationen aufgefordert wird. Ich habe mich auch gefragt, ob es Zufall ist, dass der Autor das Vorwort zu diesem Buch Ostern 2006 verfasst hat, denn auch zu Lebzeiten Jesu ging ein Riss durch die Reihen.

Die Frage nach dem Absoluten bzw. Unumstößlichen, aber auch bekennender Einstellung bzw. Grundhaltung  kommt aus meiner Sicht ebenso zum Tragen wie das sich auf Situationen Einlassen und Lösungen ganz individuell Suchen. Das Buch gründet auf Bibelstellen und ist gespickt mit Quellen und Querverweisen, Belegen aus theologischen Schriften, Veranstaltungen,philosophischen Hintergründen und aktuellen, auch politischen Diskussionen. Deshalb kann alles zu Papier gebrachte nur bruchstückhaft sein.

Ein paar fragmentarische Inhalte sollen dies verdeutlichen: Der Umgang mit Stärken und Schwächen wird als Lernfeld theologischer Arbeit dargestellt. In diesem Zusammenhang wird unter anderem versucht, aufzuzeigen, dass es auch im Bereich Gesundheit, Krankheit, Behinderung, Leistung sinnvoll und notwendig ist, eine kontextuelle Theologie zu entwickeln, die auch “Nicht-Annehmen” zulässt, auch darauf verweist, dass selbst in der Bibel mit Gott gehadert wird, wie beispielsweise Hiob zeigt. Das Kapitel “Theologie nach Hadamer – als europäische Befreiungs-Theologie” könnte vielleicht mit den Worten zusammengefasst werden: Der Mensch hat eine angeborene Würde, die durch nichts und durch niemanden infrage gestellt werden kann. Und – Hoffnung gehört zu den zentralen Begriffen des Evangeliums. Gleichzeitig sind auch Leid, Tod nicht nur Randerscheinungen im Kontext des Glaubens. Und das ist kein Widerspruch! “Theologisch gesprochen: Das Bekenntnis zu dem einen Gott können wir nicht durchhalten, wenn wir ihn auf die Rolle des Schön-Wetter-Gottes festlegen. Diese religiöse Weltanschauung zerbricht bei jeder Begegnung mit Schwerkranken und erst recht, wenn wir selber schwer erkranken oder in jungen Jahren von den Ärzten hören, nur noch eine eng befristet Lebenszeit vor uns zu haben. Der eine Gott lässt sich im Glauben nur durchhalten, wenn wir ihn wirklich Gott sein lassen und zugeben, ihn nicht zu verstehen.” Als Quintessenz und Grundaussage zu den Überlegungen “Wir sind in die Irre gegangen” und zur Diakonie in den Jahren vor 1933 und nach 1945 könnte die Äußerung der Synodalerklärung der Evangelischen Kirche im Rheinland “Erklärung zur Zwangssterilisation, Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens und medizinischen Versuchen an Menschen unter dem Nationalsozialismus” vom Januar 1985 gesehen werden, in der es heißt “Der geistige Hintergrund, aus dem jene Aktionen erwachsen sind, muss deutlicher werden, damit erneute Gefährdungen wehrloser Menschen verhindert werden können”. Beginnend auf der Seite 333 (!) zeigt der Autor seinen Weg zu einer Theologie nach Hadamar auf und stellt Anders-Sein, Behindert-Sein und einem bestimmten Volk anzugehören in Beziehung zueinander. “Selbstverständlich sehe ich die Gefahr, dass ich Unvergleichbares zu rasch mit anderem zusammenbringe. Jude-Sein ist etwas anderes als Behindert-Sein, ohne Zweifel. Und trotzdem: Näher beieinander sind schon die Frage des Nicht-Juden: Wie begegne ich einem Juden? Und die Frage des Nicht-Behinderten: Wie begegne ich einem Behinderten? Relativ nahe beieinander liegt auch das Unvermögen der Theologie, jüdische Menschen als gleichberechtigte Partner zu sehen und ihr Unvermögen, das Gleiche im Blick für behinderte Menschen hinzubekommen. Extrem nahe beieinander lagen bestimmte Vernichtungsmethoden der Nationalsozialisten: Bei der Vernichtung Geisteskranker in Pommern und im Wartheland wurden Gaswagen mit der Tarnaufschrift ‘Kaisers-Kaffee-Geschäft’ eingesetzt, Tötungsmaschinen, wie sie wenig später bei der beginnenden Judenvernichtung benutzt wurden.”

