Hauptsache gesund?  Der Glaube an die Machbarkeit einer von Krankheit freien Welt

Studientag am 20. Oktober 1997 in Stuttgart
(Diakonisches Werk
der evangelischen Kirche in Württemberg e.V.)

Wer zu Ende Oktober um ein theologisches Referat gebeten wird (ganz gleich, zu welchem Thema), ist gewiß gut beraten, wenn er sich von der Nähe zum Reformationsfest dazu einladen läßt, die reformatorische Theologie bewußt zur Grundlage seiner Ausführungen zu wählen. Dabei verstehe ich „Reformation“ im Sinne der alten Erkenntnis, nach der es bei ihr um einen nie abgeschlossenen Prozeß geht. Lateinisch sagt man: ecclesia semper reformanda, das meint: Kirche ist grundsätzlich eine Größe, die ständig eine stetige Rückbesinnung nötig hat. Allerdings: Wenn sie Reformation grundsätzlich und immer nötig hat, dann ist Kirche also grundsätzlich unfertig, bedürftig, hier und da vielleicht krank. Kurzum: Das Stichwort „Reformation“ soll unsere Blicke nicht auf die Zeit von vor 480 Jahren lenken, soll uns kein Anlaß sein, die alten Geschichten von Tetzels Ablaßhandel, also damalige innerkirchliche Krankheits-Symptome, zum abertausendsten mal zu wiederholen, vielmehr wollen wir von heute reden: Worin ist unsere Kirche erneuerungsbedürftig; wo sind wir in Gefahr, Irrwege zu gehen? Im Blick auf das Thema dieses Nachmittags wird Sie meine These nicht verwundern: Kirche und Theologie sind heute in der Gefahr, die Gesundheitsvergottung mitzumachen, die sich in unserer Gesellschaft zum Beispiel ausdrückt in dem häufig gebrauchten Wunsch: „Hauptsache gesund“; diese Gefahr ist nur zu bannen durch eine ehrliche Umkehr zur biblischen Botschaft, wobei Luthers Theologie uns wichtige Hilfen bieten kann.

Wer sich einmal mit der Geschichte der Reformation befaßt hat, weiß, daß für die Reformatoren Hand in Hand gingen: biblische Besinnungen, praktische Alltagsfragen, systematisch-dogmatische Streitfragen, kritische Blicke in die Kirchengeschichte und politische Impulse. Mein Vortrag möchte diese bunte Fülle ein bißchen übernehmen:

  • Einsetzen möchte ich im Alltag unserer Gemeinden und dem dort praktizierten Miteinander (oder Nebeneinanderher) von behinderten und nichtbehinderten Menschen. (Nebenbei: Ich komme beruflich her aus der Behindertenhilfe; aus diesem Bereich stammen meine Veranschaulichungen; die Übertragung auf andere diakonische Arbeitsfelder dürfte gewiß nicht schwerfallen.)
  • Dann werde ich die Thematik an unsere Theologie weitergeben.
  • Anschließen sollen sich Rückfragen an den Bibeltext.
  • Nötig wird dadurch ein Blick (oder auch mehrere) in die Kirchengeschichte; ich werde von Augustin und von Luther zu reden haben.
  • Zum Schluß soll noch einmal der Alltag zur Sprache kommen, wobei ich auch politische Fragen ansprechen möchte. – Aber nun der Reihe nach!

I)
Blicken wir auf den Alltag unserer Gemeinden! Niemand kann widersprechen, wenn beklagt wird, daß für behinderte Menschen nicht genug getan wird. Trotzdem möchte ich diese Kritik heute einmal nicht vertiefen, vielmehr frage ich: Geht diese berechtigte Klage überhaupt in die richtige Richtung? Denn sie setzt ja voraus: Wenn genug für Behinderte getan würde, wäre alles okay. Und das stimmt so nicht. Ich erzähle kurz von zwei Menschen, bei denen man lernen kann, daß das so nicht stimmt: von dem Theologie-Professor Eberhard Jüngel und von der alten Frau N. aus dem Volmarsteiner Andachtskreis.

Eberhard Jüngel schrieb einmal, das alte „suum cuique“ (zu deutsch: jedem das Seine) müsse auch in seiner aktiven Ausdeutung praktiziert werden. Das heißt: Es kann nicht genug sein, wenn jeder das zugeteilt bekommt, was er unbedingt braucht – damit könnte er Objekt unserer Versorgung bleiben; nein, er muß auch die Möglichkeit haben, selber die eigenen Anlagen und eigenen Begabungen aktiv in das große Miteinander seiner Gruppe, seiner Gemeinde, seines Staates einzubringen [1].

Frau N. sagte das gleiche sehr konkret. Frau K., eine nichtbehinderte Teilnehmerin des Andachtskreises, wurde nach einem Krankenhausaufenthalt freudig im Kreis begrüßt, woraufhin sie sagte: Das müßt ihr mir glauben, ich habe euch auch richtig vermißt. Damit hatte sie der über 80jährigen Frau N. ein wichtiges Stichwort geliefert. Sie sagte drei kurze Sätze, aber die hatten es in sich. (Noch einmal: Frau K. hatte gesagt: ich habe euch auch richtig vermißt. Und nun Frau N.:) Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt. – Ich konnte nur staunen und ihr und dem Kreis mein Staunen erklären: Wir Mitarbeiter haben das hohe Ziel, so fleißig für die Bewohner einer Einrichtung da zu sein, daß niemand die Pflegerin oder den Seelsorger, den Pädagogen oder die Ärztin „vermissen“ muß. Bei Frau N. lerne ich: es gibt auch den entgegengesetzten Blick. Frau N. weiß: auch sie ist jemand, den man möglicherweise vermissen kann. Nur, davon haben viele keine Ahnung: sie sorgen dauernd für uns, sie sind davon überzeugt: ohne die Nichtbehinderten würde den Behinderten vieles fehlen; aber kaum jemand gibt zu, daß auch den Nichtbehinderten ohne die Behinderten etwas fehlt. Frau K. hat das begriffen, sie sagt als Nichtbehinderte: ich habe euch vermißt. Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.

Normalerweise sehen wir das anders, wir sehen ein Gefälle: Die einen sind wichtig, sie werden natürlich vermißt, wenn sie nicht da sind. Und die anderen? Man ist ja nett zu ihnen. Aber vermißt haben wir „die“ kaum jemals. – Was ist das für eine Arroganz! Woher kommt dieser Stolz auf sich und seinesgleichen und (als Kehrseite dieses Stolzes) die Verachtung der Schwächeren, der Hinfälligen, der körperlich Geschädigten? Wir nehmen sie ernst, sorgen für sie, völlig klar; aber sie sind uns kaum wichtig für unser eigenes Vorankommen. Woher kommt dieser Stolz?

Da mag es manche Wurzeln geben, ich nenne nur eine einzige. Ich behaupte: Unsere ständige Einstellung, in der wir sagen: „Hauptsache gesund!“ schafft dieses Gefälle, schafft die Kluft zwischen den Wichtigen und den anderen, auf die es nicht so ankommt. Denn wenn wirklich die Gesundheit die Hauptsache ist, dann ist ein Mensch, dem die Gesundheit fehlt, ein Mensch, dem die Hauptsache fehlt: Ist er eigentlich noch ein Mensch? Er gleicht einem leeren Briefumschlag: Auch einem Umschlag ohne Brief fehlt die Hauptsache. – Lassen Sie mich diese Kritik zuspitzen: Wir legen Wert darauf, besser zu sein als die Nazis, die mit ihrem Euthanasie-Programm viele Schwerstbehinderte umgebracht haben; damals sprach man von Menschenhülsen – man weigerte sich, diese schwer behinderten Menschen „Menschen“ zu nennen; sie sind nur Hülsen. Wie nennen Sie eine Hülsenfrucht, der sie die Früchte entnommen haben? Was haben sie in der Hand, wenn Sie eine Erbsenschote in der Hand haben, aus der Sie zuvor die Erbsen entfernt haben? Damit sind wir wieder beim leeren Briefumschlag. Kurzum: Unser Spruch „Hauptsache gesund!“ denkt bei Nicht-Gesunden im Schema „Menschenhülsen“. Unser Spruch „Hauptsache gesund!“ bahnt (wenigstens in unseren Köpfen und Herzen) der Euthanasie den Weg. Was können Sie mit leeren Briefumschlägen anfangen? Wer könnte leere Erbsenschoten vermissen?

Als Zwischenergebnis halte ich fest: Eine Gesellschaft, zu deren Grundüberzeugungen der Ausdruck „Hauptsache gesund!“ gehört, wird vielleicht keine Euthanasie praktizieren, vielleicht ist man sogar ausgesprochen freundlich zu behinderten Menschen; im Denken aber, in unseren inneren Schaltzentralen, kultivieren wir das, was ich seit Jahrzehnten eine Euthanasie-Mentalität nenne. Und eine Gesellschaft, die sich für eine solche Euthanasie-Mentalität erwärmt, kann kaum Widerstand entwickeln, wenn die Euthanasie auch wieder einmal praktiziert werden soll.

II)
Wenn ich nun, wie angekündigt, im zweiten Punkt die angesprochene Thematik an unsere Theologie weiterreiche, wird jeder hoffen und stark vermuten, daß es in der Theologie das genannte Gefälle zwischen Wichtigen und den anderen nicht gibt, daß Theologie stattdessen stets und ständig von dem großen Geschwisterkreis Jesu redet, in dem alle gleiches Recht und gleiche Würde haben. – Es gehört für mich zu den bedrückendsten Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte auch diese: Unsere Theologie kennt beides. Auf der einen Seite die totale Weigerung, jenes Gefälle aufkommen zu lassen oder es zu fördern. Ich nenne nur einen einzigen Satz aus der Ökumene. Im Memorandum von Bad Saarow (1978) heißt es: „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht; wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert“ [2]. Das heißt, ganz im Sinne der Frau N., der Gemeinde fehlt etwas, wenn die Behinderten nicht da sind. Nicht nur vermissen behinderte Christen unter Umständen die nichtbehinderten Christen; sondern die nichtbehinderten Christen sind keine vollständige Gemeinde, wenn die behinderten Christen nicht dabei sind. Eine solche Gemeinde wäre, um in einem Bild zu sprechen, das der Apostel Paulus benutzt, im Bilde vom „Leibe Christi“, eine amputierte Gemeinde, eine behinderte Gemeinde. Gut, daß es solche Sätze gibt, auch heutzutage gibt. Und da ich heute recht ausführlich auf die andere Seite zu sprechen komme, möchte ich Sie bitten, nicht zu vergessen, daß ich dieses Positive sehe, gesagt habe und keinesfalls unter den Teppich kehren will.

Aber nun die andere Seite. Durch viele Themen unserer Theologie schleicht sich die Ansicht, behinderte Menschen seien Sonder-Menschen, Menschen ja, aber nicht so wie Nichtbehinderte Menschen sind. Ich denke etwa an die Aussagen zur Schöpfung: Daß ein nichtbehinderter Mensch sagen darf: ich glaube, daß mich Gott so geschaffen hat, wie ich bin, das lernt er im kirchlichen Unterricht. Aber wenn ich auch als Rollstuhlfahrer sage: Ich glaube, daß Gott mich so geschaffen hat, dann erlebe ich von vielen Theologen Widerspruch. – Wir können das jetzt nicht alles durchspielen. Ich möchte mich auf eine Sache eingrenzen, auf die Auslegung der Heilungsgeschichten des Neuen Testaments.

In Kommentaren, Predigthilfen und sonstigen Schriften ist immer und immer wieder zu lesen: Jesus kämpfte gegen die Krankheiten wie gegen die Dämonen; Krankheit und Besessenheit will er vernichten; dazu und zum Predigen ist er gekommen, er hatte also zu beidem einen Auftrag – man spricht gern von Jesu Doppelauftrag. Wir werden gleich nachprüfen, ob unsere Bibel das wirklich so sagt. Vorab möchte ich die genannte Sichtweise ein bißchen entfalten. Was ist mit ihr behauptet?

Unter anderem dieses: Gott will die Behinderung also nicht; Behinderung ist vom Teufel (oder von seinen Trabanten). Das hieße: Der Behinderte ist bestenfalls halberlei in der Herrschaft Jesu, teilweise (vielleicht: zum größten Teil) gehört er unter die Fuchtel der Dämonen. Das wieder hieße: Es gibt zwei „Sorten“ von Menschen: die einen sind so, wie Gott sie will; die anderen sind so, wie Gott sie nicht will. Das hieße dann aber: Es gibt sehr deutlich das „Gefälle“, von dem eben die Rede war, ja wir müßten dieses Gefälle kraß benennen als „Apartheid“, als Spaltung in zwei Gruppen, diesmal nicht in Weiße und Schwarze, aber in Nichtbehinderte und Behinderte. Und das schließlich hieße (und damit komme ich zum schlimmsten Punkt): Solche Apartheid ist nicht nur etwas Ausgedachtes, von Menschen boshaft Konstruiertes, sondern sie ist eine Realität; sie gibt es nicht nur als menschliche Ungezogenheit, sondern sie ist eine in der Bibel vorgegebene Notwendigkeit: Apartheid zwischen Nichtbehinderten und Behinderten ist theologisch legitim, denn sie ist von Gott verordnet. Zugespitzt: Diese Apartheid wäre eine Gottesordnung.

Man hat mir in den letzten Jahren mehrfach vorgeworfen, meine Kritik sei zu hart, mein Wort Apartheid sei kraß überzogen. Lassen Sie mich sagen, was ich damit meine, und was nicht. – Denken Sie bitte an den Satz, den es in den dreißiger Jahren gab: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Eine Parallele zu diesem rassistischen Satz müßte lauten: Ihr Nichtbehinderten, meidet die Behinderten. Ich habe nie behauptet und werde voraussichtlich nie behaupten, daß es in der Theologie diesen oder einen ähnlichen Satz gibt. Aber es gibt andere Sätze, Parallelen zu dem (von mir jetzt erfundenen) Satz: „Deutsche, seid nett zu den Juden!“ Dieser Satz klingt freundlich, ist wohl auch freundlich gemeint; und dennoch bedeutet auch er eine Kränkung, denn er verweigert den Deutschen jüdischer Herkunft die Anerkennung, Deutsche zu sein. Es gab um 1930 zahllose deutsche Juden, für die das Bewußtsein, Deutscher zu sein, Vorrang hatte vor dem Bewußtsein, Jude zu sein. Darum müßte es richtig heißen: Deutsche arischer Herkunft, seid nett zu den Deutschen semitischer Herkunft (oder ähnlich). Aber der Satz: Deutsche, seid nett zu den Juden, spaltet das deutsche Volk in richtige Deutsche und in Undeutsche; da werden zwei Gruppen behauptet, da ist angeblich ein Gefälle, ein Riß, ein Graben. Und der bleibt bestehen, auch wenn ein „Deutscher“ einen „Juden“ zum Kaffee einlädt; da sitzen keine gleichberechtigten deutschen Menschen am Tisch, was sich etwa darin zeigt, daß die Thematik „Ehe zwischen »Deutschen« und »Juden«“ höflich umgangen wird, weil sie ja als „Rassenschande“ gilt. Man ist zwar nett, ganz sicher; und dennoch: Apartheid. – Genau das ist es, was es in der Theologie im Blick auf behinderte Menschen auch gibt. Natürlich werden Christen aufgerufen, nett und hilfsbereit zu behinderten Menschen zu sein. Aber solange gesagt wird, die einen seien so, wie Gott sie will, die anderen aber seien nicht so (sie sind in der Macht gegengöttlicher Kräfte), so lange können wir uns überschlagen in diakonischen Aktivitäten, der Graben bleibt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang einen weiteren Punkt markieren durch zwei ältere Zitate. In beiden geht es um die Frage, ob wir Christen, wenn wir uns den Schwächeren zuwenden, dadurch auf die Seite Gottes treten, der sich ja auch zu uns Menschen herunterneigte (das würde ein krasses Gefälle bedeuten: Gott und wir Helfer auf der einen, die Hilfsbedürftigen auf der anderen Seite), oder ob wir alle, Starke und Schwache, Behinderte und Nichtbehinderte, in gleichem Maße darauf angewiesen sind, daß Gott sich uns allen zuwendet – und wenn wir Menschen uns mitunter gegenseitig helfen, dann steht das – ohne jedes Gefälle – auf einem völlig anderen Blatt (möglich wird hier eine ehrliche Solidarität). Das erste Zitat stammt von Ernst Wolf [3]; in einem Text von 1962 sagt er, die Wörter „Nächstenschaft“, „Zuwendung an alle“ und „mitverantwortliche Solidarität“ seien zu verstehen als „der freie Nachvollzug der Selbsterniedrigung Christi“. Spüren Sie die gewaltige Stufe? Das, was wir Menschwerdung Gottes nennen, sein Herabsteigen, (mit dem theologischen Begriff:) seine Kondeszendenz, soll von uns „nachvollzogen“ werden. Bin ich wirklich so hoch, daß ich das leisten könnte? Und ist der andere wirklich so weit unten, daß ich das leisten müßte: eine gottähnliche „Selbsterniedrigung“, ohne die ich nicht auf die Ebene des Schwächeren gelange? – Zwei Jahre später sagte (mein Vikarsvater) Johannes Klevinghaus in einem Vortrag [4] (und ich habe leider noch nicht herausgefunden, ob er es bewußt im Gegensatz zu Ernst Wolf gesagt hat, mit dem er nachweislich theologisch im Gespräch war): „Wir sollten, wenn von unserer Diakonie die Rede ist, nicht von Kondeszendenz sprechen. Zum Heruntersteigen werden wir in der Schrift zwar oft ermahnt; es ist dann aber an eine vermeintliche Höhe gedacht, die wir verlassen sollen: ‚Haltet euch herunter zu den Niedrigen.‘ Da ist keine Kondeszendenz, da ist kein frommer Schein des Herabneigens und Herabsteigens. Da wird uns der Platz angewiesen, an den wir gehören. Da sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“.

Halten wir kurz inne, um den roten Faden nicht zu verlieren. Durch das „Hauptsache gesund!“ werden behinderte Menschen in unserer Gesellschaft zu Menschen zweiter Wahl, zu Menschenhülsen, auf die wir verzichten können (wir vermissen nichts und niemanden, wenn sie nicht da sind). In der Theologie gibt es (neben anderem) auch die Spaltung, die Apartheid, was sich in zwei Punkten zeigte: Nichtbehinderte und Behinderte stehen einander gegenüber als die, die körperlich so dran sind, wie Gott es will, und als die anderen, die so dran sind, wie Gott es nicht wollen kann. Und das andere: Wenn die Stärkeren sich den Schwächeren zuwenden, bedeutet das den „Nachvollzug der Selbsterniedrigung Christi“ (s.o.); auf der einen Seite also: Gott und die Starken, auf der anderen Seite die Schwachen (im Gegensatz dazu J.Klevinghaus: auf der einen Seite Gott, auf der anderen wir Menschen, Schwache und Starke). – „Wie sagt es die Schrift?“, muß nun unsere weitere Frage lauten.

III)
Gefälle oder nicht? Apartheid oder Solidarität? Wir schauen in die Bibel und fragen, wie gesagt, die Heilungsgeschichten des Neuen Testaments: was sagen sie zu unserer Thematik? Ich grenze die Frage noch einmal ein: Was predigt das älteste Evangelium in diesen Texten? Wie redet Markus von gesunden und kranken Menschen, von Behinderten und Nichtbehinderten? Fehlt einem Menschen die Hauptsache, wenn ihm die Gesundheit fehlt, oder kann ein Mensch die Hauptsache haben und trotzdem krank oder behindert sein? Und anders herum: Kann einem Menschen die Hauptsache fehlen, auch wenn er gesund ist?

Die Predigt des Markus ist eindeutig als Kreuzespredigt zu verstehen. Gottes Heil kommt nicht mit Glanz und Gloria; es ereignet sich da, wo Jesus am Kreuz qualvoll stirbt. Zugang zum Heil haben wir nicht als Starke, als religiös oder sittlich oder sonstwie Vorbereitete: Der heidnische Hauptmann kommt unter dem Kreuz Jesu zum Glauben, und die Jüngerinnen werden am offenen Grab von Zittern und Entsetzen gepackt. Zöllner und Dirnen sitzen mit Jesus am Tisch, und „die Guten“ wenden sich ab. Die Witwe legt einen einzigen Pfennig in den Opferkasten und gibt damit „mehr“ als die Reichen. Überall hat die Markus-Predigt diese gleiche Struktur: Gottes Sache kann niemals an dem abgelesen, durch das ausgewiesen werden, was wir positiv und günstig nennen; sie kann aber auch nicht durch das, was uns negativ erscheint, gefährdet oder widerlegt werden.

Die spannende Frage ist nun: Hält Markus seine Kreuzespredigt auch dann durch, wenn er von den Heilungen Jesu erzählt, oder ist in diesen Texten von Glanz und Gloria, von notwendig gesunder Muskulatur und von normalerweise intakten Organen die Rede; ist jetzt doch das Starke und Positive die Voraussetzung dafür, daß ein Mensch mit Gott in Ordnung ist?

Kein Zweifel: Markus hält seine Kreuzespredigt durch. Und zwar gelingt ihm das dadurch, daß er sorgfältig unterscheidet zwischen Krankheit und Besessenheit und dementsprechend zwischen Heilungen und Dämonenaustreibungen. Was immer man unter „Besessenheit“ zu verstehen hat, klar ist zweierlei: a) diese Menschen sind in der Gewalt eines Geistes, der die Sache Jesu stören will; b) wir dürfen hier auf keinen Fall an psychisch Kranke denken; denn psychisch Kranke sind krank; und Markus will Kranke ja gerade von Besessenen abheben; durch Krankheiten sieht Jesus seinen Auftrag keineswegs gestört, durch Besessenheit aber sehr.

