Kurz-Skizze über die thematischen Schwerpunkte der unter ”Bücher” und “Aufsätze” genannten Texte:
Was ich seit 1971 an Aufsätzen, Vorträgen usw. theologisch erarbeitete, wurzelt stark in meiner praktischen Mitarbeit in der großen Behinderteneinrichtung „Evangelische Stiftung Volmarstein“ (Wetter / Ruhr) mit: Klinik, Schulen, Berufsbildungswerk, Werkstatt für Behinderte, Kinder-, Jugend- und Erwachsenen-Internate, Altenheime. Etwa zehn Jahre lang hatte ich fast kritiklos als Arbeitsziel übernommen, körperbehinderte Menschen für einen Beruf und das Leben in unserer Gesellschaft fähig zu machen. 1971 drängten sich mir kritische Fragen auf: Was ist das eigentlich für eine Gesellschaft (und auch: für eine Kirche), in der sich behinderte Menschen zurechtfinden sollen? Ist das wirklich nur zu deren Vorteil?
Die Gesundheit steht auch theologisch bei uns so hoch im Kurs, daß wir von Apartheids-Theologie sprechen müssen: Bei uns ist nicht der Weiße, aber der Gesunde der eigentlich von Gott gemeinte Mensch. Wir kommen nicht los (wir sind Gefangene) vom: „Hast du was, bist du was,“ „Kannst du was, bist du was,“ und „Weißt du was, bist du was.“ Damit ist jeder, der weniger hat, kann oder weiß, „ein Mensch zweiter Wahl“. Im Haben, Wissen, Können meinen wir, von Gott Gesegnete zu sein; denn Gott gilt als der starke Helfer, der uns voranbringt. Gemeinde ist dann die Summe der Starken, die sich hoffentlich auch um Schwächere kümmern. Diese Schwächeren (Kranke, Behinderte …) sind damit aber die Ausnahmen: eine Art „soziale Nigger“, von Gott her gesehen offenbar regelwidrig, vielleicht himmlische Betriebsunfälle.
Aber weiter gedacht: Was besagt dieser Ansatz über diejenigen Behinderten, die beruflich nicht vermittelbar (oder gar: nicht ausbildungsfähig) sind? Bilden sie nicht endgültig so etwas wie den Ausschuß? Jedenfalls wird der selektierende Impuls unserer (auch diakonischen!) Rehabilitations-Bemühungen sichtbar. Wenn mir als damals knapp 25-jährigem Rollstuhlfahrer ein junger Mann sagte: An Ihrer Stelle hätte ich längst Schluß gemacht; wenn mir behinderte Berufsschüler erzählen, man habe im Blick auf sie gesagt: Bei Hitler hätte man so ‚was ja nicht leben lassen – dann bringen solche spontan geäußerten (Selbst)-Tötungsgedanken ans Licht, daß es in unserer Gesellschaft eine tief wurzelnde Euthanasie-Mentalität gibt.
Das alles heißt: Ob ein Mensch unter uns als Randfigur lebt oder nicht, das entscheidet sich nicht nur an dem, was er mitbringt an innerer Haltung und äußeren Möglichkeiten, das entscheidet sich zum großen Teil daran, was unter uns gedacht, geschrieben, gepredigt und geglaubt wird. An erschreckend vielen Stellen protestiert Theologie nicht gegen die Euthanasie-Mentalität und alles, was mit ihr zusammenhängt, sondern teilt (zuweilen auch: fördert) sie – gewiß oft, ohne zu merken, was sie da anrichtet. Klar aber ist: In einer Kirche, deren Theologie nicht freikommt vom heutigen „Hast-du-was,-bist-du-was“-Denken, sind bestimmte Gruppen (schärfer: viele unserer Schwestern und Brüder) sofort Randgruppen; nicht weil sie es von sich aus wären; nein, durch unser Denken, Reden und Sortieren werden sie dazu.
Auf dem Hintergrund dieser spaltenden, schismatischen Theologie muß biblische Botschaft als befreiendes Kontra begriffen werden: Jeder Mensch ist okay (nicht nur der Leistungsstarke); Gott selber wurde ein hilfsbedürftiger Mensch (der Retter der Welt mußte zuerst einmal selber nach Ägypten gerettet werden). Von Jesus Christus her ist Stärke kein göttlicher Wert und Schwäche kein Makel; beides sind unterschiedliche (wenn auch von uns als krasse Gegensätze empfundene) Zuteilungen unseres uns allen gütigen Vaters.