Eine ganz andere Annäherung an das Thema Holocaust und Nationalsozialismus. Beeindruckt hab mich vor allem die nachdenkliche, selbstkritische und fundierte Art und Weise, sich mit der Thematik aus theologischer Sicht auseinander zu setzten und gleichzeitig den Bezug zu sich selbst und zur heutigen Situation in Kirche und Gesellschaft herzustellen. Dies ist in einer sehr eindringlichen, machmal auch harten Form in den einzelnen Kapitel und Themen gelungen. Der Autor, Theologe und von einer Behinderung betroffen, hat mich in seinen vielfältige Ansätzen sehr beeindruckt – dabei besonders sein Anliegen, Konsequenzen für ein künftiges Wachsam-Sein gegenüber Anfängen des Ausgrenzens anzudenken.

Mit der Besprechung des Buches habe ich mcih allerdings sehr schwer getan.

Das hat viele Gründe. Das Buch fordert einen Nicht-Theologen sehr heraus. Zudem ist Hadamar mir sehr nache, da ich es als Unterrichtende im Gesundheitswesen als ein Muss finde, mit jedem Lehrgang einen Unterrichtstag in Hadamar zu verbringen, das bedeutet, sich immer wieder neu einzulassen auf die unmenschlichen Geschehnisse, gleichzeitiges Nachdenken über die Beteiligung  von Pflegenden swie eine Überprüfung der eigenen Haltungen und ideologischen Beeiflussung.

Es hat sich trotz der Mühe gelohnt, sich durch das Buch zu beißen. Denn hängengeblieben ist, dass das Mensch- und Mitmensch-Sein auch Widerstand beinhaltet und sich für Schwache und Andersartige einzusetzen. Dass Diakon (Gemeindehlefer, Krankenpfleger) sein, dienen und Gehilfe-Sein meint. DAmit ist ganz zentral zu verbinden, welche Traditionen der helfenden Berufe, zu denen ich nehben den Gesundheitsberufen auch einen Teil der Ausübung des theologischen Auftrags zähle, immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden und die berufliche Ausübung mit prägen müssen.

Hilde Schädle-Deininger, Offenbach

Rezension Gunda Schneider-Flume

aus:
Theologische Literaturzeitung 132 (2007), 1235-1237

Bach, Ulrich: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. 512 S. … Geb. EUR 34,90 ISBN 3-7887-2160-X.

Wie verhalten sich Nichtbehinderte und Behinderte in Gesellschaft und Kirche zueinander? Leben Behinderte und Nichtbehinderte definitiv getrennt, in “Apartheid”? Sind Heil und Gesundheit weitgehend identisch? Sind also Behinderte doch weiter enrfernt vom Heil? Wie sind auf dem Hintergrund dieser Fragen die neutestamentlichen Heilungsgeschichten auszulegen? Wie sind die Thesen zum “Wert” von behinderten Menschen, die Peter Singer entfaltet, zu beurteilen? Wirkt heimlich ein “Peter Singer in uns”? Welche Wirkung haben die Möglichkeiten der Medizin, auf die “Akzeptanz” von Behinderten? Wie sind die parlamentarischen und kirchlichen Äußerungen zu Behinderten und zur Bioethik zu bewerten? Diese und weitere Fragen bearbeitet das Buch von B., in dem Arbeiten aus fast 30 Jahren versammelt sind.