Ein Beispiel für diese klare Unterscheidung: Markus 1,21ff. Da wird Jesus, der in der Synagoge zu Kapernaum predigte, von einem bösen Geist angebrüllt und gestört: Du bist gekommen, uns zu verderben! Recht hat er: Gott will tatsächlich nicht, daß Menschen ohnmächtig in der Gewalt unsauberer Geister sind. Diesen Menschen fehlt tatsächlich die Hauptsache: die Möglichkeit der freien Hinwendung zu Gott; diese Menschen sind in der Tat nicht so dran, wie Gott es will. Jesus hat den Auftrag (dazu ist er „gekommen“ – das sagt der böse Geist völlig korrekt), die Dämonen zu besiegen. So nimmt er den Kampf auf, er brüllt zurück; da ist es richtig laut geworden; Jesus bleibt Sieger, und die Menge staunt: Eine Lehre „in Vollmacht“, auch die unsauberen Geister müssen ihm gehorchen. – Unmittelbar nach der Dämonenaustreibung eine Heilung, unmittelbar nach dem Spektakel der Friede: Jesus und die Jünger sind im Hause des Petrus. Da liegt die Schwiegermutter des Petrus und hat Fieber. Keine Silbe davon, daß das Fieber Jesus anbrüllt wie der Geist eben. Hier wird es nicht laut. Markus sagt nicht einmal, ob Jesus überhaupt etwas gesagt hat: Er greift die Frau bei der Hand, richtet sie auf und sie kann für das Essen sorgen. Das Fieber war gewiß lästig; aber es störte nur die Erkrankte und nicht Jesu Auftrag; Fieber ist wirklich kein Reich-Gottes-Problem; und das gilt ebenso von Lähmung, Blindheit, Aussatz und anderen Krankheiten [5].

Sie merken gewiß, daß es mich geradezu fasziniert, wie  leicht es Markus wird, zwischen Krankheit und Besessenheit zu unterscheiden: Er erzählt einfach. Und indem er erzählt, wird der Gegensatz klar. Kranke und Behinderte werden auf diese Weise herausgenommen aus dem Getümmel der Dämonen-Arena, werden frei für eine ungehinderte Begegnung mit Jesus. Aber was machen die Ausleger daraus? Manche Auslegungen verwischen die bei Markus sauber gezogene Grenze zwischen Besessenheit und Krankheit fast völlig. Walter Grundmann zum Beispiel [6] unterscheidet zwar zunächst zwischen Exorzismen und Heilungen; dann aber sagt er dennoch von der Krankheit: Sie „erscheint als Wirkung der Macht des Bösen am Menschen, mit der Jesus den Kampf aufnimmt.“ Bei Wilfried Joest [7] werden Krankheit und Besessenheit durch das beide Größen zusammenfassende Wort „Leiden“ ununterscheidbar, wenn er sagt: Jesus „hat im Leiden die Macht des die Menschen knechtenden Feindes Gottes erkannt. Er ergrimmt über diese Macht. Er kämpft gegen das Leiden“. Auf dieser Linie kann dann Reinhard Turre [8] sagen: „Im Leiden begegnet uns ja das Böse, das überwunden werden muß, wenn der Mensch nicht verlorengehen soll.“ – Spüren Sie, wie hier, streng genommen, schon einem lästigen Schnupfen, ohne Zweifel aber jeder Lungenentzündung und jeder Krebserkrankung eine heilsgefährdende Bedeutung zuerkannt wird? Das hieße: Wenn das Leiden (sprich: das Böse!) nicht überwunden wird, geht der Mensch „verloren“. Dagegen kann angeblich der Schöpfer und der Erlöser nichts machen. Biblische Theologie sagt es anders: Dem qualvoll am Kreuz sterbenden Schächer wird das Heil zugesagt: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein, sagt Jesus. Diese Heilszusage hat nicht die Überwindung des Leidens zur Voraussetzung, sondern sie bietet Schmerz und Schrei ein göttliches, ein schöpferisches, ein erlösendes Kontra. – Bei den genannten Autoren (und die Reihe ließe sich beliebig verlängern) bleiben Kranke und Behinderte (im Gegensatz zu Markus) in der Dämonen-Arena: Krankheit und Besessenheit sind angeblich in gleicher Weise Symptome „des“ Bösen, zu dessen Überwindung Jesus in unsere Welt kam.

Das Unglück solcher Nicht-Unterscheidung (von Krankheit und Besessenheit) müssen wir genauer in den Blick nehmen. Denn die Nichtunterscheidung führt notwendig zum Apartheids-Denken. Von den Besessenen wird nämlich dreierlei gesagt: a) Sie sind im Besitz gegengöttlicher Mächte – das kann Gott wirklich nicht wollen; b) es gehört zu Jesu Auftrag, sie aus der Herrschaft der Dämonen zu befreien; c) diese Befreiung, dieser Herrschafts-Wechsel, kann als Weltenwende, als Beginn des neuen Lebens, gefeiert werden. In neutestamentlichen Bildern: der Satan fällt vom Himmel; Jesus bricht in das Haus eines Starken ein, den er dann fesselt. Diese Bilder tauchen im Neuen Testament aber durchgängig nur da auf, wo von Besessenheit bzw. Dämonenaustreibung die Rede ist, niemals aber im Zusammenhang mit Fieber, Lähmung oder Blindheit. – Von Besessenen wird geredet als von Menschen, die durch Jesus noch nicht erlöst wurden; und jeder, der in der Erlösung durch Jesus das Wichtigste für einen Menschen sehen kann, wird sagen: diesen Menschen fehlt also die Hauptsache. Denn sie sind noch nicht, etwa durch die Taufe, unter seine gnädige Herrschaft getreten. Sie gehören noch zur „alten“ Welt, zu deren Überwindung Jesus gekommen ist. – Auch angesehene Neutestamentler beziehen die genannten der-Satan-fällt-vom-Himmel-Stellen aber auf Dämonenaustreibungen und auch auf Krankenheilungen. Und schon ist das Unglück passiert. Denn jetzt ist angeblich auch die Heilung eine Weltenwende, der Anfang des neuen Lebens für diesen Menschen. Schon haben wir wieder das Apartheids-Gefälle, die Kluft zwischen den einen und den anderen: Jetzt sind auch unheilbar Kranke nicht so, wie Gott sie will, sie gehören (trotz ihrer Taufe!) noch zur alten, unerlösten Welt, sie sind weniger erlöst als die Geheilten, als die Gesunden, bei denen die „Weltenwende“ angeblich schon stattgefunden hat.

Aber noch zu einem weiteren Text aus den ersten Markus-Kapiteln, zur Heilung des Gelähmten (Mk 2, 1-12)! Diese bekannte Geschichte dient heute als eine Art Standard-Beleg für die Behauptung: Jesus kämpfte gegen beides: gegen die Sünde (die Gottverlassenheit) und gegen die Krankheit. Tatsächlich sagt Jesus zu dem Gelähmten, der ihm vor die Füße gelegt wurde: Dir sind deine Sünden vergeben. Und nach einer Weile: Steh auf, nimm dein Bett und gehe heim. So scheint geradezu ins Auge zu springen: Innere und äußere Heilung gehören zusammen. Keins von beiden ist, für sich allein genommen, die Hauptsache. Aber beide Hilfen Jesu zusammen ergeben die „Hauptsache“, womit wir im Blick auf alle Nicht-Geheilten doch wieder in der Nähe des leeren Umschlags sind: der ist zwar nicht ganz leer, aber das Blatt ist der Länge nach durchgerissen, und wir haben nur die eine Hälfte, die ohne die andere keinen Sinn ergibt. Tatsächlich behauptet Martin Dibelius: Jesus behebt hier sowohl „die leibliche Gottverlassenheit der Krankheit“ als auch „die sittliche Gottverlassenheit der Sünde“ [9]. Trotz Taufe, trotz Sündenvergebung lebt ein Nichtgeheilter angeblich in der „Gottverlassenheit“, also (zusätzlich noch in einer anderen Weise, als man das von jedem Geheilten auch sagen muß) in der alten, nicht=erlösten Welt, wie wir es eben (mit Markus) im Blick auf die Besessenen sagten.

Gott sei Dank!, Markus erzählt eine total andere Geschichte. Dem Gelähmten sagt Jesus: Dir sind deine Sünden vergeben. Punkt, aus. Damit ist das Hilfehandeln Jesu zugunsten dieses Menschen beendet. Der hat, was ihm unbedingt nötig ist. Als einer, der von vier Männern geschleppt werden muß, darf er sich verstehen als im Frieden Gottes lebend. Er hat jetzt die ganze Hauptsache. Keine Spur davon, daß Jesus gegen die Lähmung gekämft hätte. Gekämpft hat Jesus offenbar, aber an einer anderen Front: Markus erzählt von den knurrenden Theologen: Die Schriftgelehrten denken: der lästert Gott, nur Gott darf Sünden vergeben. Daraufhin greift Jesus noch einmal ein und heilt den Gelähmten; aber was sagt er – und: was sagt er nicht? Jesus sagt nicht: Mit dem Zuspruch der Sündenvergebung habe ich eben ja nur den einen Teil meines Doppelauftrags erledigt, jetzt kommt der zweite Teil. Jesus sagt auch nicht: Diesem Menschen gab ich bisher erst die halbe Hauptsache, er hat natürlich die ganze nötig. Markus erzählt so, als brauche der Gelähmte überhaupt nichts mehr; die Schriftgelehrten haben etwas nötig. Jesus sagt: Damit ihr wißt, daß ich die Vollmacht zur Sündenvergebung habe, lasse ich jetzt diesen Menschen aufstehen. Den Schriftgelehrten, den damaligen Theologen, fehlte die Hauptsache. Sie hatten trotz Gesundheit und Klugheit noch keinen Zugang zu Jesus. Jetzt wird er ihnen eröffnet. Markus läßt offen, ob sie sich zurechthelfen ließen. Sogleich heißt es, daß alle Gott priesen; da nicht gesagt wurde, die Schriftgelehrten hätten sich zuvor aus dem Staub gemacht, könnte man annehmen, sie stimmten in das Gotteslob mit ein. Das läßt sich aber nicht sicher so sagen. Eindeutig ist jedoch: Bei der Heilung dieses Gelähmten ging es, so komisch das klingen mag, um einen Mangel der Schriftgelehrten und nicht um den des Gelähmten.

Noch deutlicher, als Markus es hier tut, kann man kaum sagen, daß die Gesundheit keineswegs die Hauptsache ist. So sehr der Gelähmte sich über seine Heilung gefreut haben mag, und so sehr Nicht-Geheilte verständlicher- und berechtigterweise mit Gott hadern mögen (Jesus hat die Berechtigung der Klage-Psalmen keineswegs bestritten [10]), Markus hat solche Heilungen total herausgenommen aus dem Kampf-Getümmel der Dämonen-Arena. Die Größen „blind oder sehend“, „gelähmt oder nicht“ stehen in Jesu Reich-Gottes-Botschaft auf einem völlig anderen Blatt als die Größen: „Heil oder Unheil“, „Segen oder Fluch“, „Friede Gottes oder Gottverlassenheit“. Immer rätselvoller wird mir, daß es in der theologischen Literatur überhaupt solche Begriffe geben kann wie „Gottverlassenheit der Krankheit“ (s.o.) oder „Krankheitsdämonen“ [11].

Aus alledem ergibt sich: Wir müssen der Gesundheitsideologie den Kampf ansagen. Die These: „Hauptsache gesund!“ ist eine Gotteslästerung. Theologie muß lernen, diese knechtende Behauptung nicht festzuzurren, sondern das befreiende Kontra des Markus selber zu begreifen und für alle verständlich zu entfalten. Nur: Kann sie das? Ist sie dazu in der Lage? Ist Theologie dazu frei genug? Oder ist sie im Bann schlimmer Traditionen, die ihr das Apartheidsdenken geradezu aufzwingen? – Sie merken: Ich leite über zu dem Teil, in dem wir in die Kirchengeschichte blicken wollen.

IV)
Wieder gehe ich von einem Beispiel aus: Etwa im Jahre 900 erzählt der Mönch Notker (ca 840-912) „von einem Bischof, der glaubt, gesündigt zu haben, weil er in der Fastenzeit Fleisch gegessen hat. Um diese Sünde zu büßen, verpflichtet er sich, die Kranken der Stadt zu pflegen, zu baden, zu versorgen. Während er nun dabei ist, einem Kranken den Bart zu scheren, bemerkt er, daß immer, wenn er den Bart auf der einen Seite abgenommen hat, er auf der anderen Seite wieder nachwächst. Das verwirrt ihn zutiefst. Er weiß es nicht zu deuten. Es fällt ihm auch auf, daß der Kranke besonders häßlich und mit vielen Eitergeschwüren bedeckt ist. Und plötzlich bemerkt er, wie ein Auge auf dem Hals des Kranken ihn anstarrt. Er fährt entsetzt zurück. Und in diesem Moment hört er die Stimme: »Dieses Auge hat immer auf dich geblickt, als du gesündigt hast.« Aus dem Kranken spricht der Teufel“; ich verdanke diese Geschichte dem Medizinhistoriker J.N.Neumann [12].

Hier mischt sich einiges ineinander. Reizen würde es mich, der Parallele zur heutigen Bußgeld-Praxis nachzudenken: Auch wer sich im allgemeinen nicht sozial betätigt, kann, wenn er etwas ausgefressen hat, zur Zahlung eines Bußgeldes verurteilt werden, das dann häufig an soziale Einrichtungen geht. So scheint unser Bischof mit Kranken normalerweise nichts „am Hut“ zu haben; aber als Bußübung bleibt ihm nichts anderes übrig. – Aber lassen wir das. Hinweisen möchte ich auf das Gemisch von Zuwendung und „Gefälle“ (s.o.). Das ist doch einiges: Der Bischof rasiert einen häßlichen, eitrigen Kranken; er geht hin zu ihm, scheut vor dem Hautkontakt nicht zurück (es fällt uns nicht leicht, uns Entsprechendes von heutigen Präsides und Bischöfen vorzustellen: stundenweise die Pflege Schwerkranker zu übernehmen). Aber untrennbar mit solcher Zuwendung verbunden ist das Wissen um einen unüberbrückbaren Abstand. Der Bischof läßt sich keineswegs mit seinesgleichen ein; der andere ist weit unter ihm, aus ihm spricht der Teufel, der Mißgebildete wird mit dem Bösen gleichgesetzt.

Diese Geschichte scheint mir typisch zu sein für das mittelalterliche Empfinden. Wir können sie deuten als einen Beleg für das, was man die thomistische Stufenleiter nennt. In der besonders von Thomas von Aquin (ca 1225-1274) geprägten Theologie wird alles, was es gibt, wie auf einer senkrechten Leiter von Werten angeordnet: Ganz oben haben wir das absolute Gute zu sehen, also Gott, ganz unten das schlimmste Verbrechen – sagen wir den Völkermord. Alles, was uns begegnet, ist auf einer bestimmten Sprosse dieser Leiter anzusiedeln. Und es ist völlig klar, daß ein Gesunder, besonders ein gesunder Bischof, eine hörere Sprosse besetzt als ein Kranker, zumal ein besonders häßlicher Kranker. Hier ist, was ich vorhin „Gefälle“ nannte, theologisch sauber geordnet. Und völlig klar: Die Werte-Leiter macht die freundliche Zuwendung keinesfalls unmöglich, aber Zuwendung ist jetzt eine Art „Kondeszendenz“: sie hat die gleiche Richtung wie die Menschwerdung Gottes: Vom himmlischen (oder Himmel-nahen) Oben senkrecht nach unten zu den Verlorenen.

Das thomistische Werte-Denken will ich jetzt nicht weiter vertiefen, weil ich auf eine andere, mit ihm verwandte, Sache ausführlich eingehen möchte. Es gibt, lange Jahre vor Thomas, einen geradezu schaurigen theologischen Gedankengang, der das Denken und Empfinden der folgenden Jahrhunderte (vermutlich bis heute) nachhaltig geprägt hat. Von ihm aus ist zum Beispiel auch jene Geschichte über den pflegenden Bischof zu verstehen; verstehbar wird plötzlich aber auch das, was ich zur heutigen Theologie aufzeigte: die weit verbreitete Nichtunterscheidung zwischen Besessenen und Kranken. – Aber der Reihe nach.

Der eben erwähnte Medizinhistoriker J.N.Neumann geht der Frage nach, woher die behindertenfeindlichen Impulse unserer Gesellschaft stammen, und welche Rolle dabei möglicherweise die Theologie spielte [13]. In diesem Zusammenhang berichtet er über eine Auslegung der Noah-Geschichte durch Augustin. (Ich muß eben einfügen: Vielleicht geht das Schlimme, wovon sogleich die Rede sein wird, noch nicht insgesamt auf Augustin zurück, sondern gestaltete sich erst im Anschluß an Augustin bei seinen Schülern – aber das muß heute am Rande bleiben.) Die Frage entstand: Sind Mißgestaltete bzw. Behinderte eigentlich noch Menschen? Diese Frage wurde von Augustin (354-430) und in der durch ihn geprägten Theologie eindeutig bejaht: Alle behinderten und mißgestalteten Menschen stammen von Adam ab. Sie stammen natürlich auch von Noah ab, dem einzigen, der mit seiner Familie die Sintflut-Katastrophe überlebte. Aber jetzt wird’s schlimm. Noah hatte bekanntlich drei Söhne, von denen er zwei segnete, Sem und Japhet, den dritten aber verfluchte er, den Bösewicht Ham. Und Augustin (bzw. seine Schüler) behaupten nun: die Behinderten stammen von diesem Ham ab, von dem Verfluchten, dem wegen seiner Bosheit Verfluchten. – Wen wundert es noch, wenn dann aus dem häßlichen Kranken, während der Bischof ihn rasiert, plötzlich „der Böse“ spricht? Wen wundert es, daß auf der thomistischen Werte-Leiter der rasierende Bischof relativ weit oben zu stehen kommt, während der häßliche Kranke etliche Stufen weiter unten, in Richtung „Verbrechen“, anzutreffen ist? (Ich behaupte natürlich nicht, daß diese Werte-Leiter auf die Ham-Theorie zurückgeht; ich weise nur hin auf eine verwandte Anordnung und Einteilung der Menschen.)

Nun aber zur heutigen Theologie: Die genannte Ham-Theorie hat Theologie und andere Wissenschaften, Kunst und Literatur während des Mittelalters intensiv geprägt. Sie gehört also, auch wenn wir das nicht mehr wissen, mit zu den Traditionen, die wir immer noch unbewußt mit uns herumschleppen. Und damit erklärt sich einiges: Jene Nichtunterscheidung zwischen Besessenen und Kranken, die zur Apartheidstheologie führt, ist, wie wir sahen, in keiner Weise zu verstehen von dem her, was Markus aufgeschrieben hat. Sie wird aber restlos plausibel von Augustins Ham-Theorie her: Wenn tatsächlich Gesunde und Kranke, Nichtbehinderte und Behinderte einander gegenüberstehen wie die gesegneten Japhet und Sem ihrem verfluchten Bruder Ham gegenüberstanden, dann ist da ein klares Gefälle, dann gehören Kranke und Behinderte (wie Besessene) auf die Seite des Bösen, dann müssen sie noch erlöst werden, dann gehört zu Jesu Auftrag, alles Böse zu bekämpfen, auch der Kampf gegen alle Krankheiten dazu, dann beginnt für einen geheilten Kranken tatsächlich die neue Welt. (Wenn ich diese sehr ernste Sache einmal salopp ausdrücken darf: Offensichtlich haben manche Theologen bei ihrem ehrlichen Bemühen, der Markuspredigt zuzuhören, einen „kleinen Mann im Ohr“, nämlich den sogenannten „heiligen Augustin“ mit seiner zweifellos unheiligen Ham-Theorie.)

Ich bin mir klar darüber, daß meine These, die ich soeben entwickelte, eine schlimme Diagnose bedeutet. Und Sie können mir glauben, daß ich über ihre Wucht selber immer neu erschrecke. Ich fasse sie noch einmal zusammen: In unserer evangelischen Theologie stehen zahlreiche Aussagen über kranke und behinderte Menschen (ebenso über die Bedeutung von Heilung und Gesundheit) in krassem Widerspruch zum Bibeltext, sie stehen jedoch in harmonischer Übereinstimmung mit der völlig unbiblischen Ham-Theorie Augustins. Damit aber wird die in unserer Gesellschaft lebendige Euthanasie-Mentalität theologisch gestützt und untermauert.

Unsere Theologie ist also dringend einer Reformation bedürftig. Und zwar nicht nur, weil sie die üble Ham-Interpretation und damit die Gleichsetzung von Behinderung und Bösem und damit die Nichtunterscheidung von Krankheit und Besessenheit fleißig tradiert, sondern auch darum, weil sie offenbar nicht erkennt, daß Luthers Kreuzestheologie uns befreien könnte sowohl von der thomistischen Stufenleiter als auch von der Ham-Theorie und ihren schlimmen Folgen, so daß wir zurückfinden könnten zur Befreiungstheologie des Markus.

Martin Luther (1483-1546) setzt ein beim Kreuz Jesu, wodurch sich seine Theologie aber keineswegs verfinstert; im Gegenteil: von Golgatha her gewinnt Luther eine unglaubliche Kühnheit. Denn im Kreuz Jesu erkennt er die Umwertung aller Werte: Die schmachvolle Niederlage Jesu ist sein Sieg über Sünde, Tod und Teufel. Von Golgatha aus wird erkennbar: Gelogen hat jeder, der Schmerz und Geschrei dem Teufel, Triumph und sichtbaren Sieg aber Gott zuordnet. Nein, Gott war im Sterben Jesu der Siegreiche, seine Kraft kam in der Schwachheit zur Vollendung (vgl. 2. Kor 12,9), und die vermeintlichen Sieger waren die Verlierer [14].

Daß Luther hier nicht nur von Golgatha redet, sondern von Golgatha aus die gesamte Theologie neu gestaltet, möchte ich durch zwei Zitate andeuten. In einer Predigt [15] sagt Luther: Zu Weihnachten benahm sich Gott wie ein schlechter Maler. Der sagt, er wolle eine Kuh malen, aber wenn das Bild fertig ist, denkt jeder: das sieht aus wie ein Pferd. Also muß der Maler drunterschreiben: „Kuh“; dieses Wort ist gültig, auch wenn das Bild nach etwas anderem aussieht. So kündigt Gott durch seine Propheten den Retter der Welt an, und dann – liegt da ein Wickelkind im stinkigen Stall; Gott „vermalt“ seinen Heiland in ein Krippenkind. Also muß er das Wort drunterschreiben bzw. durch seinen Engel aussprechen lassen: Euch ist heute der Heiland geboren. – Das ist Kreuzestheologie: Dem Anschein zum Trotz dem Wort glauben: Das armselige Kind ist der Gottessohn. Spüren Sie die Nähe zu Markus? Der von vier Männern getragen werden muß, ist im Frieden mit Gott – schon, bevor er zum Laufen kam. Das soll Friede sein?, wird jeder fragen, der seinem Glauben nicht zutraut, den Augenschein „Lüge“ zu nennen. Ja, das ist Friede, könnte jeder sagen, der gelernt hat, in der Niederlage Jesu Gottes Sieg zu glauben.

