Muß ein Engel immer artig sein?

Ulrich Bach, Kierspe-Rönsahl
Muß ein Engel immer artig sein?

Nachmittags, kurz vor fünf – und ich hatte immer noch keine Idee. Die Dame, die sich für 17 Uhr angesagt hatte, und ich kannten uns lange. Wir arbeiteten in verschiedenen Gruppen kooperativ miteinander. Plötzlich war Sand im Getriebe, es knirschte erheblich. Die Vorwürfe gegen mich und Verdächtigungen mußten ausgeräumt werden. Dazu die heutige Verabredung. Klar ist in solchen Lagen, daß man nicht sofort das heiße Eisen zur Sprache bringen sollte; vorher brauchen beide die Gelegenheit zu ein paar ungefährlichen Plauder-Sätzen. Das Wetter kam als Thema nicht in Frage, möglicherweise hätte sie das als primitiv und deshalb kränkend empfunden. Mit ihrem Sohn stand ich in direkter Verbindung, so war ich über sein Studium bestens informiert – auch er kam nicht in Frage. Was tun?

Punkt 17 Uhr schellt es. Immer noch ohne Einfall. Wie soll das nur werden!?  Ich öffne die Tür: „Oliver!“ „Da bin ich mal wieder.“ Blitzschnell  spult sich in meinem Kopf, rascher als im Zeitraffer-Film, unsere gemeinsame Geschichte ab, Olivers und meine. Oliver hatte ich vor wenigen Jahren konfirmiert; ihm war es zu „verdanken“, daß die zwei Jahre des kirchlichen Unterrichts in seiner Klasse für mich anstrengender wurden als alle anderen Jahrgänge. Oliver hatte im Alter von etwa acht Jahren einen schweren Verkehrsunfall, lag mehrere Wochen im Koma. Inzwischen sah man ihm seine Behinderung äußerlich kaum noch an, aber daß er zu der Gruppe gehört, die man heute „Menschen mit herausforderndem Verhalten“ nennt, bestätigt er Tag für Tag. Mehrere Unterrichtsstunden brachte er zum Platzen. Etwa an einem 6. Dezember; ständig brüllte er in die Klasse: „Wo‘s mein‘ Niklaus-Tütäää?“; zweimal rasch hintereinander, die letzte Silbe mit verstärktem Druck. Bis ich den „Stoff“ fallen und die Gruppe ihre Nikolauserlebnisse aus der Schule erzählen ließ. Es gab Stunden in denen mir die Gruppe sagte: dem müssen Sie einfach mal eine scheuern. Meine Antwort war die Wiederholung des Satzes. den ich in der ersten Stunde als Spielregel eingeführt hatte: „Bei uns darf jeder so sein wie er ist.“ Die Gruppe verstand es im Lauf der Zeit, mit diesem Satz umzugehen: Als ich gelegentlich einem Schüler seinen gekonnt geistreichen, aber den Fluß des Gesprächs sabotierenden Einfall mit einem schmunzelnden „Ich-zerreiß-dich-gleich-in-der Luft“-Blick quittiert hatte, sagte sein Kamerad, eingeleitet mit einem singenden „Herr Bach“: Bei uns darf jeder so sein wie er ist.

Als es auf die Konfirmation zuging, fragte die Klasse: Aber nachher geht der Unterricht doch weiter? Das sei nicht üblich, sagte ich, merkte aber, daß die Gruppe ihre Frage deutlich als Bitte gemeint hatte. Für die Kinder der Volmarsteiner Behinderten-Schule gehörten unsere Unterrichtsstunden fest in den schulischen Stundenplan. Darum war die Bitte der Konfirmanden für den Schulleiter kein Problem: Er musste für die wenigen Wochen zwischen Konfirmation und Schuljahresende keinen neuen Stundenplan erstellen. Die drei externen Kinder (aus Mitarbeiter-Familien) fragten ihre Eltern und bekamen ebenfalls grünes Licht. Wir trafen uns also weiterhin, bei gutem Wetter gelegentlich auch in unserem Garten. Als meine Frau einmal für jeden ein Schüsselchen mit Eis auftischte, war das natürlich ein besonderer Höhepunkt der zwei Jahre.

Aber auch zwei Jahre sind dann doch irgendwann zu Ende. Zur Schlußrunde trafen wir uns noch einmal im gewohnten Klassenzimmer; wie üblich sangen und beteten wir. Dann erzählte ich eine Geschichte, die ich vor Jahrzehnten erlebt hatte. Über sie kamen wir in ein intensives Gespräch. Zu meiner Freude fand die Gruppe heraus, daß als Überschrift unser Satz passen könnte: Bei uns / bei Gott, darf jeder so sein wie er ist. Nach einem Abschluß mit vielen guten Wünschen rollte ich aus der Klasse heraus und setzte mich auf der Flurseite neben die Tür, ich wollte allen noch einmal die Hand geben und jedem ein, zwei Sätze sagen. Als erster kam Oliver, hatte es aber nicht eilig, sondern stellte sich nach unserem Händedruck auf die andere Türseite und lehnte sich etwas schlaksig an den Türrahmen. Genau schaute er hin und hörte er zu, wie jeder einzelne sich von mir verabschiedete. Ursula, der Gymnasiastin, sagte ich, sie sei ja wohl in den zwei Jahren nicht auf ihre Kosten gekommen. Darüber solle ich mir mal keine Gedanken machen, sagte sie; sie habe in dieser Gruppe unheimlich viel gelernt. Als auch der letzte gegangen war, lehnte Oliver noch immer an der Tür. Sollen wir uns noch einmal verabschieden?, fragte ich. Und er: Wissen Sie, wie das ist? Wie auf  `ner Beerdigung. Die Gruppe hat dir gut getan, ja? Von Oliver kam nur:  wie auf `ner Beerdigung. Ich versuchte, ihm klarzumachen, daß bei einer Beerdigung der Abschied um so schwerer wird, je wichtiger der Mensch war, den man nie wieder erleben wird; ihm habe offenbar sehr gut getan, daß die Gruppe ihn so sein ließ wie er ist. „Wie auf `ner Beerdigung.“ Oliver lehnte weiter am Türrahmen. Nach einer Weile sagte ich: mir kommt gerade ein Gedanke. Oliver, könnte es dir vielleicht gut tun, wenn du mich einfach mal ganz feste drückst? Der Satz war kaum raus, da lag Olivers Kopf auf meiner rechten Schulter und an meinem Hals wurde es etwas feucht. Du, wir setzen uns noch mal in die Klasse. Ich gab ihm Taschentücher und wir saßen einfach beisammen mit wenigen sparsamen Sätzen. Nach kurzem schon war es so weit, daß wir uns verabschieden konnten.