Es handelt sich um ein sehr persönliches Buch, Theologie und Biographie sind hier aufs Engste verwoben. Der Autor, Dr. theol. h.c. Ulrich Bach, war Pastor an den Orthopädischen Anstalten Volmarstein, heute: Evangelische Stiftung Volmarstein, einer Einrichtung für Behinderte, und Dozent für Neues Testament und Dogmatik. Seit einer Erkrankung an Kinderlähmung im Jahre 1952, nach dem dritten Semester des Theologiestudiums, ist er selbst auf den Rollstuhl angewiesen. Sein Lebenswerk ist die Arbeit mit Behinderten und die theologische Reflexion über deren Situation in Gesellschaft und Kirche und über das Verhalten von Kirche, Gesellschaft und Theologie gegenüber Behinderten.

Der Untertitel erinnert mit dem Namen „Hadamar“ an die dortige Heilanstalt als einen der Orte, an dem während des nationalsozialistischen Regimes die sog. „Euthanasie“ durch Ermordung von vielen Tausenden Behinderten und psychisch Kranker vollzogen wurde. Thema aller Arbeiten von B. ist das Bemühen um eine Theologie, die die Einstellungen brandmarkt und unmöglich macht, die zur Vernichtung von Behinderten führen konnten, denn Kirche, Theologie und Diakonie sind mitschuldig geworden an den Verbrechen.

Die Hauptthese der Theologie B.s und dieses Buches ist: „Ob ein Mensch Mann ist oder Frau, blind oder sehend, schwarz oder weiß, dynamisch-aktiv oder desorientiert-pflegeabhängig, ist theologisch (von Gott her, im Blick auf Heil oder Unheil) absolut ohne Bedeutung … Das allerdings ist von Bedeutung, denn es entscheidet darüber, ob wir noch ‚dem Alten’ zugehören … oder ob es unter uns ’neue Kreatur‘ gibt: alle allzumal einer in Christus, die Familie Gottes, der Leib Christi, die Gemeinde als Gegenwirklichkeit zur Apartheid'“ (26). Die eschatologische Egalität von Gal 3,28 bietet die Grundlage für eine christologisch orientierte „Theologie nach Hadamar“, die B. entwerfen will. Er versteht sie in Analogie zu einer „Theologie nach Auschwitz“ (377 ff.).

Die sechs Abschnitte des Buches, das mehrheitlich auf schon veröffentlichte Arbeiten B.s zurückgeht, die redigiert und erweitert wurden, aber auch noch unveröffentlichte Aufsätze enthält, kreisen um die zitierte These und bemühen sich, die Trennung, den Riss zwischen Behinderten und Nichtbehinderten im Alltag und in den Köpfen der Menschen aufzudecken und zu überwinden. Die Einführung (Abschnitt I) schildert die persönlichen Erfahrungen B.s mit dem Beginn seiner Behinderung und führt den seit langem von B. benutzten Begriff „Sozialrassismus“ für die Trennung von Behinderten und Gesunden ein. „Theologie nach Hadamar“ ist kontextuelle Theologie, die wie die südamerikanische Befreiungstheologie von unten her, von der Situation der Behinderten aus, ansetzt (Abschnitt II). „Theologie nach Hadamar“ wird als europäische Befreiungs-Theologie thematisiert (Abschnitt III). Abschnitt IV handelt von der Notwendigkeit, Abschnitt V zeichnet Grundzüge einer „Theologie nach Hadamar“. Abschnitt VI behandelt Mk 1 und 2 als Grundtext einer „Theologie nach Hadamar“ und beschäftigt sich mit der Auslegung der Heilungsgeschichten Mk 1,21 bis 2,12. Den Abschluss bildet eine Pfingstpredigt von 1996: „Gemeinde in der Sonderschule Jesu“.

Der gedankliche Aufbau des Buches folgt einer kreisenden oder spiralförmigen Bewegung, in der die zentrale These – in einer kurzen Formulierung gegen Ende des Buches lautet sie: „Behindert-Sein [ist] wie Nicht-Behindert-Sein eine Möglichkeit innerhalb der guten Schöpfung Gottes“ (487) – reflektiert und an der alltäglichen Erfahrung im Umgang mit Behinderten ebenso wie an einer Vielzahl von Äußerungen aus der theologischen und diakoniewissenschaftlichen Literatur überprüft wird.