Das andere Zitat stammt aus Luthers großem Galater-Kommentar: „Gott will unter der Larve“ (unter der Maske, in der Verstellung, im Kostüm, in der Rolle oder Verkleidung) „des Teufels erkannt werden“ [16]. Luther denkt nicht daran, auf Golgatha lustige Lieder zu singen. Wer uns heutzutage weismachen will, die Kreuzestheologie Luthers oder des Neuen Testaments weise masochistische Züge auf, der hat die Kreuzestheologie in geradezu abenteuerlicher Weise mißverstanden. Nein, Schmerz tut weh, Geschrei ist schlimm; bei vielem denkt und empfindet jeder von uns (auch wenn er ‚Martin Luther‘ heißt): hier haben wir’s aber nun wirklich mit dem Teufel zu tun. Und trotzdem – ich nannte es eben schon eine unglaubliche Kühnheit: trotzdem wagt Luther zu sagen (von dem her zu sagen, was er im Kreuz Jesu erkannt hat): das sieht nur aus wie Teufel; auch wenn es zuweilen teuflisch weh tut, kann es dennoch das sein, was Gott uns als Segen zugedacht hat. Das Böse, das, was jeder denkende, fühlende, lebenserfahrene Mensch als das Böse ansieht, kann in Wahrheit das Gute sein. Alles hängt hier am Kreuz. Ohne das Kreuz Jesu wäre Luthers Kühnheit eine unverantwortliche Tollkühnheit. Aber wenn wir auf Golgatha Gottes Sieg glauben dürfen, dann dürfen wir auch glauben, daß der von Vieren Getragene im Frieden Gottes ist; dann dürfen wir glauben, daß der entstellte Kranke Gott genau so nahe ist wie der ihn rasierende Bischof; dann dürfen wir kühn davon ausgehen, daß die schöne thomistische Werteleiter nur ein gut durchdachter Aberglaube ist. Luther legt die senkrechte Werteleiter quer auf die Erde; damit werden die Werte wieder irdische Werte, ohne jede pseudobiblische Überhöhung, ohne jede Aussage über größere oder geringere Nähe zu Gott. Krankheit und Gesundheit sind, von unserem Nervenkostüm, unseren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten aus, krasse Gegensätze; aber in Gottes Haushalt sind sie völlig gleichrangig. Die Gesundheit hat so wenig mit dem Guten, mit Gottes Segnen oder seiner Gnade zu tun wie die Krankheit mit dem Bösen, mit Gottes Verfluchen oder seiner Ungnade zu tun hat.

Das ist das Ende des Gefälles, das Ende der Apartheid. Kreuzestheologie macht solidarisch. Hier stehen Stärkere und Schwächere nebeneinander, auf der gleichen Ebene. Sie werden einander helfen, wenn sie da sind; sie werden einander vermissen, wenn sie nicht da sind; sie leben, wie J.Klevinghaus sagte, „im gleichen Spital“. Die Hauptsache ist für beide, sich dem uns allen gnädigen Vater im Himmel anzuvertrauen. Die Aufgabe ist für beide, sich gegenseitig zu dienen, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der bunten Gnadengaben unseres Gottes (vgl. 1. Petr 4,10).

V)
Angekündigt hatte ich, zum Schluß noch einmal auf unseren Alltag und auch auf politische Fragen zu sprechen zu kommen. Da können jetzt Andeutungen genügen, weil ich meine These bereits genannt habe. Etwas beiläufig sagte ich eben: Durch unsere Abhängigkeit von der Ham-Theorie werde die in unserer Gesellschaft lebendige Euthanasie-Mentalität theologisch gestützt und untermauert.

Denken Sie an die Pränataldiagnostik, die man gewiß ohne Übertreibung eine Treib-Jagd auf geschädigte Embryonen nennen muß. Denken Sie an die Diskussion um Wachkoma-Patienten: soll man deren Ernährung nicht einstellen (vielleicht sind die Organe ja noch für Transplantationen brauchbar)? Denken Sie an die Überlegungen zur aktiven Euthanasie, insgesamt an die sogenannte Singer-Debatte: ist es nicht besser, schwerstbehinderte Säuglinge zu töten? Ausführlich zur Sprache kommen müßte jetzt die Bioethik-Konvention, in der für Europa verbindlich geregelt werden soll etwa, unter welchen Voraussetzungen an Personen, die nicht einwilligen können, fremdnützige Forschung betrieben werden darf (Forschung also, die demjenigen, an dem geforscht wird, nicht helfen kann – aber die Wissenschaft käme vielleicht weiter).

Bei diesen Fragen sind die Kirchen merkwürdig zurückhaltend; als der Buß-und-Bettag abgeschafft wurde (nein, stimmt nicht; kein einziger Gottesdienst wurde verboten; der Tag wurde nur abgeschafft als staatlich anerkannter Feiertag), da gingen die Wogen wesentlich höher. Warum sind die Kirchen da, wo es um die Lebensrechte der Schwächsten geht, weniger laut? Könnte die Antwort bei der Ham-Theorie liegen? Eine Kirche, deren Theologie jede „stinknormale“ Behinderung in die Nähe „des Bösen“ rückt, eine Theologie, die zwischen Krankheit und Besessenheit zu unterscheiden verlernt hat – müßte sie sich nicht sogar freuen, wenn heutige Wissenschaft der Utopie nachjagt, Krankheiten auszumerzen, ein „Europa der Gesundheit“ (so in einem Straßburger Papier von 1988 [17]) zu schaffen? Um es zuzuspitzen: Müßte eine Theologie, die Jesus ständig gegen Krankheiten kämpfen sieht, die Bemühungen der Bioethiker nicht geradezu als Jesus-Nachfolge zustimmend interpretieren?

Vorhin ließ ich die Frage offen, was unter Besessenheit zu verstehen sei. Kommt jetzt vielleicht doch eine Antwort in den Blick? Ich bin davon überzeugt, daß Blindheit, Fieber und Lähmung nicht auf gottwidrige Kräfte zurückzuführen sind. Ich halte es aber durchaus für möglich, daß diese Behauptung, Krankheiten seien auf gottfeindliche Mächte zurückzuführen, daß dieser Satz wirklich dämonischen Ursprungs ist. Denn dieser Satz stört die Sache Jesu erheblich, seine befreiende Zusage an unheilbar Kranke, an behinderte Menschen und ihre Angehörigen, im Frieden Gottes zu sein, die „ganze Hauptsache“ zu haben. Könnte es also sein, daß es bei den „Besessenen“ nicht um Menschen in irgendwelchen Anstalten geht, sondern zum Beispiel um Menschen in theologischen Studierstuben, daß es also um uns geht? Könnten Theologie und Kirche also teilweise besessen sein, gebunden, gefangen in diesem total unbiblischen Hirngespinst, Krankheiten seien ein Teil „des“ Bösen?

Eingangs sagte ich: Reformation ist ein stetiger Prozeß. Wie dieser Prozeß heute aussehen müßte, können Gesellschaft, Kirche und Theologie möglicherweise von behinderten Menschen lernen. Schwer behinderte Menschen müssen eine trügerische Hoffnung bewußt aufgeben, die Hoffnung nämlich, irgendwann im Laufe dieses Lebens die Behinderung los zu sein. Solange der Rollstuhlfahrer hofft, irgendwann wieder gehen zu können, ist jeder Tag ein Negativ-Tag: ich konnte heute noch immer nicht gehen! Ich muß diese Hoffnung aufgeben, nicht aus Resignation, im Gegenteil: um Mut entwickeln zu können; nur so kann der einzelne Tag im Rollstuhl ein sinnvoller, ein normaler, ein guter Tag werden, der sich tatkräftig gestalten läßt. – Das gleiche gilt für die Gesellschaft. Solange wir von einer Welt ohne Krankheit träumen, ist jeder behinderte Mensch eine Negativ-Existenz, unnormal, regelwidrig; die Begegnung mit ihm beweist uns, daß wir’s noch immer nicht geschafft haben! Er ist eine Art Fossil aus einer Zeit, die wir doch endlich überwinden wollen; er stört unseren angenehmen Traum. Wir müssen diese Utopie unbedingt drangeben, nicht aus Resignation, im Gegenteil: Nur so ist es uns möglich, behinderten Menschen offen (ohne in irgendeiner Spielart an „das Böse“ zu denken) als normalen, uns ebenbürtigen Mitmenschen zu begegnen, in ihnen Menschen zu sehen, die wir vermissen werden, wenn sie nicht da sind. – Woher aber soll unsere Gesellschaft die Kraft gewinnen, sich von der liebgewordenen Utopie zu verabschieden, wenn sogar Kirche und Theologie den kindischen Traum von einer krankheitsfreien Welt nicht etwa stören, sondern ihn noch unterstützen, indem sie in Krankheit und Behinderung „das Böse“ sehen, das es im Auftrag Gottes zu bekämpfen gilt? So zeigt sich: Es wäre von enormer sozial-politischer Bedeutung, wenn es bei uns Christen eine ehrliche Reformation gäbe, eine klare Rückkehr zur befreienden Botschaft der Bibel und zur Schwung gebenden Kreuzestheologie Martin Luthers.


Anmerkungen:

1) Eberhard Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als Sacramentum et Exemplum, in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD, 86/87, S. 6ff, (Zitat: S. 20).- Vgl. dazu, aus katholischer Sicht: Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, (Herder) Freiburg, 1992, S. 15: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen.“

2) Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow (DDR), April 1978; ursprünglich: epd-Dokumentation Nr. 36a/78; dann mehrfach, z.B. in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD, 78/79, S. 227ff (Zitat: S. 228).

3) Ernst Wolf, Ordnung und Freiheit. Zur politischen Ethik des Christen, S. 39f.

4) Johannes Klevinghaus, in: Ernst Brinkmann, Hg., Heil und Heilung, Gedenkbuch für Johannes Klevinghaus, 1970, S. 61 f. (Hervorhebung von mir, U.B.).

5) Vgl. zu dieser These, im Blick auf andere Heilungsgeschichten, zum Beispiel: Ulrich Bach, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991, darin: S. 40-118 / „Gesunde“ und „Behinderte“, Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, (Kaiser) Gütersloh 1994 (KT 134), darin: S. 100-121 / Gottes Heil und unser europäisches Apartheids-Denken, in: Reiner Degenhardt (hg. im Auftrag des DEKT), Geheilt durch Vertrauen, Bibelarbeiten zu Markus 9,14-29, (Kaiser) München 1992, S. 141-157.

6) Walter Grundmann, Das Evangelium nach Markus, in: Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, EVA Berlin, 9. Aufl. 1984, S. 163f.

7) Wilfried Joest, Die Allmacht Gottes und das Leiden der Menschen, in: ders., Gott will zum Menschen kommen. Zum Auftrag der Theologie im Horizont gegenwärtiger Fragen, Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, S. 150.

8) Reinhard Turre, Diakonik. Grundlegung und Gestaltung der Diakonie, Neukirchen 1991, S. 48.

9) Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 5. Aufl., Tübingen 1966, S. 63.

10) vgl. etwa: Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, Hg.: Theodor Strohm, Heidelberg; Band 2: G.K.Schäfer, Th.Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen, Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, 1990, S. 67-93: darin, S. 72: „Der eine Gott ist für alles verantwortlich und zuständig. Weil alles an ihm hängt, gilt ihm Klage und Anklage. Klagen sind Gebete.“

11) zum Beispiel: W. Grundmann, a.a.O.,  S. 162.

12) Josef N. Neumann, „Böse und behindert“: Zur Geschichte eines Vorurteils, in: Junge Kirche, 55. Jg., 1994, S. 215-217 (Zitat: S. 217).

13) ders., Die Mißgestalt des Menschen – ihre Deutung im Weltbild von Antike und Frühmittelalter, in: Sudhoffs Archiv, Band 76, Heft 2 (1992) (Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart), S. 214-231.

14) zum folgenden vgl.: U. Bach, Kreuzestheologie und Behindertenhilfe, in: Pastoraltheologie, 73. Jg., 1984, S. 211-224, bes.: S. 221-224; auch in: Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein. Auf dem Wege zu einer diakonischen Kirche, Neukirchen 1986, S. 98-116 (113ff).

15) D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. von E. Mülhaupt, Göttingen, Band 1, 3.Aufl. 1957, S. 34f.

16) D. Martin Luthers Epistel-Auslegung, 4. Band: Der Galaterbrief (Hg.: H. Kleinknecht), Göttingen 1980, S. 302.

17) Ulrich Bleidick, Die Behinderung im Menschenbild und hinderliche Menschenbilder in der Erziehung von Behinderten, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 41. Jg., 1990 (Heft 8), S. 514-534, Zitat: S. 516.


Quelle: Ulrich Bach, Hauptsache gesund? Der Glaube an die Machbarkeit einer von Krankheit freien Welt, in: Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V. (Hg.), Der Rede wert, Beiträge aus der Arbeit der Diakonie, Stuttgart, 1997

Wir Behinderten und die christliche Gemeinde

Wir Behinderten und die christliche Gemeinde –
womit dürfen – womit müssen wir rechnen?

Die übliche Frage-Richtung kehre ich einmal um. Heute frage ich nicht als Gemeindeglied, als Pastor in unserer Kirche, nach den behinderten Menschen: Was sollen wir für sie tun, wie können wir sie besser verstehen, auf welche Weise könnte ihre Einbeziehung in unser Gemeindeleben intensiviert werden? So berechtigt diese Fragen sind, heute will ich meinen eigenen Rollstuhl, auf den ich seit Jahrzehnten angewiesen bin, bewußt zum Ausgangspunkt meines Denkens wählen: Wie soll unsereiner mit der Kirche klarkommen?, was für eine Kirche ist das eigentlich?, was kommt auf uns zu, wenn Kirche uns tatsächlich intensiver einbezieht: wird uns dann (ich überspitze bewußt) die Luft abgeschnürt, oder erleben wir, daß wir endlich frei durchatmen können? – Welche Erfahrungen mit unserer Kirche mögen aus den provozierenden Worten sprechen, die mir ein Rollstuhlfahrer schrieb; er bete seit einiger Zeit: “Gott, schütze die Spastiker. die Muskelschwundler, die Verwirrten … Gott, schütze sie alle – vor den Kirchen”?

Jedenfalls sollten wir damit rechnen: Die Kirche scheint kaum einen Zweifel daran zu kennen, daß es uns um so besser geht, je fleißiger die kirchlichen Aktivitäten uns gegenüber sind. Schon die Frage allein, ob uns auf solche Weise nicht vielleicht die Luft enger werden kann, wirkt wie eine grobe Ungezogenheit. Das darf mich aber nicht hindern, die Frage zu stellen und auch schon eine erste Antwort zu versuchen: Kirche, besonders Caritas und Diakonie, sieht sich oft so sehr in der Rolle der Aktivisten, daß mindestens die Gefahr besteht: Behinderte Menschen geraten dadurch verstärkt in die Rolle der (wenn auch gut versorgten) Objekte. Darum klingt es für uns wie eine Befreiung, fast wie eine kopernikanische Wende, wenn wir einen (nichtbehinderten) Theologen sagen hören: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen“ (Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, 1992, S. 15). Das heißt: Wer über Hilfe reflektiert und sie organisiert, darf Hilfsfähige und Hilfsbedürftige nicht auf ihre jeweiligen Rollen fixieren; es muß Raum bleiben für wechselseitiges Helfen. – Um nicht grob mißverstanden zu werden: Wenn ich mich hier kritisch zum Helfen äußere, dann kritisiere ich weder Angehörige noch Mitarbeiter im Pflegedienst. Es geht in diesem Text nicht sofort um die Frage: Wie begegnen Helfende den auf Hilfe Angewiesenen?, sondern um die andere: Wie wird in Kirche und Gesellschaft solches Helfen gesehen und organisiert? Als Beispiel: Viele Mitarbeiter beklagen, daß bei knapper werdenden Finanzen und recht kurzer Personaldecke zu wenig Zeit bleibt zur personalen Begegnung. Aber: Finanz- und Personal-Fragen werden nicht von den Pflegekräften entschieden. Diesen jedoch einen Vorwurf zu machen, wenn ihr Tun dann zuweilen fast nur noch ein Hantieren sein kann, wäre geradezu zynisch.

Was eben zur Sprache kam (daß wir nämlich, wenn wir den Helfenden vorrangig als Akteur und den Schwächeren als Nutznießer sehen, den Hilfsbedürftigen dadurch, gewiß gegen unsere Absicht, in der Objekt-Rolle festhalten), das ist nur ein Teil-Thema: Auf mannigfache Weise wird (im Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten) in unserer Gesellschaft unterschieden zwischen den einen und den anderen, zwischen den Normalen und den übrigen, zwischen den Regel- und den Ausnahme-Existenzen. Seit 1989 wird wieder offen über „Euthanasie“ diskutiert. Seit Mai 1993 liegt ein Text des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 vor, in dem ein Abbruch im allgemeinen als rechtswidrig gilt, im Falle einer vorgeburtlichen Schädigung des Kindes ein Abbruch aber als nicht rechtswidrig bezeichnet wird – belastetes Leben genießt weniger Rechtsschutz! – Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß ich einen schweren Vorwurf erhebe, wenn ich nun behaupte: Die Kirche ging hier bisher nicht eindeutig, mindestens zu kleinlaut, auf Gegenkurs; auch sie kommt nicht los von der genannten Unterscheidung. Dabei richtet sich mein Vorwurf weniger gegen die Tatsache dieser Unterscheidung (total beseitigen können wir die vielleicht nie; s.u.) als dagegen, daß wir solches Unterscheiden kaum wahrnehmen, daß wir oft so tun, als gäbe es das nicht – bei uns nicht, höchstens bei anderen: Unser Nein zur südafrikanischen Apartheids-Theologie ist einhellig. Aber gibt es Vergleichbares nicht auch bei uns? Wir nennen zwar nicht die Weißen die Regel-Existenzen, womit Schwarze zu Ausnahmen würden; aber wir sind geneigt, den Gesunden (den Nichtbehinderten, den zur Hilfe Fähigen) als den eigentlichen Menschen zu sehen, wodurch der stark auf Hilfe Angewiesene ins Abseits gerät.

Es führt zu nichts, diese Tatbestände anderen besserwisserisch „um die Ohren zu schlagen“. Viel sinnvoller ist es, etwa Gemeindekreise mit einer Art kreativem Spiel zum Nachdenken zu bringen, indem man ‚harmlose‘ Sätze nennt (nennen läßt) und sie dann so ergänzt (ergänzen läßt), daß der schwerbehinderte Mensch als völlig gleichberechtigter Mensch ins Spiel kommt (spüren wir da Widerstände?). Drei Beispiele: a) Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild. Und nun: Gott schuf den Kerngesunden und auch den Schwerstbehinderten zu seinem Ebenbild. b) Wir sollen uns gegenseitig helfen. Und jetzt: Den Behinderten würde viel fehlen, wenn Nichtbehinderte nicht bei ihnen wären, und den Nichtbehinderten würde viel fehlen, wenn Behinderte nicht bei ihnen wären. c) Gott will, daß wir dem Nächsten Gutes tun. Und dann: Mit mir kann Gott etwas anfangen, wenn er einem Schwerstbehinderten Gutes tun will, und mit dem Schwerstbehinderten kann Gott etwas anfangen, wenn er mir etwas Gutes tun will. – Von mir muß ich sagen: Was in den drei Ergänzungen jeweils vor dem „und“ steht, macht mir weniger Schwierigkeiten als das, was dann folgt. Aus vielen Gesprächen weiß ich, daß ich da kein Einzelfall bin. Daher mein Vorschlag: Wir sollten endlich die Risse und Trennungen im Reden vom Menschen zur Kenntnis nehmen, die es in uns allen gibt. – Die Bibel kennt kein gespaltenes Reden vom Menschen (je nachdem, ob einer stark oder schwach, gesund oder krank … ist); solche Spaltungen lassen sich aber in unserer Theologie an etlichen Stellen nachweisen (zu dieser Doppelthese ausführlich: U.Bach, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, 1991).

Wie es mit jener Unterscheidung (die einen / die anderen) in der Kirche bestellt ist, wird sichtbar auch durch die Frage: Ist die Kirche mit ihrer Theologie schon ohne uns (ohne den Beitrag Behinderter) fertig, oder kann sie erst dann fertig werden, wenn wir als gleichberechtigte Subjekte zur Beratung mit herangezogen wurden? Wird zum Beispiel ohne uns entschieden, wie theologisch über Gesundheit und Krankheit zu reden ist (in solchem Falle müßte nur noch gefragt werden, wie man die Ergebnisse behinderten Menschen „vermitteln“ könne), oder ist allen Beteiligten klar: Wie man das Thema „Kirche und Bischofsamt“ nicht ohne Bischöfe, „Kirche und Frauen“ nicht ohne Frauen diskutieren und entscheiden kann, so selbstverständlich auch nicht die Thematik „Kirche und Behinderte“ ohne die gleichberechtigte Beteiligung behinderter Menschen?

Aber weiter: Wenn ein behinderter Mensch nicht zu einem Sonder-Wesen, wenn die Frage der Behinderung nicht zu einer exotischen Frage werden soll, dann dürfen behinderte Menschen nicht nur zur Frage „Kirche und Behinderte“ herangezogen, dann müssen sie auch gebeten werden, aus ihrer Situation heraus mitzuhelfen, wenn über „Gott“ oder den „Sinn des Lebens“, über „Gemeinde“ und anderes nachgedacht wird.

