Rezension Rolf Zerfaß

Aus:
Lebendige Seelsorge (Echter Verlag) Würzburg
58. Jahrgang 4/2007, S. 269-271

Ohne die Schwächsten ist die Kirche
nicht ganz
Bausteine einer Theologie nach Hadamar

378872160X

Ulrich Bach
506 Seiten, gebunden
34,90 Euro (D)
Neukirchner Verlag, Neukirchen-Vlluyn 2006

Dieser vielschichtige Band bündelt die Entdeckungen, die der Autor, seit dem 21. Lebensjahr an den Rollstuhl gebunden und seit seiner Ordination als Seelsorger in einer evangelischen Behindertenanstalt tätig, im täglichen Umgang mit geistig und/oder körperlich behinderten Menschen gemacht hat. Dabei geht es ihm aber nicht um eine Didaktik oder Seelsorgetheorie im Umgang mit Behinderten. Es geht ihm vielmehr um die entgegengesetzte Frage, was behinderte Menschen ihrer Kirche zu sagen haben, was Kirche wie Gesellschaft von ihnen über sich selbst lernen können und auch müssen.

Welche verborgenen Abwertungen und Ängste manifestieren sich in unserer Alltagssprache, wenn von ihnen die Rede ist? Wieviel Bevormundung schleicht sich in unsern Umgang mit ihnen ein? Welche „Apartheidsmetastasen“ stecken selbst in den theologischen Denkgebäuden, in denen wir ihnen ihren Platz zuweisen? Sind die Leidensgeschichten in den Mauern unserer ehrwürdigen diakonischen bzw. caritativen Einrichtungen für das „Volk Gottes auf dem Weg“ wirklich nicht der Rede wert? Oder müssen wir uns fragen lassen, ob wir unseren Weg als Gemeinde wie als Kirche viel zu einseitig als „Aufbruch“ denken, gepflastert mit den Begriffen .,Glaubensstärke, Mut, Kraft, Einsatzbereitschaft, Wachstum, Ganzheit“, kurz: als „Weg in Herrlichkeit“. Damit wird wie von selbst der „Kreuzweg“ zur Sache derer, die bei uns nicht mitkommen, für die wir uns deshalb glauben „engagieren“ zu müssen …

Die zwanzig Kapitel dieses Bandes, allesamt im Rollstuhl zu Papier gebracht, zielen darauf, die fatale Kirchenspaltung bewusst zu machen, die solch tatkräftiges Christentum produziert, und sie aus dem Glauben heraus zu überwinden.

„AUF DIE EIGENEN FÜSSE KOMMEN“

Ein erster Teil (Kap. 1- 5) vermittelt einen Eindruck vom mühsamen Lernweg des Autors selbst, erwachsen aus dem Schock einer Polioerkrankung, die ihn lebenslang in den Rollstuhl zwingt, alle seine Lebenspläne durchkreuzt und ihn – genau auf diesem Weg – als Theologe und Seelsorger überhaupt erst „auf die eigenen Füße kommen“ läßt. Sein Credo: „Gott will, dass dieses leben mein Leben ist“ (54-57).

Der Leser wird so einerseits mit der Härte eines solchen Schicksalsschlages konfrontiert, aber auch mit der Widerstandskraft, die sich inmitten all der Einschränkungen aufbauen kann und sich bei Bach nicht zuletzt in seinem ausgeprägten Sinn für die Situationskomik manifestiert, die sich aus unserer, der „Nichtbehinderten“ Hilflosigkeit im Umgang mit Behinderten entwickeln kann (Kap. 1 und 3). Er selbst findet so zu seiner Berufung: Seelsorger und Anwalt behinderter Menschen zu sein. Die einfühlsamen gütigen Umgangsformen eines älteren Anstaltsseelsorgers regen ihn zu einer Haltung respekt- und liebevoller Offenheit im Umgang mit seinen kleinen und großen Leidensgefährten an. Deren Wahrnehmungsmuster und deren Sprache beeindrucken ihn so, dass er sie zu protokollieren beginnt und dass sie aus ihm einen Katecheten mit Bodenhaftung machen, einen Deuter der Stärke der Schwachen und einen beherzten Streiter für ihre Sache und für die Überwindung der geheimen Spaltung im Volk Gottes. Wer ist dort denn schon „gesund“ und wer ist „nicht behindert? (Kap. 2 und 5).