B. schreibt keine Behinderten-Theologie, das würde die Behinderten lediglich als Objekte in einer Sonderrolle thematisieren. Aus Sicht der Schöpfungstheologie muss es heißen: „ein behinderter Mensch [ist] ein gutes Geschöpf Gottes“ (73). Im Sinne des Schöpfungsglaubens gehört der Schwerstbehinderte von Anfang an dazu, denn „[d]as Defizitäre gehört mit in die Definition des Humanum“ (46). Das Ideal des Gesundheitskultes und der „Kalokagathia“ wird abgelehnt. Aber darüber hinaus betont B., dass nicht nur der Behinderte, sondern auch die Behinderung in die gute Schöpfung Gottes hineingehöre (75). B. wendet sich gegen den Satz aus der Gemeinsamen Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“: „Gott will auch den Behinderten, er will nicht die Behinderung“ (108). Er begründet das mit dem Willen Gottes, der aber auch in B.s Formulierungen eine unterschiedliche Zielrichtung hat. Einerseits heißt es: „Gott will, daß dieses Leben im Rollstuhl mein Leben ist“ (161. u.ö.), andererseits beruft B. sich auf die Thesen von Walter Groß und Karl-Josef Kuschel („Ich schaffe Finsternis und Unheil“) und notiert: „Daß Gott der Urheber auch der von uns als negativ empfundenen Größen ist, wird in Jes 457 sprachlich sehr bewußt unterstrichen (308). Mit der Begründung der Behinderung durch den verursachenden Willen Gottes ist eine gewagte These ausgesprochen. Gegenüber dem guten Schöpferwillen wird konsequenterweise die Möglichkeit der Theodizee abgelehnt (146 f.). Theologie als kontextuelle, europäische Befreiungstheologie ist nach B. zu verstehen im Anschluss an die südamerikanische Befreiungstheologie und die durchaus differenziert wahrgenommene Feministische Theologie. Sie deckt die Knechtung unter die Gesundheits- und Leistungsideale der Gesellschaft auf (51, vgl. die „Thesen zu einer abendländischen Befreiungstheologie“ von 1987, 182-189). Als Theologie von unten widersteht sie einem Wunschgott und der Glücksmentalität (111 f.).

Die sog. Integration der Behinderten darf nach B. nicht als „Eingliederung“ der Behinderten als Objekte in eine „normale“ Gesellschaft und in die Gemeinden verstanden werden, vielmehr muss es zu einem grundsätzlichen Perspektivenwechsel der Nichtbehinderten kommen. Die Frage im Blick auf Schwerstbehinderte, ob das noch Menschen seien, müsse umgekehrt werden in die Frage Sind wir noch Menschen? (70) Behinderte müssen als Subjekte von Kirche und Gesellschaft erkennbar werden. B. zitiert Bodelschwingh: „[H]ier sitzen die Professoren, die uns deutlich beibringen, was Evangelium und was Gotteskraft zur Seligkeit ist“ (92), und fordert daher für eine diakonische Kirche das Prinzip der Gegenseitigkeit.

Leitgedanke der von B. entwickelten Anthropologie und Soteriologie ist die deutliche Trennung von Heil und Heilung. Entgegen den in der theologischen Diskussion herrschenden Ganzheitlichkeitswünschen stellt B. fest „Gottes Heil kann auch ohne des Menschen Heilung des Menschen volles Heil sein“ (357). Entfaltet wird das vor allem an der Exegese der  Heilungsgeschichten Mk 1 und 2 (407-449). Jesus heilt durch Sündenvergebung das Gottesverhältnis, die Heilungen haben jeweils eine andere, oft demonstrative Funktion. Jesu Auftrag und seine Vollmacht war nicht die Heilung, sondern die Verkündigung des Heils. Auch die Kirche hat keinen Heilungsauftrag, der dann ja bei den Behinderten nicht zum Ziel gekommen wäre. Dagegen heißt es: „Gesundheit und Krankheit  sind zwei verschiedene, aber in gleicher Weise uns von Gott anvertraute Lebensbedingungen“ (476).