Daß schwer behinderte Menschen tatsächlich eine unverwechselbare Hilfe bedeuten können, wenn es darum geht, die biblische Botschaft in ihrer Abzielung auf unser praktisches Leben zu begreifen, das erfahre ich seit etwa 20 Jahren in einem Bibelkreis, zu dem sich in der Evangelischen Stiftung Volmarstein wöchentlich einige schwerbehinderte und wenige nichtbehinderte Menschen zusammenfinden. Ich nenne nur ein paar Sätze, die ich in den vergangenen Jahren notierte. – Zum Thema: „Wie reden wir von Gott?“, fand ich den Satz einer stark spastisch gelähmten Frau: „Jesus ist ein unbequemer Freund“. Kann man Gottes Liebe und gleichzeitig seine Unbegreiflichkeit knapper benennen als so? – Bittere Erfahrungen mit Gott, verbunden mit einem unbeirrbaren Vertrauen zu ihm, zeigt der folgende Satz (Thema war: ‚Wie kann Gott das zulassen?‘): „Wir bitten um die Kraft, an Gott festzuhalten, wie die Mutter eines Mörders sagt: er ist trotz allem mein Sohn.“ – Solches „trotz allem“ muß sich allerdings oft mühsam durchsetzen gegen einen Naiv-Glauben, der von Gott rasche Behebung aller Schwierigkeiten erwartet: „Was antworten wir, wenn jemand uns fragt: du willst ein Christ sein und bist schon drei Wochen depressiv?“ – Wir überlegten, was gemeint sein mag mit der Bitte: ‚Gott, segne uns‘? Eine mehrfach behinderte Teilnehmerin versuchte es so: „alles, was wir tun, soll freundlich angeguckt sein“. Und ich warne davor, in diesem Satz eine Notlösung für Menschen zu hören, bei denen von Gütern und Erfolgen nicht viel zu erzählen ist. Nein, diese Antwort ist für uns alle der biblischen Botschaft näher als unsere naive Hoffnung, Gottes Segnen möge darin sich äußern, daß er uns Güter, Ansehen und Gesundheit zukommen läßt. – Wichtig war uns manches, was Frau N. beisteuerte, die kürzlich mit 91 Jahren gestorben ist: „Die Kunst des Lebens ist Aushalten“ (und nicht: seinem Leben ein Ende machen). „Die Jünger waren im Glauben auch nicht immer stark. … Es kommen immer wieder Wankel-Stunden“. Zur Gefangennahme Jesu war ihr staunender Kommentar: „Er nimmt Gott wichtiger als sich selbst“. Bei ihr schienen Glaube und Alltag wirklich nicht zweierlei zu sein: „Als ich gestern hinfiel und nicht hochkam, dachte ich: Wo ist jetzt Gott?“ Unvergeßlich ist mir, wie sie zuversichtlich und treffsicher reagierte, als eine nichtbehinderte Teilnehmerin nach mehrwöchiger Abwesenheit gesagt hatte, sie habe uns „richtig vermißt“: „Ist viel wert. Ist wenigstens einer da, der uns vermißt. Ist doch nicht so schnell jemand, der uns vermißt.“ Frau N. wußte also, daß sie wertvoll war, daß ihren nichtbehinderten Mitmenschen ohne sie und ihre Nachbarinnen Wichtiges fehlen würde. – Eine Diakonische Helferin, die für einige Wochen zum Kreis gehört hatte, sagte uns beim Abschied, sie habe hier gelernt: „Glaube ist keine Traumtänzerei.“ Zwei andere nichtbehinderte Teilnehmer erlebten den Kreis „wie eine Oase“. Wir in unserer Runde spüren gelegentlich, wie wir miteinander „Luft zum Durchatmen“  (s.o.) geschenkt bekommen. – ‚Womit müssen wir rechnen?‘ Müssen sich schwerbehinderte Menschen wirklich darauf einstellen, in der christlichen Gemeinde ständig nur unter dem Aspekt „hilfsbedürftig“ wahrgenommen zu werden?

Inzwischen habe ich wohl meine Rolle gewechselt; ich fragte wieder stärker als Theologe in unserer Kirche; diese Rolle möchte ich noch ein bißchen beibehalten.

Klar muß mir sein: Wenn wir theologisch nach der Kirche fragen, ist das Neue Testament der Maßstab. Und ohne Zweifel wird dort so von der Kirche geredet, daß darin jeder noch so schwer Behinderte Heimat finden könnte: Alle sind gleichberechtigte Glieder an dem einen „Leib Christi“ (1Kor 12); wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit (Vers 26); Unbegabte gibt es gar nicht, allenfalls Menschen, deren Begabungen von den übrigen nicht anerkannt werden (aber dann liegt das Manko nicht bei den angeblich Unbegabten, sondern bei den schlechten „Haushaltern der mancherlei Gaben“, vgl. 1Petr 4,10); so wird Kirche eine Gemeinschaft, in der jeder geben und jeder nehmen darf, ohne alles Oben und Unten.

Klar muß aber auch das andere sein: Diese Kirche hat es seit den Zeiten der Apostel noch nie gegeben; die real existierende Kirche sieht anders aus. Darum kann es zur Resignation führen, wenn ich fordere, wir müßten endlich verwirklichen, was im Neuen Testament geschrieben steht. Kirche in dieser Welt setzt sich nun einmal zusammen aus sündigen Menschen. Und das heißt (wobei ich offenlasse, wie groß dabei der Anteil von „Schicksal“ und der Anteil von „Schuld“ ist): Wir sind Sieger-Typen, wir wollen besser sein als andere; sogar derjenige, der ständig den „unteren Weg“ geht, ist nicht gefeit dagegen, es wie einen Triumph zu erleben, daß er wenigstens darin besser ist als viele andere. Zudem: Wir suchen (und brauchen offenbar) Nest-Wärme bei Gleichen (oder Vergleichbaren), womit die Tendenz gegeben ist, andere auszugrenzen. – Es geht mir nicht darum, uns „madig zu machen“, sondern darum, schlicht und ehrlich zur Kenntnis zu nehmen, wer wir sind. Ein Nichtbehinderter, der sich zutraut, auch bei einer plötzlichen, mit Hautkontakt verbundenen Begegnung mit einem ihm unbekannten schwerstbehinderten Menschen keinerlei Schwierigkeiten zu empfinden, der weiß noch recht wenig über sich selbst. Mir sagte ein Diakon, der bei behinderten Erwachsenen gearbeitet hatte: „Drei Jahre Pfleger, dann wissen Sie, wer Sie sind.“ Er hatte also, indem er behinderte Menschen kennenlernte, sehr aufmerksam sich selber kennen gelernt. Die genannten Schwierigkeiten lassen sich nicht einfach weg=wünschen und auch nicht weg=glauben; sie gehören zu uns. Wir können lernen, mit ihnen umzugehen; wir können sie aber nie völlig beseitigen – vielleicht sollten wir das nicht einmal versuchen.

Ich will weder mich und meine Umgebung madig machen, als negatives Gegenbild zu Gottes Vorhaben verurteilen müssen; noch will ich mich und meine Umgebung zurechtlügen als halbwegs realisiertes „himmlisches Jerusalem“. Seit Jahrzehnten erlebe ich bei mir und bei meinen Mitchristen beides: „danke“ und „ich krieg die Wut“; „das konnte ich“ und „hier bin ich gescheitert“; Stärke und Armseligkeit; Gottes Reichtum und menschliches Versagen; „Gott wohnt bei uns“ und „Jammertal“; „Schatz“ und „irdenes Gefäß“; Gemeinde als „Leib Christi“ und Gemeinde, von der man weglaufen möchte. – Und war es anders, als Jesus mit seinen Jüngern die Kirche in den Blick nahm (Mt 28,20ff)? Elf Jünger waren es gerade noch; und „etliche“ von ihnen zweifelten; es können nicht viele gewesen sein, die ohne Zweifel waren. Aber dieses unstabile Häufchen beauftragt Jesus mit der Weltmission! Wir sind nicht besser als Petrus und Johannes und deren Kollegen. Offenbar kann vor dem Jüngsten Tag Gemeinde immer nur dieses Gemisch sein von Ja und Nein, von Glaube und Zweifel, von Gehalten-Sein und Untergang, von Liebe und Schuld, von Teilen und Raffen, von Helfen und Sich-Behaupten-Wollen, von Für-Sorge und Ich-Sucht. – Sollen wir also doch besser weglaufen? Wenn wir das nicht tun, dann nicht deshalb, weil morgen Kirche „richtige“ Kirche sein wird, sondern darum, weil der Herr der Kirche seinen Auftrag an die Unfähigen (an uns also) immer noch nicht leidgeworden ist. Weil Gott auf krummen Linien gerade schreiben kann (so ein älterer Buchtitel), darum dürfen wir „krumme Linien“ sein – „Engel“ ist nicht nötig.

Hätte ich mir meine kritischen Anfragen also schenken können? Die klangen dramatisch, aber jetzt wird offenbar Entwarnung geblasen. Keineswegs! Beides (die herbe Kritik und die scheinbare Entwarnung) war nötig, wenn wir nicht entweder in Resignation oder in Lüge verfallen wollen. Beides ist nötig, damit – endlich! – klar werden kann, wie „normal“ behinderte Menschen sind. Sie müssen relativ häufig sagen: das kann ich nicht. Bei ihnen wird rasch sichtbar: dieses und jenes klappt nicht. Und gerade darin sind sie nicht anders als „wir“; gerade darin sind sie wie wir. Wir können unsere Sieger-Mentalität und andere Gegebenheiten nicht abschaffen und nicht wegbeten; bei uns klappt die Liebe nicht, ohne daß sich Schuld darein mischt, die Für-Sorge nicht, ohne daß sich die Ich-Sucht bemerkbar macht.

Also doch Entwarnung? Also doch Beschwichtigen jeder Kritik, vielleicht  mit Brecht’s: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“? O nein, es geht um etwas völlig anderes; darum nämlich, daß wir (a) die selbstgewählten Utopien aufgeben, die wir weder verwirklichen sollen noch können; und gleichzeitig: daß wir (b) uns mutig an die Aufgaben begeben, die uns aufgetragen sind, und die wir uns gegenseitig zutrauen sollten.

(Zu a:) Es ist ein Hirngespinst zu sagen: Wenn wir uns anstrengen, können wir die Gemeinde der Sündlosen, die Kirche der Schwestern und Brüder werden, bei denen es keinerlei Hick-Hack gibt. Paulus war Realist: Er wußte, daß er’s nicht „erreichen“ kann; „ich jage ihm aber nach“ (Phil 3,12). Kennzeichen der Gemeinde ist es nicht, daß sie dem großen Ziel schon recht nahe gekommen ist, sondern: daß sie unterwegs ist, bewußt auf dem Wege ist. Der Weg, das Wandern, ist das Kennzeichen des Gottesvolkes. Also nicht: Drangeben des Zieles, sondern Zugeben unserer Unfertigkeit: Wir können nur stolpernd (und mutig!) unterwegs sein.

(Zu b:) Solches Zugeben überfordert uns nicht. Und hierbei könnten gerade behinderte Menschen Lehrer der Kirche werden. Sie müssen schon immer trainieren zu sagen, was sie nicht können. Für den Einarmigen ist es kein Makel, wenn er darum bittet, ihm das Fleisch klein zu schneiden. Wer nicht lesen kann, muß sich nicht schämen, wenn er auf dem Bahnhof jemanden bittet, für ihn auf der Abfahrtstafel nachzuschauen, wo sein Zug abfährt. So etwas kann gelernt werden, etwa auch dieses: Zu sagen, daß bei der Begegnung mit Behinderten einen oft das große Mitleid überfällt; zu sagen, daß man sich als Nichtbehinderter oft wichtiger fühlt als das behinderte Kind dort drüben. Und auch die relativ leicht Behinderten müssen das lernen: Zu sagen, daß man sich als Rollstuhlfahrer zuweilen besser vorkommt als der Schwermehrfachbehinderte.

Ein Schulkind im dritten Schuljahr, das immer nur davon träumt, schon morgen Abitur machen zu können, gefährdet damit die Möglichkeit, das Abitur in zehn Jahren zu schaffen. Eine Kirche, die immer nur davon redet, in ihren diakonischen Aktivitäten noch perfekter werden zu müssen, drängt damit die Schwächeren (diejenigen, deren Stärke nicht so sehr in Aktivitäten zu suchen ist) deutlicher ins Abseits; das heißt, sie gefährdet die Möglichkeit, auf dem Wege einer diakonischen Kirche weiterzukommen.

Vor mehr als 25 Jahren umschrieb Johannes Klevinghaus (Leiter einer großen Einrichtung für geistig Behinderte) den „Platz“, der den in der Diakonie Tätigen durch die biblische Botschaft „angewiesen“ ist, so: „Da sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“ (Heil und Heilung. Gedenkbuch für J.Klevinghaus, hg. von E. Brinkmann, 1970, S. 62).

Womit dürfen – womit müssen wir rechnen? Dürfen wir mit einer Kirche rechnen, die den Mut findet, das „Spital“ zu sein (vgl. J.Klevinghaus), in dem wir miteinander die Erfahrung machen wollen (vgl. R.Zerfaß): Helfen können wir nur denen, von denen wir auch Hilfe für uns erwarten?

Quelle: Ulrich Bach, Wir Behinderten und die christliche Gemeinde, Womit dürfen, womit müssen wir rechnen?, in: Praktische Arbeitshilfe zur Woche für das Leben 1994, unBehindert miteinander leben (Hg.: Deutsche Bischofskonferenz, Bonn; Rat der EKD, Hannover; ZdK, Bonn; Redaktion: Felix Rathofer, Bonn), 1994, S. 11-19

Hoffnung auf eine diakonische Kirche

Ulrich Bach
Hoffnung auf eine diakonische Kirche

Evangelisch-reformierte Kirche
Synodalverband Grafschaft Bentheim

Synode am 24. November 1990 in Emlichheim

Liebe Schwestern und Brüder.

Vor über zehn Jahren schrieb Rudolf Weth (EvTheol 1976, S. 273): „Die Gemeinde Jesu Christi wird nicht nachträglich und nach außen gerichtet ‚Gemeinde für andere‘. Sondern sie ist schon ‚unter sich‘ diakonische Gemeinde oder sie ist nicht Gemeinde.“

Das heißt: Wenn wir von „diakonischer Kirche“ reden, dann reden wir nicht von etwas, was zu der Kirche hinzukäme wie die Sahne auf die Torte – aber natürlich ist die Torte auch schon ohne die Sahne eine bekömmliche Torte. Sondern wir reden von der Torte selbst. Ohne Bild: Wir gehen nicht aus von einer in sich schon fertigen Kirche, zu der dann allerdings, wenn wir von „diakonischer Kirche“ sprechen wollen, noch einiges hinzukommen muß: Kindergärten, Altenheime, Behindertenarbeit und Krankenhäuser. In dieser Vorstellung bewegen wir uns vielleicht, wenn wir von der „Diakonie der Kirche“ sprechen. Wer „Diakonie der Kirche“ sagt, meint offenbar: Diakonie ist ein wichtiger und wertvoller Sektor kirchlicher Arbeit; aber zweifellos wäre Kirche auch ohne Diakonie in vollem Sinne Kirche; auch ohne sie wäre Kirche lebensfähig; auch ohne Diakonie würde die Kirche ihrem Auftrag in unserer Welt wenigstens einigermaßen gerecht. Nein, unser Thema fragt nicht nach der „Diakonie der Kirche“, sondern nach der „diakonischen Kirche“; nach der Kirche also, die in sich schon diakonisch ist – vor allen diakonischen Aktivitäten und Organisationen; nach der Kirche also, die „unter sich“ schon diakonische Gemeinde ist, um noch einmal an R.Weth zu erinnern.

Mit anderen Worten: Das Thema weist uns nicht auf die Frage: Was sollen wir tun?, wie sehen unsere Werke aus? Vielmehr auf die andere Frage: Wer sind wir?, Wie mag Christus sich unser Miteinander vorgestellt haben, als er uns in seine Kirche berief? (In theologischer Kurzformulierung: Das Thema kommt her vom „Evangelium“, nicht vom „Gesetz“.) Natürlich muß irgendwann auch von dem Tun der diakonischen Kirche die Rede sein. Heute aber soll einmal nicht gefragt werden: was tun wir, sondern: wer sind wir? Und darin sehe ich nicht nur eine Äußerlichkeit. Denn stellen Sie sich bitte vor, es solle sofort und als Wichtigstes von den Taten der diakonischen Kirche die Rede sein; dann hieße das: Diakonische Kirche ist Kirche der Tat, ist Kirche des Helfens, diakonische Kirche ist Kirche der Zuwendung zu den Schwachen. Und damit wäre, bekommen Sie keinen Schrecken, etwas Schlimmes gesagt. Damit wäre nämlich behauptet: Diejenigen, die selber kaum Taten vollbringen können (weil sie im Sterben liegen oder weil sie völlig gelähmt sind), diejenigen, die selber zum Helfen kaum in der Lage sind (weil sie völlig auf Hilfe angewiesen sind), diejenigen, die sich den Schwachen schwerlich zuwenden können (weil sie selber zu den Schwächsten gehören, die rund um die Uhr von der Zuwendung anderer leben) – all diese Menschen zählen dann nicht gleichberechtigt zu denen, die wir „diakonische Kirche“ nennen. Natürlich werden wir sagen: Sie gehören dazu; „irgendwie“ gehören „auch“ sie „natürlich“ „noch“ dazu; aber schon diese Vokabeln verraten unsere Schwierigkeiten: Wir sortieren: Auf der einen Seite stehen die Helfenden (die gehören dazu, ohne „auch“, ohne „irgendwie“, ohne „noch“, sie kommen dem Ideal der helfenden, der diakonischen Kirche sehr nahe); auf der anderen Seite die Hilfsbedürftigen (sie können nicht helfen, sie entsprechen nicht dem Ideal der helfenden Kirche; sie gehören, wenn überhaupt, nur „irgendwie“ und „auch“ zur diakonischen Kirche). Aber kann im Ernst eine sortierende Kirche eine diakonische Kirche sein? Ich behaupte: nein. –  Auch wenn wir uns im Augenblick noch in den Vorbemerkungen bewegen, so viel kann schon gesagt sein: Eine diakonische Kirche muß auf jeden Fall eine Kirche sein, in der der Schwache genau so Platz hat wie der Starke, der Hilfsbedürftige genau so wie der Helfer. Das heißt aber: Wenn ich nicht von vornherein der „diakonischen Kirche“ eine total undiakonische Basis geben will, darf ich sie auf keinen Fall definieren als eine Kirche der Tat, des Helfens, als eine Kirche der Zuwendung. So wichtig diese Dinge sind (wichtig auch für eine diakonische Kirche), sie dürfen nicht als Grund-Bestandteile einer diakonischen Kirche herangezogen werden, nicht als die wesentlichen Elemente, die eine Kirche zu einer diakonischen Kirche machen. – Noch einmal: Wenn ich sagte, in diesem Vortrag solle von unserem Sein, nicht von unserem Tun geredet werden, dann ist das nicht eine beliebige Festlegung, sondern bereits inhaltlich wichtig für das Thema selbst: Nur so kann verhindert werden, daß wir sofort abdriften in Richtung einer sortierenden Kirche, die darum nicht mehr „diakonische Kirche“ genannt werden könnte.

Lassen Sie mich das Gesagte noch einmal anders sagen. Ich möchte Sie einladen zu einem kurzen Ausflug in das Reich der Begriffe. Nachdenken möchte ich mit Ihnen über das Wort „musikalisch“ und über die möglichen Wort-Verbindungen „musikalischer Komponist“, „musikalischer Schüler“ und „musikalischer Affe“. Sie werden sofort das ganze Spektrum erkennen. Von den zwei Wörtern „musikalischer Komponist“ ist ein Wort überflüssig: Ist doch klar, daß ein Komponist musikalisch ist, das muß eigentlich gar nicht noch gesagt werden; „Komponist“ allein tuts auch schon. Anders beim musikalischen Schüler; da gibt es in der Tat musikalische und unmusikalische Schüler, und mindestens der Musiklehrer möchte gern wissen, mit wem er es gerade zu tun hat. Noch schwieriger wird es beim „musikalischen Affen“: Was hat ein Affe mit Musik zu tun? Da haben wir zwei Wörter, die eigentlich nicht zusammen passen: Auf der einen Seite der Affe, der im Urwald von Baum zu Baum springt, Bananen frißt und sich mit seinen Artgenossen kebbelt; auf der anderen Seite der Violinist, der in schwarzem Frack in wohltemperiertem Musiksaal in Bachs viertes Brandenburgisches Konzert (Satz 3) einstimmt; es fällt schwer, eine Verbindung zu denken: vielleicht einen Affen, der im Zirkus-Rund zur Samba die Pauke schlägt. Präzise dressiert, mag er es können, aber es entspricht keineswegs den Anlagen, die ihm von kleinauf mitgegeben sind.

Sie spüren gewiß schon: Mit diesem Ausflug ins Reich der Begriffe bin ich streng beim Thema. Was meinen wir, wenn wir „diakonische Kirche“ sagen? Steht diese Wort-Verbindung in Parallele zu der Wort-Verbindung „musikalischer Komponist“ oder zu der anderen: „musikalischer Schüler“, oder vielleicht zu der dritten: „musikalischer Affe“? Noch einmal: Was heißt „diakonische Kirche“? Nach dem Modell „musikalischer Affe“ wäre gemeint: Kirche ist alles Mögliche: sie hüpft im dogmatischen Urwald von Lehrsatz zu Lehrsatz und labt sich an paradiesischen Früchten; „Diakonie“ – Entschuldigung, wie schreibt man das? Man müßte diese Kirche sehr energisch dressieren, bevor sie auf diakonische Sprünge kommt. – Manchmal habe ich den Eindruck, Wichern habe es gewissermaßen mit einem solchen ‚kirchlichen  Affen‘ zu tun gehabt, dem es schwerfiel, auf eine diakonische Pauke zu hauen; der redet dauernd vom Glauben; der schlägt nicht Alarm, wenn verwahrloste Kinder unter die Räder kommen; der schlägt nur Alarm, wenn er die Rechtgläubigkeit in Gefahr sieht. Also müssen wir ihm beibringen: „Die Liebe gehört mir wie der Glaube“ (so JHWichern, 1848; die Liebe kommt nicht als Zweites, sie „gehört“ so zentral zur Kirche „wie“ der Glaube). Mag dieser ‚kirchliche Affe‘ den Eindruck haben, wir zwingen ihn gegen seine eigentliche Natur, das darf uns nicht hindern; denn nur so lernt er, daß Gefängnis-Reform und die Erziehung Verhaltens-Gestörter zu seinen Aufgaben gehören, daß Gefangene und Verhaltens-Gestörte zu ihm gehören, als seine Schwestern und Brüder. – „Hoffnung auf eine diakonische Kirche“ hieße in diesem Modell: ich hoffe, daß die Dogmen-konforme und auf ihr Ansehen bedachte Kirche endlich die kleinen Leute entdeckt. Mag sie sich anfänglich dagegen wehren wie der Affe gegen die Trompete – wir müssen sie dahin dressieren.