Bald nach den Sommerferien schellt es mittags an der Tür. Oliver will mal nachschauen, wie es mir geht. Wir sitzen in meinem Zimmer mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser. Für ihn ist gerade die mittägliche Schulpause, da ist Gelegenheit zu solchen Besuchen. Er war nie sehr gesprächig, einfach nur ein lockeres Hin-und-Her; dann wird es Zeit zur nächsten Schulstunde. Diese Besuche wiederholte Oliver von Zeit zu Zeit; gelegentlich brachte er die Flasche Wasser schon mit. Inzwischen ist er von Volmarstein weggezogen, unser Kontakt findet jetzt stärker übers Telefon statt. Nur wenn er sowieso gerade in Volmarstein ist, macht er auch schon mal, so wie heute, einen Abstecher zu mir: Da bin ich mal wieder.

Oliver verstand sofort meinen Hinweis darauf, daß ich gleich einen unaufschiebbaren Termin hätte, wollte direkt kehrt machen; aber wir plauderten dann doch miteinander, bis es erneut schellte. Die Besucherin fragte ich, ob sie sich an das Gesicht des jungen Mannes erinnern könne. Das zwar nicht; aber sie ging sofort, gelernte Pädagogin, mit interessiertem Fragen auf meine knappen Angaben ein. Wir mussten achtgeben, nicht zu ausführlich zu werden, wir hatten ja ein anderes Thema. Als wir dieses angingen, zeigte sich, daß das Oliver-Thema hervorragend den Boden bereitet hatte für ein offenes, verständnisvolles, eine faire Lösung suchendes Gespräch.

Abends dachte ich zurück an den Tag; klar wurde mir: Heute hat mich ein Engel besucht. Oliver war keineswegs eine Art „ Sargnagel“, wie es mir vor Jahren nach besonders drastischen Erlebnissen mit ihm in den Sinn kommen konnte; vielmehr war er der Engel, mit dem mir Gott über eine Blockade hinweggeholfen hat. Ich kann mir einen besseren „Einstieg“ in unser schwieriges Gespräch, auch wenn ich mir Mühe gebe, nicht vorstellen. Oliver „paßte“ einfach vorzüglich zu diesem Gast, zu unserer schwierigen Gesprächs-Situation, und er kam zum schlechthin idealen Zeitpunkt.

Beim weiteren Nachdenken kam mir ein Oliver-Erlebnis in den Sinn, an das ich länger nicht gedacht hatte. Das war am Tag der Konfirmation; wir trafen uns eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes in der Sakristei zur inneren Sammlung, zu letzten Absprachen, zum Gebet. Oliver stand links halb hinter meinem Rollstuhl. Plötzlich beugte er sich zu mir: Herr Bach, wissen Sie, daß Sie einen Platten haben? Ich fühle nach. Stimmt. Auch das noch! Dazu machte er ein „unschuldiger-Engel“-Gesicht, wie er das nach Dummheiten perfekt konnte. Ich wollte und konnte ihm nichts beweisen; jetzt mußte jemand organisiert werden, der mir das Rad wieder aufpumpte. Übrigens hielt diese Luft mehrere Wochen; es kann also kein Schleich-Platten gewesen sein, es mußte jemand das Ventil geöffnet haben. Jetzt im Rückblick denke ich: War Oliver in diesem Augenblick nicht ebenfalls mein Engel? Hatte er mir nicht auch dieses Mal aus einer Blockade heraus geholfen? Denn eins ist mir immer klar gewesen: Konfirmations-Gottesdienste sind bei mir mit einem enormen Druck verbunden (bist du deiner Verantwortung gewachsen? Hast du die Gruppe richtig vorbereitet, was immer man unter „ richtig“ verstehen mag?).