Als Kirche sind wir Jesu Patientenkollektiv: Jeder kann mittun; jeder darf der sein, der er ist; keiner muß sich schämen, von anderen sich helfen zu lassen. Helfen ist nicht „mehr“; Sich-helfen-lassen-Müssen ist nicht „weniger“. Denn sich helfen lassen zu müssen ist genau so „göttlich“ (vgl. im vorigen Absatz: Flucht nach Ägypten), wie anderen helfen zu können. Gefragt sind wir allerdings, ob jeder mutig den Part übernimmt, der ihm von Gott im „Leibe Christi“ zugetraut und zugemutet wurde, und ob wir als Gemeinden miteinander teilend ausgleichen.
Das „Kannst-du-was-bist-du-was“ jedoch ist eine Gotteslästerung, die jede in der Gemeinde Jesu einzuübende Solidarität enorm erschwert. Denn unsere Gemeinschaft ist nun einmal nicht die Summe von Könnern, sondern das Miteinander der Vielen, von denen jeder mittun kann und jeder auf Hilfe angewiesen ist: das, was wir können, und das, was wir nicht können, alles gehört uns gemeinsam; und für uns miteinander wird’s, wenn wir alles zusammenlegen und gerecht teilen, schon reichen.
Das alles ist also nicht eine freundliche Sonder-Zuteilung für die bedauerlichen „Ausnahmen“, sondern eine kritische Befreiung für uns alle (es geht um eine Europäische Befreiungstheologie!), eine Befreiung, die (darum: „kritische Befreiung“) auch den Abschied von der flachen Freiheit bedeutet, die zum Beispiel darin erträumt wird, daß wir frei sind von Anfällen und anderen Krankheiten. Zur verläßlichen Freiheit dagegen gehört es aber gerade, daß wir frei werden auch von dem Zwang, gesund sein zu müssen, daß wir frei werden von der kopflos machenden Angst vor unheilbarer Krankheit (mag sein, beim gemeinsamen Einüben solcher Freiheit könnten behinderte Menschen hilfreich unsere Trainer sein). Solange wir von solchem Zwang nicht frei sind, sind wir auch nicht frei für einen ungezwungenen Umgang mit kranken und behinderten Menschen; auch jene ‚flache Freiheit‘ also ruiniert ein solidarisches Miteinander.
Natürlich ist es richtig und wichtig, das Leben zu lieben und gesund sein zu wollen. Wenn wir aber meinen, gesund sein zu müssen, da andernfalls unser Leben nicht mehr „lebenswert“ sei, wirkt sich der Wille zur Gesundheit lebensfeindlich aus: Weil wir bestimmte Lebenssituationen – wie unheilbare Krankheit – nicht mehr als auch für uns bestehende Möglichkeiten zulassen können, sind wir oft nicht mehr in der Lage, in schwer behinderten Menschen unsere gleichwertigen Mitmenschen zu sehen. Wir sprechen dann wie von Sachen; wir sagen: „dieses ganze Elend“.
So wurde mir bei meinem theologischen Arbeiten nach und nach deutlich, daß unsere Theologie seit langem so angelegt ist (nicht erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern schon seit der mittelalterlichen, auf Augustin zurückgehenden, Ham-Theorie, der zufolge behinderte Menschen als die im Sinne Gottes Verfluchten den Nichtbehinderten als den Gesegneten gegenüberstehen), daß sie denen in die Hand arbeitete, die das Töten schwerstbehinderter Menschen propagierten; damit sind Kirche und Theologie mitschuldig geworden an Hadamar und den anderen Euthanasie-Anstalten der Nazi-Zeit. Daß wir als Kirche heute nein sagen zur Euthanasie ist klar; aber es ist ein Skandal, daß unsere Theologie (zum Schaden nicht nur der behinderten, sondern auch der nichtbehinderten Christen, also zum Schaden der gesamten Kirche) nach wie vor in den alten Gleisen läuft. Was seit Jahrzehnten überfällig ist, müssen wir endlich anpacken: eine „Theologie nach Hadamar“. Wenige Aufsätze zum Thema veröffentlichte ich bereits. Ich arbeite weiter an dieser Thematik und hoffe, in den kommenden Jahren dabei noch zu ausführlicheren Ergebnissen zu kommen.
Ulrich Bach