Unsere heutige Kirche sehe ich stärker im Modell „musikalischer Schüler“: Es gibt musikalische und unmusikalische Schüler. Ohne Bild: Es gibt Gemeinden, die in Sachen Diakonie enorm engagiert sind; in anderen Gemeinden nimmt die Kirchen-Musik einen höheren Rang ein, und wieder anderen Gemeinden wird viel Einsatz abverlangt durch mehrere große gemeindeeigene Friedhöfe. Leicht neigen wir dazu, mit dem Satz: „Keiner kann alles,“ diesen Tatbestand in Ordnung zu finden. – Aber steht es wirklich so schlimm? Ich habe den Eindruck, wir dürften ein bißchen positiver von uns reden, als ich es soeben tat. Natürlich kann keiner alles; natürlich tut keiner alles. Aber wenn wir nicht nur fragen: Was wird tatsächlich getan?, sondern wenn wir nach der Wertigkeit und dem Ansehen unseres Tuns fragen, dürften die diakonischen Aktivitäten an erster (oder wenigstens mit an erster Stelle) stehen. Ich stelle mir vor, im Sonntagsblatt würde von zwei Gemeinden berichtet, die beide an einem sonnigen Sommer-Sonntag den Gottesdienst ausfallen ließen: die eine Gemeinde, weil alle Gemeinde-Glieder aufgerufen wurden, am Sonntag-Vormittag auf dem Friedhof Unkraut zu jäten; die andere, weil die Gemeinde-Glieder mit Rollstuhl-Fahrern einen Ausflug ins Grüne machten. Meinen Sie nicht auch: Die zweite Gemeinde kann mit wesentlich mehr Verständnis rechnen? Unkraut jäten – das kann man auch ein andermal, wird es heißen. Während im zweiten Fall vermutlich rascher gesagt wird, der Ausflug mit Behinderten sei im Grunde doch auch ein Gottesdienst. In die gleiche Richtung geht eine Umfrage von 1984: Bei der Frage, wozu man am ehesten Geld spenden würde, standen Altenheime, Behinderten-Arbeit und Ähnliches sehr weit vor der Renovierung kirchlicher Gebäude oder der Gemeinde-eigenen Orgel. Das scheint heute einfach klar zu sein: Mit dem Modell „musikalischer Affe“ haben wir nichts mehr zu tun. Diakonie wird wichtig genommen. Es wird kaum jemand behaupten, diakonisches Tun sei für einen Christen so wesensfremd wie das Trompete-Blasen für einen Affen. – Und wie ein musikalisch besonders begabter Schüler gelobt wird (vielleicht steht über ihn sogar eine Notiz in der Zeitung), so kann heutzutage eine diakonisch besonders engagierte Gemeinde von allen oder fast allen Seiten mit Lob und Kopf-nickender Anerkennung rechnen: Die machen das wirklich ganz prima! – „Hoffnung auf eine diakonische Kirche“ hieße in diesem Modell: ich hoffe, daß immer mehr Gemeinden ihr diakonisches Engagement verstärken, bis wir eines Tages sagen können: Nicht nur einzelne Gemeinden verstehen sich als diakonische Gemeinden, sondern unsere Gesamtkirche begreift sich als diakonische Kirche. Jeder Diakonie-Sonntag, jede Diakonie-Arbeitsgruppe auf einem Kirchentag (usw.) wäre vergleichbar mit einer Musik-Nachhilfe-Stunde für leicht unmusikalische Schüler, wäre also (ohne Bild) der Versuch, in Gemeinden, die in ihrem Glauben und in ihrem sonstigen Gemeindeleben ganz in Ordnung sind, nur bei der Diakonie hapert es ein bißchen, in diesen Gemeinden die Freude an der Diakonie zu wecken und zu stärken.

Mag sein, daß mancher von Ihnen dachte, mein Vortrag ziele genau in diese Richtung. Aber da müßte ich Sie  enttäuschen. Denn ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir das Thema „diakonische Kirche“ theologisch einigermaßen sauber angehen wollen, kann uns weder das Modell „musikalischer Affe“, noch das Modell „musikalischer Schüler“ weiterhelfen; vielmehr müssen wir streng im Modell „musikalischer Komponist“ denken. Für den Komponisten ist Musik nicht etwas Wesensfremdes wie für den Affen; es ist auch nicht etwas, was gelegentlich zutreffen kann, ein andermal aber auch nicht, wie beim Schüler; nein, der Komponist ist musikalisch, oder er kann kein Komponist sein. Entsprechendes gilt von der Kirche: sie ist diakonisch oder sie kann keine Kirche sein. Wenn sie nicht diakonisch ist, dann ist sie nicht etwa eine undiakonische Kirche, dann ist sie überhaupt keine Kirche. Eine undiakonische Kirche kann es genauso wenig geben wie einen unmusikalischen Komponisten. Entweder ist man Komponist, dann ist man selbstverständlich auch musikalisch, oder man ist beides nicht. Entweder ist man Kirche, dann ist man selbstverständlich auch diakonisch (also eine diakonische Kirche), oder man ist beides nicht. Wer also theologisch über die diakonische Kirche reden soll (und diese Aufgabe ist mir für heute gestellt worden), der muß über die Kirche reden.

Fürchten Sie bitte nicht, ich würde jetzt eine möglichst komplette „Lehre von der Kirche“ vor Ihnen entrollen. Stattdessen möchte ich ein paar Aspekte – wenn ich das richtig sehe: besonders wichtige Aspekte – benennen und versuchen, ihre diakonische Dimension freizulegen. Ich unterstreiche: ich möchte nicht auf die diakonischen Konsequenzen aufmerksam machen. Damit würde ich ja wieder voraussetzen, daß zentrale Aspekte der christlichen Kirche denkbar sind, ohne daß sie in sich schon etwas mit Diakonie zu tun haben; Diakonie wäre dann wieder etwas nur Hinzukommendes, eine praktische Folgerung, wäre bestenfalls eine Wesens-Äußerung der Kirche, gehörte aber nicht zum Wesen der Kirche selber. Nein, es geht mir nicht um das Aufzeigen der diakonischen Konsequenzen, sondern um das Freilegen der diakonischen Dimension: Jeder für eine „Lehre von der Kirche“ wichtige Aspekt hat bereits in sich mit Diakonie zu tun, nicht erst in seinen Folgerungen.

Das wird gewiß deutlicher, wenn ich es sofort an einem Beispiel festmache. Als ersten Aspekt einer „Lehre von der Kirche“ nenne ich das Bekenntnis, daß Kirche eine Schöpfung Gottes ist. Wer von Kirche redet, muß also von Gott reden, vom Gott der Bibel, also von dem Gott, dessen Tun ständig ein diakonisches Tun ist: Gott sortiert nicht, sondern schafft den Bund. Das beginnt bereits bei der Schöpfung: Gott schafft sich, obwohl er uns nicht nötig hätte, ein Gegenüber. Gott scheint vernarrt zu sein in das Miteinander: Er läßt uns sein „Du“, seinen Gesprächspartner, sein. Ja, Gottes Diakonie beginnt sogar noch früher: Der ewige dreieinige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, bilden schon in sich eine Gemeinschaft, ein Miteinander: Die drei sind beisammen, so sehr, daß wir sagen: die drei sind eins. „Diakonie“ als permanentes Miteinander-Sein ist also zunächst einmal zu entdecken als ein innertrinitarisches Geschehen. (Wenigstens in Klammern möchte ich die Professoren, die an den Universitäten das Fach Diakonik vertreten, fragen, warum sie den Kopf nicht höhertragen. Sie scheinen zuweilen darum bemüht, der Diakonie innerhalb der „Praktischen Theologie“ endlich den ihr zukommenden gleichberechtigten Platz zu erstreiten. Warum so bescheiden? Die Diakonik scheint mir die einzige theologische Fachrichtung zu sein, deren Gegenstand sich bis in das innertrinitarische Geschehen zurückführen läßt; das kann man weder von der Predigtlehre noch von der Seelsorge, weder von der Katechetik noch von der kirchlichen Verwaltung, weder von biblischer oder systematischer Theologie noch von der Kirchengeschichte sagen. Diakonie als das Beieinander-Sein von Unterschiedenen, als deren gegenseitige Ergänzung, als ihr Eins-Sein, hat seinen Ursprung in der ewigen Trinität selber. Diakonik dürfte sich also verstehen als die Königin aller theologischen Fachrichtungen. Aber das nur in klammern.) Wir sahen: Diakonie ist bereits ein innertrinitarisches Geschehen. – Aber weiter: Dem Sein Gottes, seinem Wesen, entspricht nun sein Tun: Diakonie ist eine Dimension der gesamten Heilsgeschichte. Von der Erschaffung der Welt war schon die Rede. Und wie sieht die Fortsetzung aus? Ständig wird spürbar: Gott will mit uns verbunden sein; er lädt uns ein, mit ihm verbunden zu sein. Das ist die Sünde des Menschen, daß er sich von Gott absondern, daß er sich gegen ihn behaupten will, daß er so sein möchte wie er; aber noch den aus dem Paradies Vertriebenen hält Gott die Treue; noch der Bruder-Mörder Kain steht unter seinem Schutz. Nach der Sintflut dann mutet sich Gott eine mißratene Menschheit als seinen Partner zu: Ich will keine Flut mehr kommen lassen, „denn“ (!!) der Mensch ist böse von Jugend auf. Von Abraham an ist der Bund eine immer wieder genannte und gelebte Größe. Und mag es aussehen, als sei Gott jetzt doch der Sortierende, ein Gott, der sich gegen die anderen Völker und nur für Israel entscheidet: von Anfang an sind die Völker mitgedacht. In Abraham sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Und erst recht die Propheten reden von der Zeit, da die Heiden mit hinzukommen. Besonders schön heißt es bei Sacharia (8,23): Zehn Heiden werden einen einzigen jüdischen Mann am Zipfel seines Gewandes festhalten: wir wollen mit euch gehen, denn wir haben erkannt, Gott ist mit euch. Dieses Dazugehören aller wird dann im Neuen Testament breit ausgestaltet. Nach Matthäus sind Heiden aus dem Osten die ersten, die den neugeborenen König anbeten. Und am Ende seines Evangeliums heißt es: Gehet hin, machet alle Völker zu meinen Jüngern. Das, was wir bei Matthäus einen horizontalen, geographischen Universalismus nennen können, dürfen wir bei Lukas als vertikalen, sozialen Universalismus bezeichnen: alle, auch die Armen und Verachteten, sind berufen. Bei ihm sind es die Hirten, die als erste zur Krippe finden. Später sitzt Jesus mit Zöllnern und Dirnen am gleichen Tisch; im Gleichnis wird dem heruntergekommenen, dem „verlorenen“, Sohn ein Fest ausgerichtet; in einem anderen Gleichnis werden Arme und Behinderte, Blinde und Gelähmte zu Gottes herrlichem Festmahl geladen; und unmittelbar vor seinem Sterben verspricht der am Kreuz Hängende einem Verbrecher: heute noch wirst du „mit mir“ im Paradiese sein („du mit mir“, das heißt: wir beide gemeinsam, der Verbrecher und der Messias). – Was typisch ist für Jesus, soll typisch sein für die Gemeinde, so sagt es Paulus: wir gehören zusammen, wir sollen uns nicht sortieren in Juden und Griechen, in Männer und Frauen, in Freie und Sklaven (ich möchte aktualisieren: in östliche und westliche Christen, in schwarze und weiße Christen, in nichtbehinderte und behinderte Christen), denn wir sind einer in Christus. Auch was Paulus über unsere ewige Hoffnung sagt, ist wieder geprägt von der „diakonischen Dimension“, also vom Mit-Sein: Dann werden wir (heißt es I Thess 4,17) bei dem Herrn sein allezeit (wir anfälligen, sterblichen Geschöpfe werden mit dem ewigen Gott zusammensein – „allezeit“, also verbindlich, verläßlich, ohne daß uns etwas trennen könnte). – Johannes scheint dieses Miteinander-Sein auf die Spitze zu treiben mit seiner Formulierung „eins sein“ (Joh 17): wie Gott Vater und Gott der Sohn „eins sind“, so sollen die Jünger „eins sein“ untereinander und auch mit Gott; Jesus, im Gebet zu seinem Vater: „ich in ihnen und du in mir, auf daß sie vollkommen eins seien“ (Vers 23). – „Hoffnung auf eine diakonische Kirche“, das könnte jetzt heißen: Ich hoffe auf eine Kirche, in der Diakonie nicht ein beliebiges Unternehmen ist wie etwa das Amt für Denkmal-würdige Kirchengebäude – man kann es haben, man ist aber auch ohne ein solches Amt im Vollsinn des Wortes Kirche; ich hoffe auf eine Kirche, die erkannt hat und ständig beherzigt: Diakonie ist eine der Grundvoraussetzungen von Kirche, Diakonie gehört zum Wesen Gottes, sie prägt von Anfang bis zum Ende Gottes große Heilsgeschichte, ohne Diakonie kann Kirche niemals Kirche sein.

Wenn ich jetzt auf einen zweiten Aspekt einer „Lehre von der Kirche“ zu sprechen komme, nämlich auf das Thema „Kirche als Kirche des Wortes“, dann könnte der eine oder andere von Ihnen geneigt sein zu denken: auch das noch!, was hat das mit Diakonie zu tun?, muß es nicht im Gegenteil Anliegen der Diakonie sein, die Kirche zu ermuntern, das Wort nicht gar so wichtig zu nehmen, sondern sich endlich aufs Tun zu besinnen? Ich behaupte aber allen Ernstes: Die Luther-Zeile: „Das Wort sie sollen lassen stahn!“, ist für eine diakonische Kirche von unüberbietbarer Wichtigkeit; ohne das Wort kann es keine diakonische Kirche geben. – Freilich: Wir müssen schon unterscheiden zwischen „Wort“ und „Wort“. „Kirche des Wortes“ meint in strengem Sinn: Kirche, die sich unbeirrbar an das Wort Gottes hält. Mit „Wort“ darf nicht alles gemeint sein, was bei uns Christen-Menschen tagtäglich „dem Gehege unserer Zähne entfleucht“ (um einmal homerisches Vokabular zu benutzen; also nicht alles, was wir von morgens bis abends reden): da gibt es bestimmt manch unnütze Diskussion und viel wohlklingende, vielleicht auch fromm-klingende, Quasselei. „Kirche des Wortes“ meint also nicht: Kirche der Vielredner, sondern: eine Kirche, die ständig und gehorsam („gehorsam“ hat mit „hören“ zu tun) herkommt von Gottes frohmachender und freimachender Botschaft. – Ich fürchte, an dieser Stelle müssen gerade wir „Diakoniker“ einsehen, daß wir oft recht töricht argumentieren. Wir unterscheiden zuweilen nicht mehr zwischen „Wort“ und „Wort“, halten uns an Goethes Satz: „Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endlich Taten sehn“, und raten unseren Gesprächspartnern, in der Kirche das „Wort“ nicht gar so wichtig zu nehmen. Wir merken nur selten, daß wir damit zweideutig reden. Wenn gemeint ist: Nehmt in der Kirche das menschliche Reden nicht so ernst, besonders dann nicht, wenn es nicht zu entsprechendem Tun frei macht und anspornt, dann ist damit etwas durchaus Richtiges gesagt (es hat allerdings mit dem Thema „Kirche als Kirche des Wortes“ kaum etwas zu tun); wenn wir aber mit dem Satz: „Nehmt das Wort nicht so wichtig“, meinen sollten: Nehmt Gottes Zusagen und seine Weisungen nicht so ernst, verlegt euch mehr auf das eigene Tun, dann freilich bringen wir damit die „diakonische Kirche“ in größte Gefahr. Wir proklamieren wieder die Kirche des Tuns, und das Wort Gottes dient uns allenfalls noch als Beleg, es verkommt zur Legitimation für unsere Taten. (Die Häufigkeit, in der neuerdings die Wörter „legitimieren“, „Legitimation“ -u.ä.- in der Literatur zur Diakonie auftauchen, scheint mir diese Denkrichtung deutlich anzuzeigen.) Stattdessen will das Wort Gottes Basis unseres Tuns sein, vielleicht sogar sein Inhalt. Wenigstens fällt mir auf, daß im Jakobus-Brief (1,22) sich nicht gegenüberstehen „Hörer des Wortes“ und „Täter“, sondern „Täter des Wortes“ und „Hörer“; daß „hören“ etwas mit „Wort“ zu tun hat, scheint selbstverständlich zu sein; unterstrichen wird, daß auch unser Tun ein „Tun des Wortes“ sein soll: „Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein.“ – Die kritische Anfrage an eine Kirche, die sich ein bißchen schwertut, sich selber als diakonische Kirche zu begreifen, darf also nicht in erster Linie heißen: Wo bleiben eure Taten? Vielmehr muß sie lauten: Wie ernst nehmt ihr eigentlich das Wort?, habt ihr überhaupt schon begriffen, welcher Sprengstoff darinsteckt (wenn Paulus von der „Kraft“ des Evangeliums redet, kann er das griechische Wort „dynamis“ benutzen, von dem das deutsche Fremdwort „Dynamit“ abgeleitet ist – wer das Evangelium für eine Schlummer-Rolle hält, der hat es gründlich mißverstanden)?, ist das Wort Gottes für euch ein gelegentlich zugelassener himmlischer Farb-Tupfer innerhalb eurer recht weltlichen Alltags-Philosophie und Alltags-Strategie, oder ist es (ich denke an die Frage 1 des Heidelberger Katechismus) tatsächlich eure Denk- und Wirk-, eure Lebens- und Sterbens-Basis – so sehr, daß ihr allem, was sonst euer Tun und Lassen bestimmen möchte, getrost den Abschied geben könnt?

Kirche als Kirche des Wortes – wenn ich das Gesagte nun konkretisieren möchte, stehe ich vor der Qual der Wahl: Welchen Begriff, welche Bibelstelle soll ich aus der Fülle der Möglichkeiten herausgreifen? Ich versuche es mit einem Vers, den jeder kennt: Jesus sagte einmal: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ (Mt 11,28). Dieser Vers ist schon fast zu sehr bekannt; man denkt leicht an ein Kalender-Blatt oder eine Wand-Verschönerung in einem Gemeindesaal. Lassen Sie es mich mit diesem Satz halten, wie ich es manchmal tue, wenn ich einen Bibelvers plastisch verstehen möchte: ich entwickele daraus eine kleine Geschichte. Also: Hier ist eine Gruppe von Menschen, vor uns in einiger Entfernung Jesus; er lädt uns ein: Kommet her zu mir alle. Und schon drehe ich mich um und will weggehen. Jesus fragt mich: Wohin willst du? Eben etwas holen. Was denn? Weiß ich noch nicht genau, vielleicht mein polizeiliches Führungs-Zeugnis. Wieso das? Du hast uns doch gerufen, und da dachte ich … . Ach was, sagt Jesus, dein Führungs-Zeugnis laß zu Hause. Naja, oder vielleicht mein Gesundheits-Zeugnis. Brauche ich auch nicht. Aber hör‘ mal, ich kann zwei theologische Examina mit Dokumenten belegen. Ja und?, sagt Jesus. Soll ich nicht die wenigstens holen? Deine Dokumente interessieren mich aber gar nicht. Aber du hast uns doch gerufen, und ich kann doch nicht einfach … . Warum denn nicht?, doch, doch, du kannst wohl so einfach …; du mußt sogar ganz ohne allen Klimbim kommen, wenn du mich nicht kränken willst; ich habe dich gerufen, so wie du bist, basta. – Erst jetzt wird mir klar, daß mein rechter Nachbar nicht weggehen wollte. Ich sage: Möchtest du nicht auch irgendetwas holen? Da lacht er mir prustend ins Gesicht, so daß ich seine Fusel-Fahne deutlich rieche: Sag ‚mal einem Tippel-Bruder, er soll seine Zeugnisse holen! Ach so, sage ich und frage meinen Nachbarn zur Linken: Und wie ist das mit dir? Ja, ich weiß nicht, stottert der kleinlaut vor sich hin; ich könnte dem Haus-Vater vielleicht sagen, er soll mir meine Akte geben; aber da steht drin, daß ich die Schule nur bis zur Klasse 4 geschafft habe; mit der Ausbildung, das hat auch nicht hingehauen; und daß ich oft unpünktlich bin, geklaut habe ich auch schon – meinst du, es wäre günstig, wenn ich die Akte hole? Ach so, sage ich noch einmal und höre, wie Jesus ruft: Wo bleibt ihr denn? „Ihr“ sagt Jesus; also machen „wir“, „wir drei“, uns „miteinander“ auf den Weg.

Wenn ich mir auf solche Weise das Jesus-Wort veranschauliche, ist es mir kein Wand-Schmuck mehr. Es wird sehr lebendig: Ich spüre eine unglaubliche Befreiung – ich darf kommen, wie ich bin; schwarze Weste oder weiße, Rollstuhl oder Olympia-Medaille, das spielt alles keine Rolle. Und gleichzeitig ist der Ruf Jesu für mich ein gewaltiger Schuß vor den Bug, ein Frontal-Angriff auf meinen Stolz – ich muß kommen, wie die anderen sind: schwarze Weste oder weiße, wissenschaftliche Examina oder geistige Behinderung, das spielt alles keine Rolle. Unglaublich ist das; jedenfalls etwas total anderes als ein paar Farbtupfer in unserer Alltags-Philosophie. Nein, dieser Philosophie wird sogar schroff widersprochen: Eure Sortierungen in Gute und Böse, in Junge und Alte, in Anpassungs-Fähige und Anpassungs-Unfähige, in Mutige und Zaghafte (und wie immer unsere Sortierungen heißen mögen, von denen auch wir Christen kaum loskommen) – eure Sortierungen machen euch doch nur kaputt. Hier wird uns der Friede Gottes angeboten, der höher ist als alle Vernunft. Unsere Alltags-Philosophie wird als Lüge demaskiert, und das hat die nicht so gerne. Eine Kirche des Wortes wird also auf Schritt und Tritt anecken. Ich schlage noch einmal Joh 17 auf: Jesus betet: „Ich habe ihnen gegeben dein Wort, und die Welt haßte sie“ (Vers 14); und Luther sagt gelegentlich, Gottes Wahrheit sei vor der Welt „eine Ketzerei“ (vgl. Bach Traum, S. 115 bzw. S. 104). – Haben Sie gemerkt? Ein bißchen habe ich gerade gemogelt. Was ich zum „anecken“ sagte, war nicht falsch, aber es war zu wenig. Ich tat so, als seien wir die Träger des Wortes, und wir ecken mit ihm in der Welt an. Das stimmt; aber das andere stimmt eben auch: Zunächst eckt das Wort Gottes bei uns an. Das tut mir, dem religiösen Menschen, weh, wenn mir gesagt wird: Die guten Werke gelten nichts; unser Tun ist umsonst, auch in dem besten Leben (vgl.: EKG. 239,3; 195,2; so haben wir es vor wenigen Tagen am Buß- und Bettag wieder gesungen). Ein kleinwenig möchte ich doch die Gnade Gottes auch verdienen können, und wenn es nur ein bis fünf Prozent sind. Ein bißchen besser als andere möchte ich nun doch sein. Das Wort Gottes ist also für mich eine Ketzerei; das mache ich mir nicht gerne klar, aber es ist nötig; denn gerade von hier aus wird noch einmal die diakonische Dimension des Wortes Gottes besonders deutlich. Das Wort Gottes nämlich verbindet uns miteinander, rückt uns zusammen: Die Könner, die Großen, die Starken in jeder Beziehung – sie werden heruntergeholt von ihrem Podest: Ist ja ganz hübsch, was ihr da zuwegebringt; aber leben könnt ihr nur von der Gnade Gottes. Und die Versager, die Kleinen, die Schwachen in jeder Beziehung – sie werden aufgerichtet: Mögt ihr traurig sein, mögt ihr für andere zum Spott werden, weil ihr keine Schätze vorzeigen könnt; leben könnt ihr sowieso nur von der Gnade; und die habt ihr. Oder, um es mit ein paar Zeilen aus einer Luther-Predigt von 1525 zu sagen: Das alles ist „gesagt, um diejenigen, die etwas sind, zu demütigen, damit sie sich auf nichts verlassen als auf die bloße Güte und Barmherzigkeit Gottes, und ebenso umgekehrt, damit diejenigen, die nichts sind, nicht verzagen, sondern sich ebenso auf Gottes Güte verlassen wie jene“ (D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Hg.: E.Mülhaupt, Bd. 2, S. 676). – Haben sie heute schon die Losung aus den Herrnhuter Losungen gelesen? Jes, 53,5: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ „Wir“, wir alle! Also nicht: „ich“ bin okay, weil ich so viel leiste; und der Schwache darf sich der Wunden Christi getrösten. Vielmehr: Wir alle sind heil durch die Wunden Christi, oder wir sind nicht heil. – „Hoffnung auf eine diakonische Kirche“ – das heißt nun: ich hoffe auf eine Kirche, in der wir uns miteinander bemühen, die Frohbotschaft Gottes gegen den Widerstand unseres Stolzes, gegen den Widerstand der Depressionen mancher „Klienten“ und gegen den Widerstand des Spottes von außen so radikal und so fröhlich durchzuhalten, daß man unter uns ein bißchen wenigstens erleben kann: bei denen gilt tatsächlich der Oberkirchenrat nicht mehr als die Putzfrau; der Vortrags-Redner nicht mehr als der Taxi-Fahrer, der mich vorhin trotz Wintereinbruch zwar verspätet, aber wohlbehalten hierherbrachte; der Strafrichter nicht mehr als der Straftäter; der Professor nicht mehr als der geistig Behinderte; der Sterbende nicht weniger als der gerade gesund zur Welt Gekommene.