Dieser Druck kann mich geradezu blockieren in meinem Verhältnis zur Gruppe: Ich, der wichtige Verantwortungs-Träger, dort die, „Kleinen“, für die ich Verantwortung trage. Jetzt der Platten! Mit einem fast hörbaren „Peng!“ stieß er mich von meinem stolzen Podest. Verantwortung hin, Verantwortung her, jetzt sind plötzlich wir alle darauf angewiesen, daß andere Verantwortung für uns übernehmen. Ich habe es sogar nötig, daß mir jemand kompetent Luft in den Reifen pumpt. Oliver sorgte dafür, dass ich mit den anderen wieder eine Gruppe wurde. (Diese Nähe spürte man im Gottesdienst offenbar deutlich; so wurde mir nachher von verschiedenen Seiten gesagt). Ja, Oliver war auch an dem Tag, an dem ich ihn konfirmierte, Gottes Engel für mich. Wirklich?, das Öffnen des Ventils war aber doch ein ausgesprochen ungezogener Dummer–Jungen-Streich!  Ja und?, dürfen Engel denn niemals Unfug treiben?

Trost im Alter

Pastor D. Ulrich Bach, Wetter-Volmarstein

„Siehe, um Trost war mir sehr bange…
Vortrag am 11. März 1996
beim 2. Symposion Altenseelsorge ’96 (Ev, Johanneswerk)
„Trost im Alter …“ (11. bis 14.März 1996)
Seite 39-48

Um ein bißchen spitz zu beginnen: Bei Kurt Tucholsky ist über den Menschen nachzulesen (Tucholsky AW II, S. 137): „Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht, und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion.“ Denkmöglich ist es für mich. daß heute von mir erwartet wird – vielleicht nicht vom Veranstalter, aber mag sein: von dem einen oder der anderen im Zuhörerkreis -, in Tucholskys Sinne ein ordentlicher Religions-Vertreter zu sein: Wenn das Thema „Alter“ dran ist, geht es uns nun einmal „schlecht“, und darum brauchen wir jene zweite Überzeugung mit dem hoffnungsträchtigen Namen „Religion“: wie schön ist es, daß auf dieser Tagung das erste Referat von einem Theologen gehalten wird! Da, wo uns um Trost sehr bange ist, wird er gewiß den erhofften Trost zu erteilen (oder: zu verteilen) wissen. – Um, wie gesagt, ein bißchen spitz zu beginnen: Hier möchte ich mich verweigern.

Ich möchte den Trost davor bewahren, zur Vertröstung zu werden. Anders gesagt: Auch wenn der Mensch zwei Beine hat, ich möchte es gern bei einer Überzeugung belassen für schlechte und für gute Tage, bei einem Trost im Sterben und im Leben. Der Heidelberger Katechismus nennt Jesus Christus den einzigen Trost im Leben und im Sterben. Wir werden nicht verhindern können, daß viele Menschen heute anderswo Trost und Sinn, Lebensbasis und Frieden suchen (und zu finden meinen). Aber eins sollten wir zu verhindern trachten: daß man in jungen Jahren den Trost in Beruf und Gesundheit, in Karriere und Erfolg sucht, um dann fürs Alter sich auf Jesus Christus als den einzigen Trost im Sterben zu besinnen. Das wäre das Tucholsky-Schema von den zwei Überzeugungen; damit hätten wir aus dem einzigen Trost im Leben und im Sterben eine billige Vertröstung für den letzten Lebensabschnitt gemacht. nach dem Motto: Ab Rente wird Jesus aktuell. Solcherlei Lied erwarten Sie bitte nicht von mir. – Ich weiß überhaupt nicht, ob ich viel von Trost zu sagen weiß. Es ist ja durchaus möglich, daß eine ehrlich eingestandene Trostlosigkeit viel realistischer wäre. Jedenfalls will ich als Theologe nichts schönreden. Was ich sage, auch was ich über den Trost sage, will ich so sagen, daß klar bleibt: es gibt gute Gründe für ein ausführliches Referat zum Thema „Trostlosigkeit im Alter“.

Oder fällt Ihnen da irgendetwas „Tröstliches“ ein, wenn ich Ihnen vorlese, was zwei dänische Wissenschaftler 1994 schrieben: „Nach unserer Auffassung scheint es ganz natürlich, zu sagen, daß die Organe lebendiger Personen lebenswichtige Gesundheitsressourcen sind, die wie alle lebenswichtigen Ressourcen gerecht verteilt werden müssen. Wir könnten uns.daher gezwungen sehen, darauf zu bestehen, daß alte Menschen getötet werden, damit ihre Organe an jüngere, kritisch kranke Personen, umverteilt werden können, die ohne diese Organe bald sterben müßten. Schließlich benutzen die alten Menschen lebenswichtige Ressourcen auf Kosten von bedürftigen jüngeren Menschen“ (zit. nach: Feyerabend (u.a.) WN, S. 30). Das hieße: Unsere Altenheime werden eines Tages vielleicht zu „Grabbel-Tischen“, an denen sich die „Halbgötter in Weiß“ – zwecks Transplantation – preisgünstig bedienen können – um

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Trost war mir sehr bange! – Das Schlimme: Die beiden sind nur konsequent Es scheint sich heute einzubürgern, unsere Organe Ressourcen zu nennen. „Mein Bauch gehört mir“ – das wäre dann nicht nur ein dummer Satz; er wäre auch längst überholt: er stammt aus der Zeit, als die Menschenwürde noch unantastbar war – das muß ’ne Weile her sein. Dein Bauch gehört dir?, wie kommst du denn da drauf? Gar nichts gehört dir, keine Niere, keine Hornhaut, kein Knochenmark, schon gar nicht ein ganzer Bauch; du benutzt zur Zeit Ressourcen, die uns allen gehören, und die wir dir großzügig so lange gönnen, wie wir keine wichtigere Verwendung für sie haben; aber das kann sich von jetzt bis gleich ändern. – Heute, in dieser verrückten Zeit, soll ich alt werden ohne Angst? Wie macht man das?