B. entwickelt aufrüttelnde, provozierende theologische Gedanken in oft markanter Sprache. Man kann fragen, ob die Exegese der Heilungsgeschichten nicht doch stärker den weltbildlichen Unterschied zwischen dem Neuen Testament und dem 21. Jh. wird berücksichtigen müssen. Möglicherweise hat das Neue Testament Krankheit doch in größerer Nähe zu dämonischer Besessenheit gesehen, als B. das wahrhaben will. Das Problem könnte mit hermeneutischen Überlegungen geklärt werden, ohne dass B.s Anliegen aufgegeben werden müsste. Auch die Frage nach dem Willen Gottes bedarf weiterer Diskussion. Gleichwohl wird man die Forderungen einer „Theologie nach Hadamar“ nicht mehr aus der Diskussion um eine diakonische Kirche und um das christliche Verständnis der Anthropologie ausklammern dürfen.

Leipzig

Gunda Schneider-Flume

Buch-Veröffentlichungen

1. Volmarsteiner Rasiertexte
– Notizen eines Rollstuhl-Fahrers
Schriftenmissions-Verlag (Gladbeck 1978),
2. Aufl. Neukirchen, 1981
Sammlung von Kurz-Texten



2. Boden unter den Füßen hat keiner
– Plädoyer für eine solidarische Diakonie
– Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1980, 2. Aufl. 1986

Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen, Meditationen u.ä.
 

3. Millimeter-Geschichten
– Texte zum Weitermachen
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981

Sammlung von Kurz-Texten


 

4. Kraft in leeren Händen
– Die Bibel als Kurs-Buch
Herderbücherei Band 1023, Freiburg 1983

Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen, Meditationen u.ä.
 

5. Hosianna bei Gegenwind
– Versuche zu beten
Herderbücherei Band 1292, Freiburg 1986

Sammlung von Kurz-Texten
 

6. Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein – Auf dem Wege zu einer diakonischen Kirche
Neukirchener Verlag, Neukirchen 1986

Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen, Meditationen u.ä.
 

7. „Heilende Gemeinde“?
– Versuch, einen Trend zu korrigieren

Neukirchener Verlag, Neukirchen 1988

Auseinandersetzung mit charismatischer Gemeinde-Erneuerung,

Kontra zur These „Doppel-Auftrag“ (Jesu [und der Kirche]: zu predigen und zu heilen),

Überlegungen zum „Gesundheits“-Begriff;

diese Schrift erschien 1993 auch in japanischer Übersetzung.
 

8. Getrenntes wird versöhnt
– Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche
Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1991

Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen, Meditationen u.ä.

ausführliche Weiterführung von 7.
 

9. Ich bin einmalig – du auch
Berliner Verlags-Anstalt Union, 1990

Lange vor der „Wende“ geplante Lizenz-Auswahl für die DDR aus 1 – 6,

dazu 3 neue Aufsätze;

Auslieferung erst nach der „Wende“,

großer Teil der Auflage offenbar verschollen oder vernichtet.
 

10. „Gesunde“ und „Behinderte“
Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft

Mit einer Einführung von Theodor Strohm,
(Kaiser) Gütersloh 1994

Führt 8 weiter

ein weiterer Akzent: Kirche, Theologie und Diakonie vor 1933 und nach 1945
 

11. Auf dem Wege in die  totale Medizin?
Eine Handreichung zur „Bioethik“-Debatte
,
hg. von Ulrich Bach und Andreas de Kleine (Neukirchener Verlag) Neukirchen 1999
 

12. Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz.
Bausteine einer Theologie nach Hadamar
Neukirchen 2006
Führt 8 weiter und somit viele der mir wichtigen theologischen Impulse.

Für dieses Buch gibt es hier eine eigene Seite auf der Homepage.