Ich rufe einen weiteren Aspekt auf: „Kirche als Leib Christi“. Wie sich der Leib aus sehr verschiedenen Gliedern und Organen zusammensetzt, so verhält es sich auch mit der Gemeinde, dem „Leib Christi“ (I Kor 12 u.a.). Wir müssen es allerdings genauer sagen: „Die Glieder bilden den Leib“, oder: „Der Leib setzt sich aus den Gliedern zusammen“, das klingt, als seien zuerst die Glieder da, und indem sie sich miteinander verbinden, entsteht der Leib. Paulus scheint es gerade umgekehrt zu meinen: wir sind „in einen Leib hineingetauft“ worden. Also zuerst ist der Leib Christi; in ihn werden die einzelnen eingefügt durch die Taufe. Diese Sicht scheint mir in unserer stark vom Individualismus geprägten Zeit stärkste Beachtung zu verdienen. Ich zitiere George Casalis: „Jesus ist kein Prometheus und der Christ kein selbständiger Held: sie fügen sich vielmehr in einen Plan hinein, der für sie und für alle Menschen Freiheit und Heil bedeutet. … (Die) christliche Anthropologie müßte infolgedessen von Grund auf neu gedacht und formuliert werden: nicht die Person ist der Anfang, wohl aber die Gemeinschaft, nicht das Glied, sondern der Leib. Echter Mensch sein heißt, sich einem für die Gemeinschaft geltenden Plan einfügen“ (Göttinger Predigt-Meditationen, 1976/77, S. 93). Sieht es unter uns nicht dauernd anders aus, so nämlich, daß wir vom einzelnen ausgehen? Der Christ als „selbständiger Held“: ist das nicht doch unser aller heimliches Idealbild? Wer wollte kein Held sein: im Sport, in politischer Beziehung, Held der Arbeit oder auch heldenhafte Mutter? Und „Frömmigkeits-Held“ wäre ja wohl nur eine andere Bezeichnung für „Heiliger“. „Selbständig“ wollen wir erst recht sein; dauernd auf Hilfe angewiesen – nein, das wäre nichts für mich. Und dann beides miteinander: der „selbständige Held“ – wem schlüge da das Herz nicht höher? (Ich sage das ohne Ironie. Wohl jeder von uns hat solche Wünsche in sich.) Nur müssen wir sehen, daß die Bibel anders vom Menschen redet; wir müssen uns davor hüten, den „selbständigen Helden“ mit christlichem Denken harmonisch zu verbinden, wie es in dem kuriosen Wort-Salat zum Ausdruck kommt, den ich bei Goethe fand: „der Christliche deutsche Herkules“ (J.W.Goethe, Gesammelte Werke in 7 Bänden, hg.: B.v.Heiseler, Bd. 4, S. 169). – Ist das nicht exakt die Denkrichtung unserer (auch wir Christen sind darin eingeschlossen) Pädagogik und Förderung? Der Junge soll sich mal behaupten können – das heißt offenbar: er soll sich im Konkurrenz-Kampf mit anderen behaupten können; ja, er soll sich gegen andere behaupten können. Nur selten hört man als Zielvorstellung: Er soll lernen, in einer Gemeinschaft sich zurechtzufinden, in dieser Gemeinschaft Hilfen anzunehmen und in ihr auch brauchbar zu sein. Sehe ich zu schwarz, wenn ich meine, solche Sätze eigentlich nur aus dem Bereich der Therapie zu kennen? Damit wäre gesagt: Nur wenn es gar nicht mehr anders geht, wenn der Junge zu schwach ist, sich selbständig gegen andere durchzusetzen, nur dann hängen wir die Trauben niedriger, nur dann nehmen wir die Zeichen, die unsere Zielvorstellungen markieren, zurück (re=signieren heißt ja ursprünglich: die Zeichen zurückstecken), aber für den „Normal-Fall“ bleiben wir beim „Sich-Behaupten“. Wenn ich Paulus (und Casalis und andere) richtig verstehe, dann soll auch für den Normalfall gelten: „In der Gemeinschaft brauchbar sein“, so heißt die Zielvorstellung bei uns Christen. „Brauchbar sein in der Gemeinschaft“, das ist keine therapeutische Notlösung für die Grenzsituationen, sondern das bezeichnet für uns alle die einzig-richtige biblisch orientierte Marschrichtung, durch die unsere Gemeindekreise, Pfarrkonferenzen, Presbyteriums-Sitzungen, Team-Besprechungen (usw.) ein anderes Gepräge bekommen könnten, ein gleichzeitig biblisches und menschliches. – „Hoffnung auf eine diakonische Kirche“, das hieße jetzt: Ich hoffe auf eine Kirche, die eindeutig geprägt ist von einem solidarischen Miteinander; jeder braucht andere (der bei Paulus negativ besetzte Satz: „ich bedarf dein nicht“, vgl. I Kor 12,21, gilt dann auch bei uns nicht als Tugend, sondern als Sünde), und von jedem wird erwartet, jedem wird zugetraut: er ist brauchbar für andere. Kirche als Patienten-Kollektiv, Kirche als Leib Christi, in den die „Verlorenen“ nicht mühsam und nur großzügigerweise eingegliedert werden, sondern alle gehören von vornherein selbstverständlich dazu. Die Frage ist allerdings, ob wir jeden anerkennen, oder ob wir diesen und jenen, gottlos und asozial wie wir sein können, zuweilen vom Leibe Christi amputieren wollen.

Ich komme zum Schluß, möchte aber darauf hinweisen, daß mir natürlich bewußt ist, nicht alle wichtigen Aspekte einer „Lehre von der Kirche“ besprochen zu haben. Ein paar möchte ich eben noch erwähnen:

  • Kirche unter dem ersten Gebot. Beten wir nicht oft anderes an als den Gott der Bibel: vielleicht die Gesundheit, vielleicht die Ausgewogenheit nach allen Seiten, vielleicht den statistischen Bestand? „Wie stabil ist die Kirche?“, so wird auch offiziell gefragt. Ist das nicht, bei Licht betrachtet, eine zutiefst gottlose Frage? Der auferstandene Herr ist der Garant seiner Kirche. Wie stabil ist die Kirche?, – wir haben Sorgen!
     
  • Kirche der Brüder und Schwestern. Sind wir bereit, miteinander die „geringsten Brüder“ Jesu zu sein? Die sollen, können und dürfen wir nach Matth 25,31ff sein; fatalerweise wird dieser Text allerdings meistens so ausgelegt: wir (als die Brüder Jesu) sind zu den Notleidenden (als den geringsten Brüdern Jesu gesandt). Und damit mogeln wir uns, unter dem Stichwort „Bruder“, gewissermaßen in die Rolle eines Ober- oder Haupt-Bruder (vgl. dazu ausführlich: U.Bach, Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein, 1986, S. 73ff).
     
  • Schließlich: Kirche unter dem Kreuz. Eigentlich hatte ich unter diesem Begriff ausführlich auf Psalm 118,22 zu sprechen kommen wollen: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist durch Gottes Einwirken zum Eckstein geworden.“ Die ersten Christen haben diesen Satz auf Christus bezogen (der Gekreuzigte ist das Heil der Welt); dabei wiesen sie ausdrücklich darauf hin (I Petr 2,4-8): gerade diesem „Stein“ kommt für unseren Gemeindeaufbau eine (im buchstäblichen Sinne) fundamentale Bedeutung zu. Ist unsere Kirche, ist unser Glaube stetig geprägt von diesem Gott, der das von den Fachleuten als überzählig und wertlos, als unbrauchbar, unbildbar, als „Nichts“ oder „Ausschuß“, als nicht ausbildungsfähig Verworfene zu wichtiger Größe erheben kann? „Glauben“ wir, daß der alkoholkranke Friedhofsgärtner, wenn Gott es so will, die wichtigste Figur in unserer Gemeinde sein kann? – Leben und vermitteln wir die Zuversicht, die M.Luther in einer Auslegung dieses Verses so ausdrückt: „Gott will dich unverworfen haben und deine Verwerfer nicht kennen (!!), daß sie zu Grunde gehen und du ewig bleibest“ (Das schöne Confitemini; Aland-Ausgabe, Bd. 7, S. 353f)? Gott verwirft niemanden – mit einer einzigen Ausnahme: die Verwerfer verwirft er: diejenigen, die so tun, als seien sie etwas Besonderes, und darum könnten sie die „kleinen Leute“ verwerfen, die werden von Gott verworfen, nur sie. Zunächst gilt jedem: „Gott will dich unverworfen haben und deine Verwerfer nicht kennen, daß sie zu Grunde gehen und du ewig bleibest“ – oder ist so etwas auch in unseren Kirchen schon zur „Ketzerei“ geworden?

Ich wollte ja abbrechen! – Aufzeigen wollte ich heute, daß es unbedingt nötig ist, von der Kirche zu reden, wenn nach der diakonischen Kirche gefragt wird. Da darf uns nicht die ungeduldige Frage stören: Und wo bleiben die diakonischen Aktivitäten? Vorher – oder: zwischendurch immer wieder – muß gefragt werden: Wo, auf welchem Mutterboden, können diakonische Aktivitäten wachsen? Vom „Mutterboden“ also war in diesem Vortrag die Rede.

Noch einmal das Thema: „Hoffnung auf eine diakonische Kirche“, und noch einmal die Erinnerung an den „musikalischen Komponisten“. Ich hoffe auf eine Kirche, die sehr erstaunt dreinschaut, wenn man sie fragt: seid ihr eine diakonische Kirche? Wenn man einen Komponisten fragt: Sind Sie ein musikalischer Komponist?, wird er fast gekränkt sein: natürlich, ich bin doch Komponist. Ich hoffe auf eine Zeit, in der die Kirche genauso reagiert auf die Frage: Seid ihr diakonische Kirche? Klar, wir sind doch Kirche.

(nicht veröffentlicht)

Ist unsere Theologie noch zu retten?

Über Sinn und Unsinn theologischer Aussagen in der Diakonie

Es ist jetzt vierzig Jahre her, daß ich, noch Schüler, mein erstes theologisches Buch las: Karl Barths Grundriß der Dogmatik, aus Vaters Bücherschrank genommen. Damals schon packte mich Theologie, und sie hat mich bis heute nicht losgelassen. Ihre Faszination spürte ich besonders deutlich, als ich vor gut 25 Jahren Mitarbeiter in der Diakonie wurde. Denn ich merkte schnell, daß Diakonie theologisch stark unterernährt war: der barmherzige Samariter, die „geringsten Brüder“ und das Stichwort „Nächstenliebe“ – das darf doch nicht reichen! „Leib Christi“, „Haushalterschaft“, „Schöpfung“: große theologische Begriffe schrien geradezu danach, im Kontext von Diakonie neu durchbuchstabiert zu werden. Meine Vorstellung war: Diakonie muß mehr Theologie treiben. Anders gesagt, allgemeiner: Lange habe ich geglaubt, Kirche und Diakonie müsse es besser gehen, wenn beide mehr Theologie an sich heranließen. Und ebenso meinte ich: Kirche und Theologie müsse es besser gehen, wenn beide mehr Diakonie an sich heranließen. (In die Systematik würde jetzt passen: Theologie und Diakonie müsse es besser gehen, wenn beide mehr Kirche an sich heranließen – aber dieser Aspekt war nicht deutlich in meinem Blick.) Und genau diese damalige Sicht der Dinge scheint mir heute recht naiv gewesen zu sein: Wäre denn schon ein Zusammenrücken tatsächlich eine Hilfe? Ist wirklich „Theologie“ eine Größe, die es Kirche und Diakonie besser gehen lassen könnte? Und ist andererseits „Diakonie“ eine Größe, durch die Kirche und Theologie genesen könnten? Um meine Denk-Richtung deutlich zu machen, überzeichne ich einmal bewußt und sage: Wenn Theologie für Kirche und Diakonie eine Hilfe sein soll, muß sie sich zuvor gründlich ändern. Ganz kraß: Jedes „mehr“ an Theologie (an dieser Theologie; an derzeitiger Theologie) brächte Kirche und Diakonie den nächsten Fieber-Schub. Ebenso müßte ehrlich gesagt werden (davon allerdings soll im folgenden nicht weiter die Rede sein): Jedes „mehr“ an Diakonie (an dieser Diakonie, an derzeitiger Diakonie) brächte Kirche und Theologie näher an den Abgrund; das aber hieße: Soll Kirche einigermaßen Kirche bleiben, soll Theologie ein bißchen ihren Namen verdienen, müßte man beide davor warnen, mit der heutigen Diakonie anzubändeln. Doch zurück zu meiner Theologie-Kritik: Wenn Kirche und Diakonie nicht total ruiniert werden sollen, müßte man sie warnen, sich von der heutzutage beklatschten Theologie weiter infizieren zu lassen. – Ohne Zweifel habe ich jetzt übertrieben. Mit dem bisher Gesagten wollte ich nur die Richtung meiner Gedanken verdeutlichen; natürlich bin ich da über’s Ziel hinausgeschossen; ich muß also differenzieren. Was ich tatsächlich meine, ist dieses: Theologie hat es heute unbedingt nötig, mutig einen dritten Schritt zu tun, nachdem sie unter Kämpfen und Krämpfen in den letzten hundert Jahren gelernt hat, zwei andere wichtige Schritte zu vollziehen. Genauer: Theologie hat bereits begriffen, daß sie lange Zeit politisch und sozial eine falsche Koalition eingegangen war (Gott will das Rechte – Thron und Altar; und: Reichtum ist Zeichen des göttlichen Wohlgefallens – ich hörte neulich von einer kirchlichen Gruppierung, die zwei Gründe für den Ausschluß kannte: Ehescheidung und Bankrott!). Inzwischen haben wir einigermaßen gelernt, daß (politisch) Christus nicht gegen die Kommunisten gestorben ist (Gust. Heinemann vor Jahren im Bundestag), und daß (sozial) Christus der Bruder der Armen ist (Befreiungstheologen, aber nicht nur sie). Heute müssen wir sogar aufpassen, daß wir nicht bei den gegenteiligen, ebenso falschen Koalitionen landen, als sei Christus links, als sei Armut schon die „halbe Miete“, um in den Himmel zu kommen. – Nun zu meiner Kritik an der heutigen Theologie: Ich behaupte: Was wir im politischen und im sozialen Bereich gelernt haben, übersahen wir bisher fast völlig im vitalen Bereich: Da schwebt uns weiterhin naiv die Koalition Gottes mit „Kraft“, „Gesundheit“, „Selbständigkeit“, „Energie“, „Schönheit“ usw. vor. Um mit Johannes Degen zu sprechen: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß wir einen „Gott der Menschen ohne Behinderung“ anbeten, daß dieser Gott ein Götze ist und daß wir an der „Demontage“ dieses Götzen arbeiten müssen (J.Degen, Diakonie im Widerspruch, 1985, S. 41f). An dieser Demontage zu arbeiten, erfordert Durchhalte-Vermögen, weil man sich nämlich dabei rasch den Vorwurf einhandelt, man verherrliche das Leiden. Das wäre natürlich Humbug; denn wie es keine Christus-Koalition mit „links“ und „arm“ gibt, so auch keine mit „behindert“. Wie Christus quer steht zu Mann/Frau, Sklave/Freier (vgl. Gal 3,28 usw.), so auch zu arisch/jüdisch, gesund/krank, rechts/links, reich/arm und anderen Alternativen, die uns oft arg wichtig sind. Mir macht es allerdings Schrecken, wenn ich sehe, wie naiv auch bekannte Theologen die Koalition Gottes mit der Gesundheit voraussetzen bzw. sie theologisch massiv unterfuttern. So behauptet Manfred Josuttis unter (fälschlicher!) Berufung auf Karl Barth, der Wille zur Gesundheit stelle einen Gehorsamsakt gegen das erste Gebot dar (M.Josuttis, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, 1974, 4. Aufl. 1988, S.131); damit wird ausgesagt: Gesundheit ist nicht nur eine gute Gabe Gottes, die wir ehren und achten sollen wie die Eltern (4. Gebot), die Ehe (6. Gebot) usw.; sondern in ihr geht es ums Ganze: wer die Gesundheit antastet, tastet Gott an; wer sie nicht ernst nimmt, treibt Götzendienst. Noch anders: Das bekannte vulgär-religiöse „Hauptsache gesund!“ unserer Geburtstags- und Neujahrs-Begrüßungen wird hier göttlich geadelt, es wird Gott selbst gewissermaßen in den Mund gelegt. Ausführlich (ich kann das jetzt nur andeuten; vgl. hierzu: U.Bach, Heilende Gemeinde?, 1988) müßte nun die Rede sein von einem Sprachgebrauch, der sich auch in Veröffentlichungen aus dem Bereich der Diakonie findet, nach dem Heil und Heilung so eng zusammengehören, daß Heilung ein Teil des Heils wird, das Gott uns Menschen zugedacht hat. Von der Bibel her ist das eine glatte Ketzerei, denn in der Schrift wird auch dem Menschen, der nicht geheilt wird, Gottes ganzes Heil zugesagt (z.B.: II Kor 12,9). Ein weiteres Beispiel möchte ich breiter darstellen; es ist bisher das letzte, das ich kennenlernte. Es hat zunächst mit Diakonie gar nichts zu tun, da es (scheinbar!) nur um zentral-theologische Fragen geht. Jeder, der lesen gelernt hat, merkt aber rasch, daß hier sofort diakonische Thematik mit angesprochen ist. Für die nicht-theologischen Leser muß ich knapp folgendes vorausschicken: In der Theologie wird unterschieden zwischen dem „offenbaren“ Gott (Gott, wie er sich uns in Christus geoffenbart hat; Theologen sagen: „deus revelatus“; was Gott in der Christus-Offenbarung tut, also unsere Rettung, seine Liebe zu uns, ist sein eigentliches Tun, lateinisch: „opus proprium“) und auf der anderen Seite dem „verborgenen“ Gott (Gott außerhalb der Christus-Offenbarung; Theologen sagen: „deus absconditus“; sein Tun ist unverständlich, ja sogar un-eigentlich, fremd, lateinisch: „opus alienum“). Diese Begrifflichkeit kann etwa herangezogen werden, wenn von Zachäus und Judas die Rede ist: Christus zeigte (offenbarte) sich dem Zöllner Zachäus so, daß der an ihn glauben konnte, daß ihm das „Heil widerfuhr“ (Lukas 19,9); aber wie sieht es mit Judas aus? Mußte der Jesus verraten? Konnte Gott das nicht verhindern – oder wollte er das nicht verhindern? Hier soll nun gesagt sein: Auch dieses Geschehen ist nicht außerhalb der göttlichen Herrschaft, aber es ist uns Menschen absolut „verborgen“ und „fremd“; wir können es nicht verstehen, nicht begründen, nicht nachrechnen. – Außerordentlich wichtig ist es, wenn man diese Begrifflichkeit benutzt, sie sauber zu benutzen; das heißt: streng durchzuhalten, daß es die göttliche Offenbarung wirklich nur in Christus gibt, und daß alles andere (das was uns paßt, und was uns nicht paßt; was wir meinen, verstehen zu können, und was wir „überhaupt nicht mehr verstehen“) auf die Seite des „verborgenen Gottes“ gehört. H.J.Iwand schrieb in seinen „Erläuterungen“ zu Luthers „De servo arbitrio“ (dt.: Vom unfreien Willen) (Münchener Luther-Ausgabe, 1.Band der Ergänzungsreihe, S. 260), auf die Seite des verborgenen Gottes gehöre Gottes gesamtes „Wirken in Natur und Geschichte…, in allem, was unter der Sonne geschieht“; also nicht nur das Tausende hinraffende Erdbeben, sondern auch der herrlichste Sonnenuntergang im Urlaub, nicht nur -ich nähere mich dem Thema der Diakonie- die Vierzigjährige, die vom Krebs scheinbar sinnlos und offenkundig qualvoll zerstört wird, sondern auch die Neunzigjährige, die, ohne je ernstlich krank gewesen zu sein, lebenssatt für immer „einschläft“: Warum Gott dieses und das tut, warum er dem einen Menschen dieses und dem anderen etwas ganz anderes zuweist, das wissen wir nicht; es ist uns total verborgen. Gesagt, „offenbart“ ist uns nur: Gott ist uns allen gnädig. Nun aber endlich zum angekündigten schlimmen Beispiel! Im April-Heft dieses Jahrganges der Zeitschrift „Pastoral-Theologie“ findet sich auf Seite 180 folgender Satz: Luther arbeitet „… mit der Unterscheidung zwischen dem in Christus offenbaren Gott und dem verborgenen Gott, dem opus proprium (Vergebung, Erbarmen, Heilung) und opus alienum (Tyrannei, Krankheit, Tod) …“ Hier wird die oben erklärte Begrifflichkeit benutzt, aber (was die beiden Klammern betrifft) in keiner Weise sauber durchgehalten. Jetzt wird nämlich behauptet: Auf die Seite des in Christus offenbaren Gottes, in sein „eigentliches“ Tun, gehört nicht nur die Vergebung, mein Heil, die mir zugesprochene Gnade, sondern ebenso auch mein Gesundsein; daß ich sehen, denken und hören kann, und daß ich durch Christus Gottes Kind bin (I Joh 3,1): beides gehört angeblich miteinander in das für Gott typische Gnaden-Handeln. Alle Krankheit gehört (mit Gottes Zorn und Gerichts-Handeln; das steht nicht ausdrücklich da, aber das weiß jeder Theologie-Student, daß beides zum „opus alienum“ gehört) auf die Seite des verborgenen Gottes; was da geschieht, ist ein „fremdes“ Tun Gottes. Was in den beiden Klammern dieses Zitats geschieht, ist geistliche Stigmatisierung im Exzeß! Der Kranke ist nicht nur schlechter dran als der Gesunde, sondern er hat auch geistlich andere Karten, schlechtere, auf der Hand – die Karten, an die wir bei der Sintflut denken und beim Verräter Judas: gewiß war Gott auch da „irgendwie“ der Handelnde, aber wirklich nur „irgendwie“; „richtig“, direkt, eigentlich, sein wirkliches Gesicht zeigend (offenbarend) handelte Gott in Jesus Christus und da, wo er Menschen gesund sein läßt. Nicht etwa nur unsere dummen Vorurteile behaupten, Kranke und Behinderte seien „anders“, irgendwie weniger; nein, nein: angeblich auch von Gott her ist der Unterschied zwischen einem Kranken und einem Gesunden zu verstehen als der Unterschied zwischen einem Menschen, dem Gott zürnt, den er straft, und einem Menschen, dem er seine Liebe und Gnade schenkt. – Ich wüßte nicht, daß in Südafrika Apartheids-Theologen den Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen theologisch ähnlich fundamental festzurren, wie es hier mit dem Unterschied zwischen gesunden und kranken Menschen geschieht. Jedenfalls müßte ich den Begriff „theologischer Sozial-Rassismus“ heute erfinden, wenn er mir nicht schon vor sechs Jahren in den Sinn gekommen wäre (U.Bach, Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein, 1986, S. 27 und 135). Selbstverständlich behaupte ich nicht zu wissen, warum kranke Menschen krank sind; der Sinn der Krankheit ist niemandem von uns „offenbart“ worden. Ich bestreite aber, daß irgendjemand begründen und verstehen kann, warum gesunde Menschen gesund sind; auch dieses ist uns nicht offenbart worden. Anders gesagt: Ich widerspreche nicht, wenn ein Theologe, wie es in dem genannten Zitat geschieht, die Krankheit auf die Seite des „opus alienum“ (des fremden Tuns Gottes) bringt; ich protestiere aber, wenn er die Gesundheit auf der Seite des „opus proprium“ abbucht (da, wo alles zusammengestellt wird, worin Gott sein wirkliches Gesicht zeigt). Noch anders gesagt: Solidarität (der Gegenbegriff zum theologischen Sozial-Rassismus) ist nicht möglich auf der Ebene der Wissenden, auf der Ebene der Offenbarung (so als tue Gott uns auch im Bereich des Vitalen seinen Willen kund; so als könnten wir die mit Gesundheit und Krankheit zusammenhängenden Dinge verstehen), sondern nur auf der Ebene der an der Verworrenheit unserer Welt Herum-Rätselnden: Gott und sein Tun und seine Absichten sind uns „verborgen“, nicht was seine uns in Christus geschenkte Gnade angeht, wohl aber was die Frage betrifft, warum es manchem unter uns gesundheitlich so viel besser (bzw. schlechter) geht als vielen anderen Menschen. Ich komme zum Ausgangspunkt zurück: Theologie lernte bereits um, was links/rechts und was reich/arm angeht; sie muß allerdings noch umlernen im Blick auf gesund/krank usw. Wie sehr dieser Umlern-Prozeß noch aussteht, spürt jeder, der den Satz an sich heranläßt: ein schwerstbehindertes Kind ist genau so Gottes geliebtes und gutes Geschöpf wie das gesunde Kind der Nachbarn. Da sträubt sich manches in uns; und ich schlage vor, wir versetzen uns gedanklich in eine Diskussion um 1848, in der gerade jemand behauptet hat, Gott stehe dem König und seiner Polizei keinen Deut näher als den Randalierern (links und rechts hätten die gleiche Gottferne und die gleiche Gottnähe); die Mehrheit unserer theologischen Urgroßväter konnte offenbar gar nicht anders als theologisch empört zu sein; und trotzdem war der Satz richtig (so richtig, daß wir ihn uns bereits an den Schuhsohlen abgelaufen haben). Stellen wir uns vor: Jener gedachte Diskussions-Redner und seine Freunde hätten sich damals zum Schweigen bringen lassen, unsere Theologie sähe, beim Thema „links/rechts“ noch immer so schrecklich aus wie 1848. Entsprechend sage ich nun: Es ist im Blick auf Kranke, Behinderte und Altersschwache (also im Blick auf uns alle, sofern wir einmal mutig 10 bis 60 Jahre weiterdenken) absolut notwendig, daß unsere Theologie jetzt auch den genannten weiteren Umlern-Schritt vollzieht, und zwar nicht erst in wiederum anderthalb Jahrhunderten, sondern daß sie schon heute und morgen den Mut findet, Menschen, die im Vitalen sehr schwach sind, und Menschen, die im Vitalen sehr stark sind, als völlig gleichberechtigt zu erklären im Blick auf sämtliche theologischen Aussagen über uns Menschen. Andernfalls wären wir eine schlafende Kirche, unbrauchbar für die Aufgaben, die heute anstehen. Denn auch das läßt sich in der Parallele zu 1848 rasch erkennen: Wie damals, historisch wohl unbestritten, die deutsche Theologie rechtslastig war und darum jedes Aufmucken der Proletarier gegen die Obrigkeit als Ungehorsam Gott gegenüber interpretierte (und bekämpfte), wodurch die Arbeiter-Bewegung dem Atheismus geradezu in die Arme getrieben wurde (in den angelsächsischen Ländern war eine Koalition der dortigen Frei-Kirchen mit dem Staat nicht gegeben; vielmehr hielten diese Kirchen ihre Staats-kritischen Vorbehalte wach; darum waren sie fähig, für die den Staat kritisierenden Arbeiter als Freunde in Frage zu kommen; die dortige Arbeiter-Bewegung war infolgedessen nie so aggressiv atheistisch wie in Deutschland), so steht heute zu befürchten: Wenn unsere Theologie im Vital-Bereich weiterhin an der Koalition mit dem vulgär-religiösen „Hauptsache gesund!“ unbeirrt festhält, dann werden damit Behinderte, Kranke und Alte von Gott, Bibel und Kirche entfremdet und möglicherweise dem Atheismus oder irgendwelchen obskuren Religionen zugetrieben. Die Bibel nennt das: sie kämen zu Fall, ihnen, den kleinen Leuten, würde „Ärgernis gegeben“. Jesus sagte einmal: „Wer aber Ärgernis gibt einem dieser Kleinen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist“ (Mt 18,6). Hat unsere Theologie den Mühlstein verdient, oder ist sie noch zu retten? Quelle: Ulrich Bach, Ist unsere Theologie noch zu retten?. Über Sinn und Unsinn theologischer Aussagen in der Diakonie, in: Weltweite Hilfe, Zeitschrift des Diakonischen Werks in Hessen und Nassau, 39.Jg. Heft 3, S. 23-28