Soll ich Ihnen zwischendurch einmal sagen, was ich vermutlich denken würde, wenn ich an Ihrer Stelle säße? Ich dächte wohl: Wann fängt der endlich mal mit seinem Vortag an? Wenn der so weiter macht, ist er heute abend noch bei seinen Vorbemerkungen – oder wie man das nennen soll, was er da im Augenblick abspult. – Tatsächlich, ich bin noch bei den Vorbemerkungen; und ich werde bei ihnen bleiben. Einen sauberen Vortrag kann ich Ihnen nicht halten: Trost und Alter in der Bibel; Trost und Alter in der Geschichte; Trost und Alter heute; Folgerungen für die Diakonie. Natürlich, so oder ähnlich stellt man sich einen Vortrag vor; das wäre auch gar nicht schlecht. Nur sehe ich mich dazu nicht in der Lage; nein, ich will es auch nicht. Warum nicht? Ich muß Ihnen kurz erzählen, woher ich im Augenblick komme. Ich komme her „aus“ (so muß ich wohl sagen) einer schweren Lungenentzündung, die mir im vergangenen Herbst arg zu schaffen machte. 64 Jahre alt, seit über 40 Jahren Rollstuhlfahrer, jetzt zusätzlich diese Erkrankung. Ein Häufchen Mensch, das da nach Luft japste. Aushusten müssen, aber (wegen des behinderungsbedingten Fehlens der Bauchmuskulatur) nicht aushusten können – total angewiesen auf Phantasie und Tatkraft meiner Frau. Lebte ich? Wurde ich gelebt? Es war eine Schwäche, die jeden Stolz zerbricht, auch noch die letzten Reste. – Heute spüre ich in mir den Impuls: sei froh, du hast es hinter dir. In mir höre ich aber auch: sei mutig, du hast vielleicht Schwereres noch vor dir. Beide Impulse möchte ich zulassen. Hielte ich es nur mit dem ersten (sei froh, du hast es hinter dir), dann versuchte ich jetzt einen zünftigen Vortrag; mit ihm feierte ich mich als Steh-auf-Männchen: im Grunde bin ich unschlagbar! Folgte ich nur dem zweiten Impuls (sei mutig, du hast noch manches vor dir), könnte mich das stumm machen, vermutlich hätte ich den heutigen Termin abgesagt, denn für Vorträge bliebe keine Zeit, ich muß mich auf mich selber konzentrieren. Wie gesagt: Ich will beide Impulse zulassen: ich will mich zum Thema äußern, dabei aber keinen Augenblick leugnen, daß ich wesentlich stärker im Thema drinbin, als es diejenigen wissen konnten, die mich vor Jahresfrist um diesen Beitrag baten. Das heißt also: ich werde es bei Vorbemerkungen belassen; oder etwas freundlicher: bei Anmerkungen zum Thema, bei Notizen zur Sache.

Lassen Sie uns zuerst ein bißchen kreisen um die Thema-Stellung: Trost, Trostlosigkeit und Alter. Ein paar Anmerkungen zur gemalten Trostlosigkeit:

„Guck mal, der da – ist das nicht schrecklich?'“ So rasch geht das oft: man blickt kurz hin, sieht etwas scheinbar Unerträgliches und wendet sich innerlich ab. Schrecklich! Schrecklich ist tatsächlich das, was ich mir da ausmale. Aber wer sagt mir denn, daß das, was der alte Herr da drüben erlebt, in sich ebenfalls schrecklich ist. – Bei Pablo Neruda fand ich die schönen Zeilen: „… so ist es: I/ müde seiner selbst, wie man genug hat / von einem total durchlöcherten Anzug…“ (Neruda LW III, S. 731). So kann es sein. Da ist einer nicht glücklich, aber es ist auch nicht schrecklich. Da ist einer am Ende. Jetzt reicht es. „Lebenssatt“ wäre geschönt. Aber: keinen Appetit mehr haben auf weitere Jahrzehnte – ist das eigentlich so schlimm? „Müde seiner selbst, wie man genug hat / von einem total durchlöcherten Anzug“. – Gemalte Trostlosigkeit, das ist ein Thema, mit dem es behinderte Menschen fast täglich zu tun haben, schon in jungen Tagen. Warum sonst hat mir die alte Dame ein Fünf-Mark-Stück in die Hand gedrückt? Ich hatte als junger Pastor einer Frauenhilfs-Gruppe eine Andacht gehalten. Vermutlich hat sie die ganze Zeit an meiner Trostlosigkeit gemalt: so jung und dann so behindert!, das ist ja entsetzlich. Sie konnte sich nicht vorstellen, was mir in jenen Jahren ein Bekannter sagte: Ich habe lange

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niemanden mehr gesehen, der so viel Blödsinn macht wie Sie. Das konnte sich auch der junge Mann nicht vorstellen, der mir, kaum hatten wir uns kennengelernt. mitteilte: An Ihrer Stelle hätte ich längst Schluß gemacht. Ich bin mir sicher, daß man dieses Phänomen der gemalten Trostlosigkeit auch im Umfeld der alten Menschen antrifft: Man beobachtet eine Situation von außen, kennt den betreffenden Menschen nicht, nimmt nur Fragmente wahr, die man nicht als Teile einer ungewohnten, aber sinnvollen Einheit verstehen kann (vielleicht auch nicht verstehen will), und gerät in Panik: gemalte Trostlosigkeit.

