Rezension Thomas Feld

Aus: sozialpsychiatrische informationen 1 / 2007
und in Wege zum Menschen 3 / 2007, S. 310f.378872160X

Bach U (2006) Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar.
Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag, 512 S.,
34,90 Euro

»Glaube ist gesund und erhält gesund« – so Hans Georg Wiedemann in den Predigstudien. Und das sollen wir nach Wiedemann aus den Wundergeschichten Jesu lernen: »All ihre Verkrümmungen, ihre Blindheit und Taubheit, ihre Lähmungen und ihr Ausgeschlossensein können aufhören, wenn sie sich zu Gott hin aufrichten lassen.« (Predigstudien IV/2 2005/2006, S. 190) Das ist gut gesagt und leicht geschrieben, steht in einer gängigen Auslegungsgeschichte und kann sich auf aktuelle Studien stürzen, die einen Zusammenhang zwischen gelungener religiöser Sinnfindung und psychosozialer Gesundheit nachweisen. Glaube ist gesund und erhält gesund! Was aber ist mit den unheilbar Blinden und Tauben, den chronisch Kranken, den aufgrund ihrer Behinderung von der Partizipation am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossenen Menschen? Was müssen sie denken, wenn sie solche Sätze lesen oder in einer Predigt hören? Ist mit ihrem Glauben etwas nicht in Ordnung? Gibt es vielleicht zwei Klassen von Christen, die gesunden, denen die volle Gnade Gottes gilt und die kranken, die so ganz nicht mitgemeint sein können, weil sie ja sonst gesund wären?

Ulrich Bach geht in seinem Buch solchen Fragen nach und deckt dabei eine jahrhundertealte Tradition auf, die das Zusammensein von gesunden und behinderten Menschen innerhalb der christlichen Kirchen bestimmt. Es ist eine Tradition der Apartheid, der theologisch untermauerten Trennung zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen, eine Tradition zudem, die bis in die Anfangsgründe christlicher Theologie hinabreicht. Schon Augustin behauptet eine Identität zwischen Behinderung und beschädigter, sündhafter Existenz. Behinderte Menschen werden von ihm mit den von Plinius beschriebenen sonderbaren Wesen und Völkern in Verbindung gebracht, die am Rande der damals bekannten Erde leben. Ihre Existenz leitet Augustin von dem in Genesis 9 verfluchten Sohn Noahs, Ham, ab und kommt zu der diffamierenden Aussage: behinderte stehen den nichtbehinderten Menschen gegenüber wie der einstmals verfluchte Ham seinen gesegneten Brüdern Sem und Japhet. Dieser Gründungsmythos wirkt mit seiner Gleichsetzung von Behinderung und beschädigter Existenz bis heute in der Formulierung verschiedener theologischer Topoi nach: den Auslegungen der Wundergeschichten des Neuen Testaments, der Formulierung der Theodizeefrage, der Gotteslehre, der Ekklesiologie, der Ethik, der Theologie des Kreuzes. Überall wird hier, so weist Bach nach, behinderten Menschen die vollgültige Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft streitig gemacht. Ein tiefer Riss durchzieht die Theologie. Er bestimmt den Umgang zwischen Behinderten und Nichtbehinderten in Gemeinde und Diakonie und  macht die Ermordung behinderter Menschen im Dritten Reich erst möglich. Heute, sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und lange nachdem das Nachdenken über eine Theologie nach Auschwitz begonnen hat, provoziert Bachs Buch dazu, diesen Riss endlich wahrzunehmen, zu diskutieren und Schritte zu seiner Überwindung zu gehen.

Bach geht solche Schritte. Hadamar, der Ort an dem zuerst behinderte Menschen während des Dritten Reichs systematisch ermordet wurden, ist dabei Symbol der tödlichen Folgen der Apartheid und Ausgangspunkt theologisch-diakonischen Nachdenkens, vor dem sich jede weitere Reflexion zu bewähren hat. Das Buch ist mit Herzblut geschrieben. Der Autor selbst hat den tiefen Riss zwischen Behinderten und Nichtbehinderten erfahren. Er erkrankte während der ersten Semester seines Theologiestudiums an Kinderlähmung und ist seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen. Über viele Jahre hat er in der diakonischen Anstalt Volmarstein als Seelsorger gearbeitet. Diese Erfahrungen fließen in sein Buch auf vielfältige Weise ein. Es ist dadurch ein lebendiges, ein reichhaltiges, ein provozierendes Buch. Es enthält Erfahrungsberichte, gibt Vorträge wieder, enthält sorgfältige Textauslegungen, Appelle, theologische Reflexionen.

Es ist ein vielschichtiges, buntes Buch, ein Buch von außerordentlichem Gewicht, dem viele Leser zu wünschen sind. Es ist nur leider sehr umfangreich, voller Wiederholungen und langatmiger Passagen. Ich wünschte mir eine straffende Überarbeitung. Vielleicht verlangt Bachs Buch aber auch die Freiheit zu einer nicht zu sehr an üblichen Diskursgewohnheiten geschulten Lektüre, bei der man dann auch mit den für mich spannendsten, jedoch ganz am Schluss platzierten Kapiteln beginnen kann: Bachs Auslegungen der beiden ersten Kapitel  des Markusevangeliums.

Noch eine Anmerkung: dass Hans Georg Wiedemann, und vielleicht viele Pfarrer mit ihm, so leicht von einer Gleichsetzung von Glaube und Gesundheit sprechen können, hängt  vielleicht auch damit zusammen, dass unter ihren Kanzeln so wenig Taube, Blinde und Gelähmte zu finden sind. Auch dies eine Folge der von Bach beschriebenen Apartheid und ihrer institutionellen Folgen. Das habe ich schließlich in Bachs Buch vermisst: die Kritik an einer Diakonie, die ihren Stolz in der Unterhaltung großer und größter Unternehmen sieht, und sich bis heute schwer tut, die Forderungen der siebziger Jahre nach Auflösung der abgesonderten Lebensbereiche für behinderte Menschen und die Ermöglichung ihrer Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen.

Pfr. Thomas Feld
33330 Gütersloh