(wenige) Zitate

Haben wir die Größe, klein sein zu können und Kleinigkeiten ganz ernst zu nehmen?
(Ulrich Bach)

An manchen Tagen gelingt es mir (zugegeben: nicht immer), ehrlich zu sagen: Leute, mein Rollstuhl ist doch kein „Beinbruch“. Dieser Satz ist für meine Lebensbewältigung wichtig.
An manchen Tagen gelingt es mir (zugegeben: nicht immer), ehrlich zu sagen: Leute, mein Rollstuhl ist doch kein „Beinbruch“. Dieser Satz ist für meine Lebensbewältigung wichtig.
(Ulrich Bach)

Bei meinem alten Doppelsatz: „ich lebe nicht gern im Rollstuhl – aber im Rollstuhl lebe ich gern“, erfordert die zweite Hälfte, je älter ich werde, mein tägliches Training.
(Ulrich Bach)

Menschen / sind dir / – vielleicht – / anvertraut. / Nimm ihnen / das Gefühl, / sie seien dir / – bestimmt – / ausgeliefert.
(Ulrich Bach)

Mit mir kann Gott etwas anfangen, wenn er einem Schwerstbehinderten Gutes tun will, und mit dem Schwerstbehinderten kann Gott etwas anfangen, wenn er mir etwas Gutes tun will.
(Ulrich Bach)

Wir sind wer, denn Jesus ist für uns gestorben. Wir sind wer, denn Christus hat uns angenommen.
(Ulrich Bach)

Jesus Christus wurde uns allen in gleicher Gültigkeit Bruder und Freund; darum ist keiner von uns wichtiger als der Schwächste bei uns.
(Ulrich Bach)

Der Verachtete darf aufrecht gehen und seine Verächter fragen: Noch nie was von Golgatha und Ostern gehört? Das ist Kreuzes-Theologie!
(Ulrich Bach)

aus einer Bibelarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1991:
Glaubt den Großen nicht, daß auch Gott in Größe verliebt ist.
Glaubt den Starken nicht, daß sie auch bei Gott besonderes Ansehen genießen.
Glaubt den Erfolgreichen nicht, auch Gott könne mit Leistungsschwachen nichts anfangen.
Glaubt den Gesunden nicht, die Gesundheit sei ein Bestandteil des göttlichen Heils.
Glaubt den Reichen nicht, der Pfennig einer Witwe schlüge auch bei Gott nicht zu Buche.
Glaube den anderen nicht, du müßtest so sein wie Mirco oder wie Gertrud (so schnell, so hübsch, so gesund, so gescheit); habe den Mut, du zu sein; du bist ein gutes Geschöpf Gottes; darum bist du einmalig, wie Gertrud und Mirco auf ihre Weise ja auch; lebt nicht als Konkurrenten, lebt miteinander als Jesu bunte Gemeinde.
(Ulrich Bach)

Das Schema Rehabilitation setzt voraus, daß es eine Gesellschaft gibt von in irgendeinem Sinne Normalen; in dieses Gefüge sollen die eingegliedert oder wieder eingegliedert werden, die noch nicht (oder: die vorübergehend nicht) dazugehören. Leib Christi dagegen heißt: Die achtjährige Blinde ist Glied am Leibe Christi, sie muß es nicht erst werden. Auch die schwachen Glieder sind Glieder des Leibes Christi. Es fragt sich nur, ob wir uns entsprechend verhalten, ob wir als Leib Christi miteinander funktionieren.
(Ulrich Bach)

Jeder Mensch ist von Gott angenommen, ohne jede Vorleistung oder Bedingung. Das bedeutet einen Widerspruch zu dem in unserer Gesellschaft praktizierten Hast-du-was-bist-du-was und Kannst-du-was-bist-du-was.
(Ulrich Bach)

Typisch für Diakonie ist nicht das „Für“ – ich tu etwas für den anderen, der eine ist Subjekt, der andere Objekt (Diakonie als Einbahnstraße). Typisch für Diakonie ist vielmehr das „Mit“ – wir schlagen uns miteinander durch (Diakonie der Wechselseitigkeit), kurz: Diakonie ist die Lebensweise der Kirche (und nicht nur eine Lebens-Äußerung der Kirche).
(Ulrich Bach)

Auch der Stärkste ist schwach, unfertig, auf andere angewiesen: Das Defizitäre gehört in die Definition des Humanum.
(Ulrich Bach)

Eine wichtige These einer „Theologie nach Hadamar“ wäre so zu formulieren: Ob einer Mann ist oder Frau, blind oder sehend, schwarz oder weiß, dynamisch-aktiv oder desorientiert-pflegeabhängig, ist theologisch (von Gott her, im Blick auf Heil oder Unheil) absolut ohne Bedeutung. Von Bedeutung ist allein, daß das alles ohne Bedeutung ist. Das allerdings ist von Bedeutung; denn es entscheidet darüber, ob wir noch „dem Alten“ zugehören, oder ob es unter uns „neue Kreatur“ gibt: alle allzumal einer in Christus, die Familie Gottes, der Leib Christi.
(Ulrich Bach)

Thematischen Schwerpunkte

Kurz-Skizze über die thematischen Schwerpunkte der unter ”Bücher” und “Aufsätze” genannten Texte:

Was ich seit 1971 an Aufsätzen, Vorträgen usw. theologisch erarbeitete, wurzelt stark in meiner praktischen Mitarbeit in der großen Behinderteneinrichtung „Evangelische Stiftung Volmarstein“ (Wetter / Ruhr) mit: Klinik, Schulen, Berufsbildungswerk, Werkstatt für Behinderte, Kinder-, Jugend- und Erwachsenen-Internate, Altenheime. Etwa zehn Jahre lang hatte ich fast kritiklos als Arbeitsziel übernommen, körperbehinderte Menschen für einen Beruf und das Leben in unserer Gesellschaft fähig zu machen. 1971 drängten sich mir kritische Fragen auf: Was ist das eigentlich für eine Gesellschaft (und auch: für eine Kirche), in der sich behinderte Menschen zurechtfinden sollen? Ist das wirklich nur zu deren Vorteil?

Die Gesundheit steht auch theologisch bei uns so hoch im Kurs, daß wir von Apartheids-Theologie sprechen müssen: Bei uns ist nicht der Weiße, aber der Gesunde der eigentlich von Gott gemeinte Mensch. Wir kommen nicht los (wir sind Gefangene) vom: „Hast du was, bist du was,“ „Kannst du was, bist du was,“ und „Weißt du was, bist du was.“ Damit ist jeder, der weniger hat, kann oder weiß, „ein Mensch zweiter Wahl“. Im Haben, Wissen, Können meinen wir, von Gott Gesegnete zu sein; denn Gott gilt als der starke Helfer, der uns voranbringt. Gemeinde ist dann die Summe der Starken, die sich hoffentlich auch um Schwächere kümmern. Diese Schwächeren (Kranke, Behinderte …) sind damit aber die Ausnahmen: eine Art „soziale Nigger“, von Gott her gesehen offenbar regelwidrig, vielleicht himmlische Betriebsunfälle.

Aber weiter gedacht: Was besagt dieser Ansatz über diejenigen Behinderten, die beruflich nicht vermittelbar (oder gar: nicht ausbildungsfähig) sind? Bilden sie nicht endgültig so etwas wie den Ausschuß? Jedenfalls wird der selektierende Impuls unserer (auch diakonischen!) Rehabilitations-Bemühungen sichtbar. Wenn mir als damals knapp 25-jährigem Rollstuhlfahrer ein junger Mann sagte: An Ihrer Stelle hätte ich längst Schluß gemacht; wenn mir behinderte Berufsschüler erzählen, man habe im Blick auf sie gesagt: Bei Hitler hätte man so ‚was ja nicht leben lassen – dann bringen solche spontan geäußerten (Selbst)-Tötungsgedanken ans Licht, daß es in unserer Gesellschaft eine tief wurzelnde Euthanasie-Mentalität gibt.

Das alles heißt: Ob ein Mensch unter uns als Randfigur lebt oder nicht, das entscheidet sich nicht nur an dem, was er mitbringt an innerer Haltung und äußeren Möglichkeiten, das entscheidet sich zum großen Teil daran, was unter uns gedacht, geschrieben, gepredigt und geglaubt wird. An erschreckend vielen Stellen protestiert Theologie nicht gegen die Euthanasie-Mentalität und alles, was mit ihr zusammenhängt, sondern teilt (zuweilen auch: fördert) sie – gewiß oft, ohne zu merken, was sie da anrichtet. Klar aber ist: In einer Kirche, deren Theologie nicht freikommt vom heutigen „Hast-du-was,-bist-du-was“-Denken, sind bestimmte Gruppen (schärfer: viele unserer Schwestern und Brüder) sofort Randgruppen; nicht weil sie es von sich aus wären; nein, durch unser Denken, Reden und Sortieren werden sie dazu.

Auf dem Hintergrund dieser spaltenden, schismatischen Theologie muß biblische Botschaft  als befreiendes Kontra begriffen werden: Jeder Mensch ist okay (nicht nur der Leistungsstarke); Gott selber wurde ein hilfsbedürftiger Mensch (der Retter der Welt mußte zuerst einmal selber nach Ägypten gerettet werden). Von Jesus Christus her ist Stärke kein göttlicher Wert und Schwäche kein Makel; beides sind unterschiedliche (wenn auch von uns als krasse Gegensätze empfundene) Zuteilungen unseres uns allen gütigen Vaters.

Als Kirche sind wir Jesu Patientenkollektiv: Jeder kann mittun; jeder darf der sein, der er ist; keiner muß sich schämen, von anderen sich helfen zu lassen. Helfen ist nicht „mehr“; Sich-helfen-lassen-Müssen ist nicht „weniger“. Denn sich helfen lassen zu müssen ist genau so „göttlich“ (vgl. im vorigen Absatz: Flucht nach Ägypten), wie anderen helfen zu können. Gefragt sind wir allerdings, ob jeder mutig den Part übernimmt, der ihm von Gott im „Leibe Christi“ zugetraut und zugemutet wurde, und ob wir als Gemeinden miteinander teilend ausgleichen.

Das „Kannst-du-was-bist-du-was“ jedoch ist eine Gotteslästerung, die jede in der Gemeinde Jesu einzuübende Solidarität enorm erschwert. Denn unsere Gemeinschaft ist nun einmal nicht die Summe von Könnern, sondern das Miteinander der Vielen, von denen jeder mittun kann und jeder auf Hilfe angewiesen ist: das, was wir können, und das, was wir nicht können, alles gehört uns gemeinsam; und für uns miteinander wird’s, wenn wir alles zusammenlegen und gerecht teilen, schon reichen.

Das alles ist also nicht eine freundliche Sonder-Zuteilung für die bedauerlichen „Ausnahmen“, sondern eine kritische Befreiung für uns alle (es geht um eine Europäische Befreiungstheologie!), eine Befreiung, die (darum: „kritische Befreiung“) auch den Abschied von der flachen Freiheit bedeutet, die zum Beispiel darin erträumt wird, daß wir frei sind von Anfällen und anderen Krankheiten. Zur verläßlichen Freiheit dagegen gehört es aber gerade, daß wir frei werden auch von dem Zwang, gesund sein zu müssen, daß wir frei werden von der kopflos machenden Angst vor unheilbarer Krankheit (mag sein, beim gemeinsamen Einüben solcher Freiheit könnten behinderte Menschen hilfreich unsere Trainer sein). Solange wir von solchem Zwang nicht frei sind, sind wir auch nicht frei für einen ungezwungenen Umgang mit kranken und behinderten Menschen; auch jene ‚flache Freiheit‘ also ruiniert ein solidarisches Miteinander.

Natürlich ist es richtig und wichtig, das Leben zu lieben und gesund sein zu wollen. Wenn wir aber meinen, gesund sein zu müssen, da andernfalls unser Leben nicht mehr „lebenswert“ sei, wirkt sich der Wille zur Gesundheit lebensfeindlich aus: Weil wir bestimmte Lebenssituationen – wie unheilbare Krankheit – nicht mehr als auch für uns bestehende Möglichkeiten zulassen können, sind wir oft nicht mehr in der Lage, in schwer behinderten Menschen unsere gleichwertigen Mitmenschen zu sehen. Wir sprechen dann wie von Sachen; wir sagen: „dieses ganze Elend“.

So wurde mir bei meinem theologischen Arbeiten nach und nach deutlich, daß unsere Theologie seit langem so angelegt ist (nicht erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern schon seit der mittelalterlichen, auf Augustin zurückgehenden, Ham-Theorie, der zufolge behinderte Menschen als die im Sinne Gottes Verfluchten den Nichtbehinderten als den Gesegneten gegenüberstehen), daß sie denen in die Hand arbeitete, die das Töten schwerstbehinderter Menschen propagierten; damit sind Kirche und Theologie mitschuldig geworden an Hadamar und den anderen Euthanasie-Anstalten der Nazi-Zeit. Daß wir als Kirche heute nein sagen zur Euthanasie ist klar; aber es ist ein Skandal, daß unsere Theologie (zum Schaden nicht nur der behinderten, sondern auch der nichtbehinderten Christen, also zum Schaden der gesamten Kirche) nach wie vor in den alten Gleisen läuft. Was seit Jahrzehnten überfällig ist, müssen wir endlich anpacken: eine „Theologie nach Hadamar“. Wenige Aufsätze zum Thema veröffentlichte ich bereits. Ich arbeite weiter an dieser Thematik und hoffe, in den kommenden Jahren dabei noch zu ausführlicheren Ergebnissen zu kommen.