Zwei Beispiele dazu. Das erste entnehme ich dem Buch von ‚Walter Jens und Hans Küng, „Menschenwürdig sterben“. (Vergleiche dazu die kritische Besprechung durch Renate Schernus in „Wege zum Menschen“: Schernus ÜMB.) Da sagt Hans Küng (Jens-Küng, S. 209): „Ich möchte … nicht erleben, was mir ein … Arzt ganz freundlich zu meiner Beruhigung gesagt hat“; der hat nämlich von einem altersdementen Professor erzählt, „der nicht mehr weiß, wer er ist, und jeden Tag sich aus der Klinik entfernt und ganz munter in die Stadt geht; er trägt eine Nummer auf dem Rücken seine Telefonnummer; er geht dann in eine Bar und kommt nach ein paar Stunden wieder fidel zurück.“ Sehe ich die Dinge richtig? Vermutlich würden Sie sich glücklich schätzen, wenn Sie es in Ihren Gruppen mit lauter solchen „pflegeleichten“ Menschen zu tun hätten. Aber das nur am Rande. Küng fährt fort: „Also ehrlich gesagt, so möchte ich mich nicht eines Tages zum Gespött der Überlebenden durch Tübingen wandeln sehen!“ Nun gut, ’so möchte ich nicht‘, wer kann ihm das verwehren. Aber ist die Situation wirklich so trostlos, so uferlos schrecklich, daß man, wie es bei Küng (im direkten Anschluß an das Zitat) der Fall ist, weiterdenken muß in Richtung von „Regelungen“ der aktiven Sterbehilfe?

Weshalb ich an dieser Stelle ausführlich werde, hat seinen Grund darin, daß ich Ihnen keinen Ausspruch eines Managers im Box-Sport-Verbandswesen vorgelesen habe, sondern Sätze eines Theologen, eines der bekanntesten heute lebenden Theologen. Und zweifellos gehört es für jeden verantwortlichen Theologen heutzutage zum „kleinen Ein-mal-Eins“, den Gegensatz zu kennen zwischen den in unseren Gesellschaften üblichen Menschenbildern und der Art, in der unsere Bibel vom Menschen spricht Ich zitiere dazu ein paar Zeilen aus dem Memorandum „Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde“, das 1978 bei einer ökumenischen Konsultation in Bad Saarow (DDR) beschlossen wurde, Da heißt es am Ende bei den „weiteren Aufgaben und Erfordernissen“ unter anderem: „Kritische Reflexion der gegenwärtigen anthropologischen Leitbilder und Ideale wie Stärke, Schönheit, Leistungsfähigkeit und deren diskriminierende Wirkung auf behinderte Menschen im
Lichte des Bekenntnisses zu Jesus Christus, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist“ (Saarow Mem, S. 11/205/233). Oder: „Die christliche Gemeinde muß deshalb der Ort sein, wo solche Vorurteile und Einstellungen im Lichte eines Menschenbildes, das sich an Jesus Christus als dem leidenden Gottesknecht und Bruder der Armen und Verachteten orientiert, aufgedeckt und verändert werden.“ (a.a.O., S. 7/202/231f)

Am Rande sei schmunzelnd vermerkt, daß es offenbar schwer ist, sich vom Ideal des Könnens und der Stärke zu verabschieden. Das zeigt sich bis hin zu einem Druckfehler, den ich gerade nicht mitgelesen habe. Im Original heißt es, wir müßten unser Menschenbild orientieren an Jesus Christus, „dem leitenden (!) Gottesknecht und Bruder der Armen“ (so in allen drei Ausgaben; vgl. Literatur-Nachweise). Bleiben wir beim leidenden Gottesknecht. wie die Passionsgeschichte ihn zeichnet: Ecce homo; seht, ein Mensch!, sagt Pilatus und zeigt hin auf den geschundenen und verspotteten Mann aus Nazareth. Hier steht „der“ Mensch in seiner kaum zu überbietenden Schwachheit Aber in dieser Schwachheit vollbrachte er das ihm von Gott aufgetragene Werk. „Meine Kraft erfüllt sich in der Schwachheit“ (2.Kor.12,9); dieser bekannte Satz ist demnach kein kerniger Spruch, den unser Meister später seinem Apostel Paulus vermittelt; sondern es ist zunächst die von ihm selber durchlittene und durchkämpfte Wahrheit. – Wer heute den Mut hat, bei diesem Menschen anzusetzen, wenn er über uns Menschen

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nachdenkt, der hat es wirklich nicht nötig, schon bei einem Professor, der ein bißchen heiter und ein bißchen komisch durch Tübingen läuft, an die Spritze zu denken.