SUBTILE FORMEN DER SELBSTÜBERSCHÄTZUNG

Ein zweiter Teil (Kap. 6-16) beschreibt die geistigen Voraussetzungen der Nazipolitik zur „Beseitigung unwerten Lebens“, die auch in manchen Kreisen der evangelischen Kirche Sympathisanten fand und sich schließlich in der diakonischen Behindertenanstalt Hadamar (Hessen) austoben durfte (Kap. 10). Der Verf. analysiert die Euthanasie-Mentalität seit den zwanziger Jahren und würdigt den mühsamen Weg nach 1945, der im Jahr 1985 endlich zu dem offenen Schuldbekenntnis der Synode der Evangelischen Landeskirchen Rheinland führte. Vor diesem Hintergrund setzt Bach sich sodann mit den Ansprüchen der Bioethik (Kap. 11) und analog dazu mit subtilen Formen der Selbstüberschätzung innerhalb der Theologie besonders in Sachen „Heil und Heilung“ (Kap. 12) auseinander und interpretiert sie als verführerische Tendenzen einer „Herrlichkeitstheologie“ zu Lasten der „Kreuzestheologie“ (Kap. 13).

Eine „Theologie nach Hadamar“ ist für ihn – in Analogie zu einer „Theologie nach Auschwitz“ – zu konzipieren: als eine „kontextuelle Theologie (Kap. 2) bzw. als eine „europäische Gestalt der Befreiungstheologie“ (Kap. 6-8). Sie befreit zu einem neuen Umgang mit Krankheit und Sterben in der Gemeinde (Kap. 9), denn sie befreit von falscher Selbstüberschätzung (Kap. 12) und von der Neigung, „Andere“ zu diskriminieren (Kap. 13), zu einer „ebenerdigen Theologie“, die zum „aufrechten Gang an zwei Gehstöcken“ ermutigt. Eine Gemeinde wird dann zum Ort, an dem die Mängel der Stärksten und die Gaben der Schwächsten „aufgehoben“ sind (Kap. 14). Auch in der Theologie werden wir mit einigen Traditionen brechen müssen. besonders im Blick auf die traditionelle Auslegung der biblischen Heilungsgeschichten. Auch unsere Beziehungen zu den Juden werden sich ändern, wenn wir lernen, uns mit deren Augen, in deren Perspektive zu sehen (Kap. 15). Insgesamt geht es also um die Umkehr zu einer „Diakonie ohne Hochmut, ohne Herablassung und ohne religiösen Mehrwert“ (Kap. 16).

HEILUNG

Der dritte Teil der Beiträge (Kap 11-20) greift das heikle Thema „Heilung“ nochmals in Gestalt einer Bibelarbeit zu Mk 1,21-2.12 auf – unter der kritischen Fragestellung, was die „Heilungsgeschichten“ uns verheißen und wozu sie uns verführen können. Dieses älteste Evangelium unterscheidet offensichtlich zwischen der Verkündigung Jesu vom Anbruch der Gottesherrschaft (zu der die Austreibung der Dämonen untrennbar gehört) und den Heilungswundem. in denen sich die Gottesherrschaft manifestieren kann, die Jesus aber schroff verweigert, wo sie die Gottesherrschaft ins Zwielicht rücken würden. Jesus hat Kranke geheilt, aber er ist nicht zum Heilen „gekommen“. Gottes Heil ist auch ohne des Menschen Heilung „ganzes Heil“ (442). Nach Joachim Gnilka „bemißt sich der Offenbarungswert der Wunder Jesu als ein im Kreuz gebrochener. Macht des Wundertäters und Ohnmacht des Gekreuzigten stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, das nicht aufgelöst werden kann“ (415). Die Heilungsgeschichten sind insoweit in Gefahr, eine innerkirchliche „Apartheidstheologie“ zu befördern (wie 281-94, 321-30, 349-60 bereits demonstrieren). Aber „Gottes Heil kommt nicht mit Glanz und Gloria; es ereignet sich da, wo Jesus am Kreuz stirbt […] Gesundheit ist da, wo Gott herrscht nicht besser, Behinderung ist nicht schlechter […] Ihr seid allzumal einer in Christus (Gal 3,28)“ (440). Für Bach bietet das Ringen Jesu in Gethsemane die Vorlage zum Gebet von Kranken, wie von Behinderten und ihren Angehörigen; denn es lässt ihnen Raum für das Nein, die Klage und für den Wunsch, die Kirche hätte einen Heilungsauftrag. Doch immer muss Jesu Wort gelten: „Nicht, was ich will, sondern, was Du willst“ (463).

Das Buch klingt aus mit Bachs Predigt bei seiner Verabschiedung 1996, in der er eine Gemeinde, in der behinderte Kinder Sitz und Stimme haben, als „Sonderschule Jesu“ beschreibt: „Hier sitzen die Professoren, die uns deutlich beibringen, was Evangelium […] ist“ (F. v. Bodelschwingh). Bach beschließt sein Buch mit einem Satz, der wohl als das Credo dieses lebenslangen Suchers nach dem Sinn der eigenen Behinderung zu begreifen ist: „Jesus Christus wurde uns allen in gleicher Gültigkeit Bruder und Freund; darum ist keiner von uns wichtiger als der Schwächste von uns“ (495).

Rolf Zerfaß