Ulrich Bach

Aufsätze in Auswahl

Schwerpunkte:

  • Behinderte Menschen als gleichberechtigte Subjekte in Kirche und Gesellschaft
    8/10/16/19/22/24/26
  • Diakonische Kirche
    2/5/9/15/21/23/25
  • Europäische Befreiungstheologie
    1/2/3/4/22
  • Kritische Stellungnahmen zur neuen Regelung des § 218
    6/7/11/12
  • Kritik an der Bioethik (bes. an der Bioethik-Konvention)
    13/14/17/18
  • Theologie nach Hadamar
    20/27/28

Aufsätze zu diesen Schwerpunkten:

  1. Wer hat Angst vor Frau N.?
    Ein Kapitelchen abendländischer Befreiungs-Theologie
    in: Diakonie (DW der EKiD), 4/1987, S. 198-202
     
  2. »Aber auf Dein Wort!«,
    Plädoyer für eine diakonische Kirche
    in: CONCILIUM, 24. Jg. 1988 (August), S. 330-335
     
  3. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal.5,1)
    – Thesen zu einer abendländischen Befreiungs-Theologie

    (ursprünglich: Evangelische Diakonenanstalt Martineum, Beilage zum Monatsbrief Oktober 1987),
    Junge Kirche 49, 1988, S.478ff
     
  4. Der fröhliche Abschied von Theodizee und Sinnfrage,
    Überlegungen zum Standort von Theologie

    in: Pastoraltheologie (Juni) 1989, S. 257-272
     
  5. Wie lange noch wollen wir fliehen?
    Einspruch gegen die unheilvolle These vom „Heilungs-Auftrag“

    in: Diakonie, 1993 (Heft 6), S.390-397
     
  6. Das Lebensrecht der kleinen Leute,
    Predigt am Sonntag Judika über Psalm 75,5-8

    in: JK, 55. Jg., 4/1994, S. 194ff
     
  7. Skandalöses Urteil,
    Reform des Paragraphen 218 diskriminiert Behinderte
    in Ev Komm, 27. Jg., Heft 4, 1994, S. 200f
     
  8. Die Bibel diakonisch lesen
    in: PuK, 133. Jg., Heft 2, 1994, S. 238-247
     
  9. Wir Behinderten und die christliche Gemeinde, Womit dürfen, womit müssen wir rechnen?
    in: Praktische Arbeitshilfe zur Woche für das Leben 1994,
    (Hg.: Deutsche Bischofskonferenz, Bonn; Rat der EKD, Hannover) Bonn, 1994, S. 11-19
     
  10. Mit behinderten Menschen das Evangelium neu entdecken,
    Seelsorgerliche Erfahrungen und theologische Anfragen

    in: BThZ, 11. Jg., Heft 1, 1994, S. 107-123
     
  11. Vorgeburtliche Diskriminierung
    Die Reform des Paragraphen 218 und die Euthanasie
    in: LM, 33. Jg., Juni 1994, S. 16 – 18
     
  12. „Unzumutbarkeit“ – ein unzumutbares Argument
    in: Caritas, 95. Jg., Heft 11, November 1994, S. 481-484
     
  13. Dem Teufel den kleinen Finger …
    Zur Präambel der Bioethik-Konvention des Europarates
    in: epd, Ausgabe für die kirchliche Presse, Evangelischer Pressedienst (Frankfurt/Main), Nr. 50 (14. Dezember 1994), S. 5f
     
  14. Die bioethische Relativierung der Menschenwürde
    in: JK, 56. Jg., 4/1995, S. 213-218
     
  15. „Diakonie zwischen Fußwaschung und Sozialmanagement“
    in: Hans Bachmann und Reinhard van Spankeren, Hg.,
    Diakonie: Geschichte von unten, Christliche Nächstenliebe und kirchliche Sozialarbeit in Westfalen, (Für Hans-Georg Schütz),
    (Luther-Verlag) Bielefeld 1995, S. 15 – 55
     
  16. ‚Heilende Gemeinde‘?, Theologische Anfragen an einen allgemeinen Trend
    in: WzM, 47. Jg., 1995, Heft 6, S. 349-362
     
  17. Droht uns die totale Medizin?, Ein Nicht-Fachmann versucht, die sogenannte Bioethik zu verstehen
    in: Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V. (Hg.),
    Der Rede wert, Beiträge aus der Arbeit der Diakonie, Stuttgart, o.J. (November 1995), S. 3-30
     
  18. Recht auf Leben, „Es gibt Menschen, die sind Dinge“
    in: DS, 48. Jg. Nr. 48/1995 (1. Dez. 1995), S. 25-26
     
  19. „Siehe, um Trost war mir sehr bange …“
    in: WzM, 48. Jg., 1996, (Heft 7) S. 410-422
    zur Seelsorge im Altenbereich: alte Menschen und Mitarbeiter
     
  20. Theologie nach Hadamar als Theologie der Befreiung,
    Nach-Denken über: Leonore Siegele-Wenschkewitz, Theologie nach Auschwitz als Theologie der Befreiung
    in: Michael Welker (Hg.), Brennpunkt Diakonie, Rudolf Weth zum 60. Geburtstag, Neukirchen 1997, S.165-183
     
  21. Wie predige ich Heilungsgeschichten?
    Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte
    in: DtPfrBl, 97. Jg., 1997, Heft 6 (Juni), S. 294-296
     
  22. Hauptsache gesund?
    Der Glaube an die Machbarkeit einer von Krankheit freien Welt
    in: Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V. (Hg.), Der Rede wert, Beiträge aus der Arbeit der Diakonie, Stuttgart, 1997
     
  23. Plädoyer für eine Diakonie ohne religiösen Mehrwert
    in: Arnd Götzelmann u.a. (Hg.), Diakonie der Versöhnung, Festschrift für Theodor Strohm (zum 65. Geburtstag),
    (Quell Verlag) Stuttgart 1998, S. 159-165
     
  24. Option für die Einheit des Gottes-Volkes,
    Kontext-theologische Überlegungen aus der Perspektive behinderter Menschen
    in: PthI, 18. Jg., Heft 1, Juni 1998, Folge 38, S. 81-100
     
  25. Gottes Gerechtigkeit – weshalb leiden Menschen?
    Vom richigen Umgang mit der Warum-Frage
    ,
    in: PTh 87. Jg., (Okt.) 1998, S. 410-424
     
  26. Hoffnung lernen bei den sogenannten „hoffnungslosen Fällen“
    Ein Fragment
    in: Ottmar Fuchs / Maria Widl (Hrsg.), Ein Haus der Hoffnung, Festschrift für Rolf Zerfaß,
    (Patmos-Verlag) Düsseldorf 1999, S. 12-24
     
  27. Eine Straßenbahn quietschte – aber in der Theologie stimmen auch manche Inhalte nicht
    Plädoyer gegen unser Apartheids-Denken
    in: Peter Biehl u.a.(Hg.), Schlüsselerfahrungen, Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) Band 16 (1999),
    (Neukirchener Verlag) Neukirchen, 2000, S. 115-121
     
  28. Theologie nach Hadamar als Aufgabe der heutigen Theologie
    in: Annebelle Pithan u.a. (Hg.), Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde,
    Gütersloh 2002, S. 112-118

Rezension Wolfgang Riewe

Aus: 378872160X
Unsere Kirche, Evangelische Wochenzeitung für Westfalen und Lippe (Herausgeber und Chefredakteur: Wolfgang Riewe), 47/2006

Eine heilsame Provokation

Lebensbilanz  Der Theologe Ulrich Bach wendet sich gegen ein Denken, das er auch in der Kirche heute von Stolz auf Gesundheit und Stärke ebenso wie Diskriminierung Leistungsschwacher geprägt sieht

VON WOLFGANG RIEWE

Die Fenster des Krankenhauszimmers stehen weit offen. Das Quietschen der Straßenbahn hat ihn geweckt. Es erinnert den jungen Mann daran, wie er noch vor kurzem in der Straßenbahn nach der Chorprobe mit seiner Freundin nach Hause fuhr. Doch jetzt liegt er hier drinnen in diesem Sechs-Betten-Zimmer. Die Ärzte hatten bei der Visite ein bedenkliches Gesicht gemacht, als seine Beinmuskeln nicht die geringste Regung zeigten. Ihre Diagnose traf ihn hart: Kinderlähmung. „Werde ich  je wieder zu denen da draußen gehören?“, schoss es ihm durch den Kopf.

Damals  spürte der 21-jährige  Theologiestudent Ulrich Bach erstmals den scharfen Riss, der die Kranken von den Gesunden trennt. Später machte er es immer wieder zum Thema, dass behinderte Menschen im Denken von Kirche und Gesellschaft so gut wie nicht vorkommen. Als Pastor, der selbst im Rollstuhl sitzen musste, setzte er sich mit aller Entschiedenheit dafür ein, die Kluft zwischen Behinderten und Nichtbehinderten zu überwinden. „Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz“ – lautet der Titel eines neu erschienenen Buches, in dem Ulrich Bach mehr als 50 Jahre später Kirche und Gesellschaft unangenehme Wahrheiten ins Stammbuch schreibt.

In seiner über 500 Seiten umfassenden Lebensbilanz fragt der heute 75-Jährige: „Wie reden wir in der Kirche eigentlich von Gott?“ Seine Kritik: „Die Stärke gilt so sehr als Kennzeichen von Gott, dass alle Schwachheit – etwa die Schwachheit behinderter Menschen – als Ausnahme gleichsam gegen die Spielregeln verstößt.“ Gesundheit und Stärke werden seiner Ansicht nach häufig dem in Jesus Christus sich offenbarenden, liebenden Gott zugeordnet, Krankheit und Behinderung dagegen dem verborgenen Gott. Ständig werde von Christus als dem großen Helfer gesprochen, seine Schwachheit auf dem Weg zum Kreuz dagegen unterschlagen. „Sich helfen zu lassen, ist aber genauso ‚göttlich’, wie anderen zu helfen“, betont er. Und er nennt es „Sozialrassismus“ oder sogar „Apartheids-Denken“, wenn nur derjenige Anerkennung findet, der etwas leisten kann.

Starker Tobak. Ulrich Bach will mit diesen krassen Worten aber niemanden kränken, sondern einen „heilsamen Schmerz“ erzeugen. Warum? Damit Kirche und Theologie die Situation behinderter Gemeindeglieder endlich umfassend zur Kenntnis nehmen. Seine zentrale These lautet: Ob ein Mensch Mann ist oder Frau, blind oder sehend, dynamisch aktiv oder pflegeabhängig – von Gott her ist das ohne Bedeutung. Die Gemeinde als „Leib Christi“ muss, so Bach, eine „Gegenwirklichkeit zum Apartheid-Denken“ bilden. Sie ist eine Gruppe sehr unterschiedlicher, aber völlig gleichwertiger Menschen.

„Bausteine einer Theologie nach Hadamar“ lautet der Untertitel dieses tiefgründigen Werkes, das stark durch die Biografie Bachs geprägt ist. In Hadamar, nördlich von Limburg, wurden 1941 über 10 000 behinderte oder psychisch kranke Menschen im Rahmen des Euthanasie-Programms ermordet.  Wie Auschwitz für den Holocaust ist Hadamar daher zu einem Symbolbegriff der Euthanasie geworden. Bach, der lange Jahre Pastor in den Orthopädischen Anstalten Volmarstein war, stellt mit seinem Buch die aufrüttelnde Frage, ob die heutige Gesellschaft – und auch die Kirche –wirklich mit dem Denken, das Hadamar ermöglichte, gebrochen hat.

Bach, der in Kierspe-Rönsahl (Kirchenkreis Lüdenscheid-Plettenberg) lebt, kämpft für den Abbau aller spaltenden Strukturen. Behinderte Menschen dürfen keineswegs zu „Objekten“ der helfenden „Subjekte“ werden. Er betont zu Recht den „einen Leib Christi“ und spricht von der Kirche als „Patienten-Kollektiv“. Gemeinsam mit behinderten Menschen das vom Leistungsdenken befreiende Evangelium zu entdecken, auf die Schwächsten zu hören, von ihnen zu lernen, ist Ulrich Bachs Anliegen: „Sind wir unterwegs zu den Menschen in Gefängniszellen und Krankenhäusern, in Selbsthilfe-Gruppen und Behinderten-Anstalten, nicht nur um zu helfen, sondern um hier Theologie zu lernen?“ Eine Frage, die schon Friedrich von Bodelschwingh 1906 im Blick auf die kranken Kinder von Bethel so beantwortete: „Hier sitzen die Professoren, die uns beibringen, was Evangelium und was Gotteskraft ist.“

Auch Ulrich Bach ist ein großer Lehrer für Kirche und Diakonie, dessen bleibendes Vermächtnis in diesem tiefgründigen theologischen Buch noch einmal auf den Punkt gebracht worden ist. Viele werden seine These, dass Stolz auf Gesundheit und Stärke ebenso wie Diskriminierung von Leistungsschwachen auch heute noch das Denken in Gesellschaft und Kirche bestimmen, als Provokation empfinden. Es ist aber wohl eine heilsame Provokation, zu der der Theologe im Rollstuhl herausfordert. „Wie kann sich die Kirche von dem Zeugnis leiten lassen, das Christus durch behinderte Menschen ablegt?“ Diese Frage wartet nach wie vor auf Antwort.

Ulrich Bach: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar. Neukirchener Verlag, 512 Seiten, 34,90 E.

Rezension Thomas Feld

Aus: sozialpsychiatrische informationen 1 / 2007
und in Wege zum Menschen 3 / 2007, S. 310f.378872160X

Bach U (2006) Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar.
Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag, 512 S.,
34,90 Euro

»Glaube ist gesund und erhält gesund« – so Hans Georg Wiedemann in den Predigstudien. Und das sollen wir nach Wiedemann aus den Wundergeschichten Jesu lernen: »All ihre Verkrümmungen, ihre Blindheit und Taubheit, ihre Lähmungen und ihr Ausgeschlossensein können aufhören, wenn sie sich zu Gott hin aufrichten lassen.« (Predigstudien IV/2 2005/2006, S. 190) Das ist gut gesagt und leicht geschrieben, steht in einer gängigen Auslegungsgeschichte und kann sich auf aktuelle Studien stürzen, die einen Zusammenhang zwischen gelungener religiöser Sinnfindung und psychosozialer Gesundheit nachweisen. Glaube ist gesund und erhält gesund! Was aber ist mit den unheilbar Blinden und Tauben, den chronisch Kranken, den aufgrund ihrer Behinderung von der Partizipation am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossenen Menschen? Was müssen sie denken, wenn sie solche Sätze lesen oder in einer Predigt hören? Ist mit ihrem Glauben etwas nicht in Ordnung? Gibt es vielleicht zwei Klassen von Christen, die gesunden, denen die volle Gnade Gottes gilt und die kranken, die so ganz nicht mitgemeint sein können, weil sie ja sonst gesund wären?

Ulrich Bach geht in seinem Buch solchen Fragen nach und deckt dabei eine jahrhundertealte Tradition auf, die das Zusammensein von gesunden und behinderten Menschen innerhalb der christlichen Kirchen bestimmt. Es ist eine Tradition der Apartheid, der theologisch untermauerten Trennung zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen, eine Tradition zudem, die bis in die Anfangsgründe christlicher Theologie hinabreicht. Schon Augustin behauptet eine Identität zwischen Behinderung und beschädigter, sündhafter Existenz. Behinderte Menschen werden von ihm mit den von Plinius beschriebenen sonderbaren Wesen und Völkern in Verbindung gebracht, die am Rande der damals bekannten Erde leben. Ihre Existenz leitet Augustin von dem in Genesis 9 verfluchten Sohn Noahs, Ham, ab und kommt zu der diffamierenden Aussage: behinderte stehen den nichtbehinderten Menschen gegenüber wie der einstmals verfluchte Ham seinen gesegneten Brüdern Sem und Japhet. Dieser Gründungsmythos wirkt mit seiner Gleichsetzung von Behinderung und beschädigter Existenz bis heute in der Formulierung verschiedener theologischer Topoi nach: den Auslegungen der Wundergeschichten des Neuen Testaments, der Formulierung der Theodizeefrage, der Gotteslehre, der Ekklesiologie, der Ethik, der Theologie des Kreuzes. Überall wird hier, so weist Bach nach, behinderten Menschen die vollgültige Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft streitig gemacht. Ein tiefer Riss durchzieht die Theologie. Er bestimmt den Umgang zwischen Behinderten und Nichtbehinderten in Gemeinde und Diakonie und  macht die Ermordung behinderter Menschen im Dritten Reich erst möglich. Heute, sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und lange nachdem das Nachdenken über eine Theologie nach Auschwitz begonnen hat, provoziert Bachs Buch dazu, diesen Riss endlich wahrzunehmen, zu diskutieren und Schritte zu seiner Überwindung zu gehen.

Bach geht solche Schritte. Hadamar, der Ort an dem zuerst behinderte Menschen während des Dritten Reichs systematisch ermordet wurden, ist dabei Symbol der tödlichen Folgen der Apartheid und Ausgangspunkt theologisch-diakonischen Nachdenkens, vor dem sich jede weitere Reflexion zu bewähren hat. Das Buch ist mit Herzblut geschrieben. Der Autor selbst hat den tiefen Riss zwischen Behinderten und Nichtbehinderten erfahren. Er erkrankte während der ersten Semester seines Theologiestudiums an Kinderlähmung und ist seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen. Über viele Jahre hat er in der diakonischen Anstalt Volmarstein als Seelsorger gearbeitet. Diese Erfahrungen fließen in sein Buch auf vielfältige Weise ein. Es ist dadurch ein lebendiges, ein reichhaltiges, ein provozierendes Buch. Es enthält Erfahrungsberichte, gibt Vorträge wieder, enthält sorgfältige Textauslegungen, Appelle, theologische Reflexionen.

Es ist ein vielschichtiges, buntes Buch, ein Buch von außerordentlichem Gewicht, dem viele Leser zu wünschen sind. Es ist nur leider sehr umfangreich, voller Wiederholungen und langatmiger Passagen. Ich wünschte mir eine straffende Überarbeitung. Vielleicht verlangt Bachs Buch aber auch die Freiheit zu einer nicht zu sehr an üblichen Diskursgewohnheiten geschulten Lektüre, bei der man dann auch mit den für mich spannendsten, jedoch ganz am Schluss platzierten Kapiteln beginnen kann: Bachs Auslegungen der beiden ersten Kapitel  des Markusevangeliums.

Noch eine Anmerkung: dass Hans Georg Wiedemann, und vielleicht viele Pfarrer mit ihm, so leicht von einer Gleichsetzung von Glaube und Gesundheit sprechen können, hängt  vielleicht auch damit zusammen, dass unter ihren Kanzeln so wenig Taube, Blinde und Gelähmte zu finden sind. Auch dies eine Folge der von Bach beschriebenen Apartheid und ihrer institutionellen Folgen. Das habe ich schließlich in Bachs Buch vermisst: die Kritik an einer Diakonie, die ihren Stolz in der Unterhaltung großer und größter Unternehmen sieht, und sich bis heute schwer tut, die Forderungen der siebziger Jahre nach Auflösung der abgesonderten Lebensbereiche für behinderte Menschen und die Ermöglichung ihrer Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen.

Pfr. Thomas Feld
33330 Gütersloh

Rezension Klaus Eberl

Aus: 378872160X
Zeitzeichen 5/2007

Ebenerdig denken

Eine Behinderung ist gute Schöpfung Gottes

Ulrich Bach: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz.
Neukirchener Verlag, Neukirchen 2006,
512 Seiten, Euro 34,90.

Apartheidsdenken kennzeichnet unsere Kirche und Gesellschaft, ein Riss zwischen Nichtbehinderten und Behinderten, Gesunden und Kranken, Starken und Schwachen.

Ulrich Bach, selbst behindert und ehemaliger Pastor der Volmarsteiner Anstalten, möchte eine Gegenwirklichkeit erkennbar machen. Mit einem Paukenschlag setzen seine biographischen und theologischen Bausteine ein: „Gott will, dass dieses (behinderte) Leben mein Leben ist!“ Damit ist der Takt vorgegeben. Krankheit und Behinderung gehören zur guten (!) Schöpfung. Sie sind keine Panne Gottes, sondern Realitäten innerhalb eines „Patientenkollektivs“, dem alle Menschen angehören. Die Art und Weise, wie heute Leistung und Gesundheit vergötzt werden, ist dagegen ein Zeichen gottfeindlicher Versklavung.

Hadamar, die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, wird zum Symbol für eine Euthanasie-Mentalität, die auch nach ‚945 Nährboden für eine Theologie ist, die das Defizitäre aus der Definition des Humanum streicht. Eine Welt, in der Krankheit, Schwäche und Tod ausgeklammert werden, in der jeder und jede zum „Quasi-Gott“ mutiert, kann weder für Menschen mit Behinderungen noch für andere eine Heimat sein. Jede naiv-selbstverständlich gelebte Stärke kann plötzlich zerbrechen. Deshalb geht es Ulrich Bach nicht um eine Sondertheologie, es geht ums Ganze des Glaubens.

Methodisch bewegt sich sein kontextueller Entwurf vom Nachdenken über Menschen mit Behinderungen zum Gespräch mit ihnen und zur Theologie durch sie. So entsteht ein ebenerdiger Diskurs, eine Reflexion ohne Denkbarrieren.

Vehement nimmt Bach gegen das Vorurteil Stellung, Jesus bekämpfe Krankheit und Behinderung als das Böse. Die Exegese der markinischen Heilungsgeschichten zeige, dass zwischen Krankheit und Besessenheit unterschieden werden müsse. Damit werde auch einer vorschnellen Identifizierung von Heil und Heilung der Boden entzogen. Im Blick auf das Reich Gottes sei es völlig egal, ob jemand gesund ist oder nicht.

Nur wenn die dunklen Seiten Gottes zugelassen werden, können Menschen mit Behinderungen ihre Situation als Gabe und Aufgabe annehmen. Die Theodizee-Frage bleibt unbeantwortet. Bach weist darauf hin, dass auch Jesus hilfsbedürftig gewesen sei. Er habe sich auf die Rolle des Opfers fixieren lassen – ein Nichts, ein Verlierer. Dennoch gehe vom Kreuz die befreiende Frohbotschaft aus: Gottes Ja gelte jedem Menschen!

Bei Bach keimt eine Spielart abendländischer Befreiungstheologie auf. Wie Reichtum und Armut einen gesellschaftlichen Riss markieren, so deckt seine „Theologie nach Hadamar“ im Bereich von Behinderung und Krankheit selektierende Tendenzen auf und trägt zu ihrer Überwindung bei. Massiv kritisiert Bach die „Praktische Ethik“ Peter Singers und bioethische Weltanschauungen, die nicht jedem Menschen gleiche Würde und gleiches Lebensrecht zumessen.

Das Alterswerk des inzwischen im bergischen Rönsahl lebenden Theologen und Diakonikers versteht sich nicht als „Vermächtnis“, sondern als ein „ziemlicher Brocken“, der zu einem neuen Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen provozieren will. Welche praktischen Schritte nötig sind, um aus seinen theologischen Bausteinen ein „ebenerdiges“ Lebens- und Glaubensgebäude entstehen zu lassen, bleibt offen. Integrative Bildungsansätze in Kindertagesstätten und Schulen sowie neue Formen gemeinschaftlichen Wohnens und die Auflösung der traditionellen Anstalten könnten Bachs Theologie nach Hadamar konkrete Konturen verleihen. Denn ohne die Schwächsten ist weder die Kirche noch die Gesellschaft, in der wir leben, ganz.

Klaus Eberl