Aber nun das zweite Beispiel: Am frühen Nachmittag komme ich ins Zimmer einer alten verwirrten Dame. Ich sitze an ihrem Gitterbett, sage ihren Namen, sage meinen Namen; dann sage ich den Satz, den sie zu Beginn ihrer Verwirrtheit jedesmal sagte, wenn wir uns trafen: „wir kennen uns ja auch, wohl?“ Aber heute schuf auch dieser Satz keine Brücke. Zudem war sie beschäftigt. Auf ihrer Brust stand das Plastik-Schälchen vom Mittags-Pudding. Sie geht mit dem Zeigefmger hinein, sucht die letzten Reste und lutscht den Finger ab. Langsam. Immer wieder. Wie weit sie mich wahrnahm, weiß ich nicht. Als ich das Vaterunser sprach, schien sie einmal kurz aufzumerken. – Ich nehme es mir nicht übel, daß es in mir das Empfinden gab: so möchte ich nicht sehr gerne ‚mal daliegen müssen. Aber ich bin froh, daß bald ein anderer Gedanke in der Nähe war, ein Satz, den ich bei Bert Brecht gelesen hatte: „nur das Grab lehrt mich nichts mehr.“ (Brecht Gedichte, S. 558) Brecht will lernen, leidenschaftlich lernen, will überall lernen, von jedem lernen; er kennt nur eine Grenze: wenn jemand tot ist, dann kann ich nichts mehr bei ihm lernen: nur das Grab lehrt mich nichts mehr. – Das weckte in mir die Frage: Bin ich bereit, von dieser alten Frau zu lernen? Wenn nicht, dann habe ich sie wie eine Tote behandelt Ich glaube, das war weniger verkopft, als es jetzt klingt; ich merkte vielmehr, wie ich da saß, und bei ihr lernte: Wie macht sie das nur: so leben, so leben müssen und dann in diesem Zustand Interesse am Weiter-Leben zeigen; ja, darum ging es: sie zeigte mit ihrem Pudding-Schlecken ihr Interesse daran, weiter zu leben; das Leben kann nicht ganz daneben sein, wenn es noch Puddingreste im Schälchen gibt – unwahrscheinlich, ein unglaublicher, ein Trost-nicht-bedürftiger Mut. Wieso war sie auf meinen Trost angewiesen? Ich hatte hier zu lernen.

Um es zusammenzufassen: Sind wir mutig oder sind wir feige? Erkennen wir die Situation, in der ein verwirrter Professor, mit der Telefonnummer auf dem Rücken, in Tübingen unterwegs ist, die andere, in der ich während der Lungenentzündung nach Luft japse und vor Anstrengung heule, weil es auf dem Nachtstuhl nicht klappen will (lächerlich, da war ich eine Spottfigur), oder die dritte, in der die alte Dame die Pudding-Reste schleckt, erkennen wir diese Situationen als mögliche Lebensformen vielleicht auch für unser Leben an, oder verweigern wir uns? Malen wir die Trostlosigkeit dieser Ausprägungen von Leben in so schaurigen Farben, daß man nur noch weglaufen kann? Oder gehen wir auf solche Situationen offen und lernwillig zu: interessant, was alles zu „unserem“ Leben dazugehören kann! – Ich behaupte: Einen großen Teil der Trostlosigkeit im Alter bildet diese gemalte Trostlosigkeit, die in Wahrheit nichts anderes ist als die Mutlosigkeit der Jüngeren.

Bei meinem nächsten Punkt, der gemachten Trostlosigkeit, will ich die These voranstellen: Wir planen und gestalten unser persönliches und unser gesellschaftliches Leben so stromlinienförmig und temporeich, daß damit automatisch das Altsein der alten Menschen immer exotischer, immer absurder, immer unerträglicher wird. – Das Ideal der Jugendlichkeit zum Beispiel hat zur notwendigen Folge, daß alte Menschen als Außenseiter gelten. In einer Gesellschaft, in der es den Satz gibt: „Trau keinem über dreißig!“, gehört es sich einfach nicht, siebzig zu sein. Das hat noch nichts zu tun mit finanziellen oder personellen Engpässen, das läuft in unseren Köpfen und Herzen ab. – „An und für sich“, sagte Dieter Hildebrandt („Scheibenwischer“ im Januar 1995), „ist Altsein bei uns noch erlaubt. Nur man sieht’s nicht gerne“ (zitiert nach: Schernus HL, S. 6). Alte Menschen werden nicht verboten, aber sie müssen sich schämen. Sechzig Jahre – das geht; auf dem Friedhof liegen – auch möglich. Aber dazwischen irgendetwas. sagen wir: 89 sein und noch immer leben – was soll das eigentlich, wer hat ‚was davon? – Das ist die völlig logische Kehrseite des Ideals der Jugendlichkeit und der Leistungsstärke; das ist wirklich trostlos. Nur: Diese Trostlosigkeit haben wir alle mitgebaut. Wir alle legen in jungen Jahren großen Wert darauf, mithalten zu können bei unseren drei Norm-Idealen „Selbständigkeit“, „Gesundheit“ und „Leistungsstärke“. Ich will das nicht moralisch anprangern, ich stelle nur fest: so ist es. Wer könnte es sich denn leisten, leistungsschwach zu sein; wer ist so gesund, sich für eine Krankheit

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Zeit nehmen zu können; wer ist so selbständig, freiwillig seine Selbständigkeit einschränken zu können? Hier gibt es Zwänge und Ketten, die ein einzelner kaum sprengen kann. Hier kommt die Sklaverei in den Blick, die es nötig macht, auch in Europa eine eigenständige Befreiungstheologie zu entwickeln (vgl. dazu: Bach Thesen, und: Bach Frau N). Und wenn doch einmal einzelne diese Ketten sprengen (ich denke etwa an Albert Schweitzer, Janusz Korczak oder Mutter Theresa), dann sind wir geneigt, solche Menschen als etwas absolut Außergewöhnliches zu beklatschen, womit wir nebenbei zu verstehen geben: für mich kommt so etwas natürlich nicht in Frage. Warum eigentlich nicht?

Gott sei Dank, gibt es auch heute relativ viele, die so fragen: warum eigentlich nicht“, und die dann etwa in pflegende Berufe gehen. Nur: wie geht deren Geschichte weiter? Sind sie nicht oft sträflich alleingelassen? – Man mag es beklagen, daß die Eintritts-Zahlen bei pflegenden Berufen heute nicht höher sind, als es der Fall ist. Was ich aber viel aufregender finde, ist die Tatsache, daß so viele von denen, die einen pflegenden Beruf beginnen, die auch die Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen haben, nach einem halben Jahr schon oder nach zwei Jahren in total anderen Berufsfeldern wiederzufinden sind. Hatten wir sie nicht genügend begleitet? – Ich bin ja beim Thema der „gemachten Trostlosigkeit“
und möchte fragen, ob wir Diakoniker uns nicht der „geistigen Ausbeutung“ schuldig machen. Ich meine folgendes: Wenn es „in“ ist, jung zu sein, sind alte Menschen „out“; das sagte ich bereits ähnlich. Nun aber weiter: Wenn Jung-sein „in“ ist, ist es ebenfalls „out“, sich hauptberuflich um alte Menschen zu kümmern. Wie gehen Mitarbeiter mit diesem Konflikt um, den sie natürlich nicht nur in Begegnungen draußen spüren („was, da arbeitest du?“), sondern auch in sich selber? Auf der Gruppe gilt der Satz: Sie dürfen so hinfällig und schwach sein, wie Sie sind; so wie Sie sind, sind Sie ein guter und wertvoller Mensch. Zu Hause aber, wenn der Sohn in der Mathe-Arbeit eine „5“ hatte, ist es vielleicht gar nicht angebracht, ‚ähnlich zu reden; da ist es vielleicht richtiger zu. sagen: wenn aus dir ‚was werden soll, mußt Du dich aber tüchtig auf den Hosenboden setzen. – Das sollte nur ein Mini-Beispiel sein, an dem ich klarmachen wollte: Pflegekräfte haben es ständig, hautnah und existentiell mit zwei gegensätzlichen Menschenbildern zu tun, zwischen denen man zerrieben werden kann wie zwischen Mühlsteinen, wenn man nicht gelernt hat, diese Konflikte geistig in den Griff zu bekommen. Wer im Blick hat, daß (wie gesagt) die „gemachte Trostlosigkeit“ von uns allen hergestellt, gefördert und gefestigt wird, kann erkennen, daß Mitarbeiter im Altenbereich notwendigerweise auf beiden Seiten vorkommen: auf der Täter- und auf der Opferseite. Ich behaupte: Eine Diakonie, die Tausende in solche Konflikte schickt und sie dort nicht intensiv begleitet, macht sich der mangelnden Aufsichtspflicht schuldig – oder geistiger Ausbeutung. Auch solche Unterlassungen vergrößern noch einmal die zur Rede stehende Trostlosigkeit.

Bitte erwarten sie jetzt nicht von mir, daß ich die Trostlosigkeit auflösen könnte. Gerade weil sie in hohem Maße von uns allen gemacht ist, wird es kaum möglich sein (es sei denn, wir ändern radikal unser Leben), sie zu beheben. Die Frage muß sein: Wie können wir sie angehen, ohne in ihr unterzugehen. Das erste ist das ehrliche Eingeständnis (ich sage es noch einmal): Ich habe keine Lösung. Ich kann die Trostlosigkeit nicht wegreden. Ich weiß keinen einleuchtenden “Trost“ anzubieten. Und dennoch möchte ich noch weiterreden, weil ich nämlich davon überzeugt bin: Es gibt eine Möglichkeit, die nicht wegzudiskutierende Trostlosigkeit erträglich zu machen, oder vorsichtiger: sie wenigstens ein bißchen erträglicher zu gestalten.

Wenn ich jetzt auf die Kreuzestheologie Luthers zu sprechen komme, dann ist mir jener Tucholsky-Satz nicht etwa ein unbequemes Warnschild; vielmehr sehe ich in ihm eine ausgesprochene Hilfe: Wer Luthers Theologie des Kreuzes liest und sich von vornherein vornimmt, jede Aufspaltung in zwei Überzeugungen (eine für die guten, eine für die schlechten Tage) streng zu vermeiden, der hat bereits eine wichtige Entscheidung Luthers mitvollzogen. Luther sagt (ich möchte es einmal wagen, den Extrakt der Lutherschen Kreuzestheologie in einen einzigen Satz zusammenzupressen), Luther zeigt hin auf das Kreuz von Golgatha und sagt: da bist du selig geworden – oder: da hat Gott für dich gesorgt,

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oder: da ist Gott mit dir und du mit Gott klargekommen. Natürlich ist das eine brauchbare „Überzeugung, wenn’s einem schlecht geht“: Der (ich bleibe beim Thema) altersschwache Mensch darf hören: Du bist okay, denn Christus ist für dich gestorben. Und daß ich nichts mehr arbeiten kann, und nichts mehr behalten, vielleicht auch nichts mehr bei mir behalten kann? Das ist so, aber dadurch bist du kein bißchen weniger okay.

Nebenbei gesagt: Auch heute wird Luthers Kreuzes-Theologie zuweilen noch immer mißverstanden, als sei sie eine dunkle, nach unten ziehende, den Menschen moralisch fertigmachende Angelegenheit. Das Gegenteil ist richtig. Originalton Luther. „Das ist die Kraft seiner Passion, daß sie kecke Leute macht .. Der Tod des Christus … macht andere Leute mutig“ (Luther EV V, S. 23). In heutigem Deutsch: Luthers Kreuzestheologie trainiert mit uns den „aufrechten Gang“. – Und wenn’s einem nicht schlecht geht? Wenn man sagen kann: ich bin wer, denn ich bin soeben befördert worden; ich bin wer, denn meine Kinder schafften das Abitur; ich bin wer, denn ich laufe die hundert Meter in zehn-sieben? Dann allerdings könnte Luther unpassend kommen: Das ist so, aber dadurch bist du kein bißchen mehr okay. Tu das alles an die Seite, wenn es um deine Lebensbasis geht; denn du bist wer, weil Christus für dich gestorben ist. Tatsächlich verdirbt Luther denen die Laune, die übermütig in ihrem Leben ohne Gott auskommen wollen, die, wenn sie überhaupt von Gott reden, dann von ihm erhoffen, er werde ihren Karriere- und Gesundheits-Rummel fördern und vor Schädigungen bewahren. Solches Götzenbild wird durch Luthers Kreuzes-Theologie allerdings nachhaltig zertrümmert. – Und das ist nicht etwa nur für den  sozusagen binnenkirchlichen Bereich wichtig. Nein, was Luther hier zerschlägt, ist das, was unser Miteinander in der Gesellschaft ruiniert: Die Starken brüsten sich mit Stärke, Ansehen und Erfolgen; und für die Ärmsten am Rande bleibt immerhin als Trost der liebe Heiland. Das macht uns kaputt; das macht unsere Gesellschaft zu einer gespaltenen Gesellschaft, zu einer Apartheidsgesellschaft, in der sich die Stärkeren über die Schwächeren erheben, die Jungen über die Alten, die Könner über die Nicht-Angepaßten. Das will Luther verhindern; er will das Getrennte zusammenbringen und versöhnen. Kurzum: Luthers Kreuzestheologie muß endlich begriffen werden in ihrer sozialtherapeutisehen Funktion.

Zu meiner und gewiß auch Ihrer Freude lassen sich diese wichtigen Tatbestände auch wesentlich anschaulicher erzählen. Wir müssen nur von Luther zu Lukas wechseln.

Der dritte Evangelist erzählt vom alten Simeon (Lukas 2, 25-35). Der kommt in den Tempel in dem Augenblick, als auch drei andere dort sind: Maria, Josef, das Kind. Die Eltern wollen für das Baby das Opfer darbringen, wie es damals üblich war. – Da tritt Simeon auf sie zu: Ein alter Mann, ein frommer Mann; darf ich auch sagen: ein geduldiger Mann? Ich weiß es nicht. Simeon wartete wie viele Menschen damals auf das Kommen des verheißenen Retters, des Heilandes. Gott wird ihn senden. Aber wann? Man wartete und hoffte. Simeon – wartete und hoffte. Nur war eine Sache bei ihm anders: Gott hatte ihm versprochen: Du wirst es noch erleben. Noch zu deinen Lebzeiten soll der Messias geboren werden; du wirst ihn leibhaftig sehen. Simeon wartete und hoffte. Sein Bart wurde länger, die Haare wurden weißer. War er geduldig? Wir wissen es nicht. Schon möglich, daß dieser fromme Mann hin und wieder ungeduldig dachte: Nun wird’s aber Zeit!

Jetzt trifft er diese drei: Maria, Josef, das Kind. Simeon weiß: Gottes Versprechen ist erfüllt: Hier ist der Retter. Dieses Kind ist der Heiland. Endlich! Ach, ist das gut! Und er nimmt das Kind auf seine Arme und ist völlig in Einklang mit sich, mit seinem Leben, mit seinem Gott.

Für mich gehört Simeon zu den faszinierendsten Gestalten der biblischen Geschichte. Ich möchte so glauben können wie Simeon. Ich möchte so wie er in Einklang sein gleichzeitig mit mir und mit Gott. Unglaublich schön ist dieses Bild: Der alte Simeon, das Jesuskind auf den Händen: Herr, jetzt ist alles gut. Der freie Simeon: Jetzt habe ich Frieden und brauche auch vor dem Sterben nicht zu erschrecken.

(- 45 -)

Ich werde bald sterben – ja und? Ich kann jetzt in Frieden Abschied nehmen. Denn das Wichtigste, was
ein Mensch überhaupt erleben kann, ich habe es erlebt: Ich habe mit meinen Augen deinen Heiland gesehen.

Komme ich ins Schwärmen? Steigere ich mich jetzt hinein in jene zweite Überzeugung für die schlechten, für die alten Tage, also in die religiöse Vertröstung? Ist vielleicht Lukas selbst ein Meister der Vertröstung? So könnte ihn nur der verstehen, der dem Evangelisten nicht weiter zuhört. Denn in seinem Evangelium erzählt er, viel später; noch von einem anderen Mann (Lukas 12, 16-21); auch der hat gesagt: Jetzt habe ich Frieden; jetzt kann mir nichts passieren; ach, ist das gut! Aber dieser andere Mann wird ein „Narr“ genannt. Und ich denke, von Simeon kann ich nur dann glauben lernen, wenn ich auch jenen zweiten Mann im Blick habe.  – Landwirt war er, Kornbauer oder besser: reicher Gutsbesitzer. Armut hatte er nie kennengelernt. Aber dann kam ein Jahr – wie aus dem Bilderbuch! Kom und andere Früchte wuchsen, es war eine Lust, die kommende Ernte heranreifen zu sehen. Die Scheunen müssen weg, sind viel zu läppisch. Großsilos müssen her, koste es, was es wolle – die Ernte bringt’s wieder rein. Und richtig: Alle Groß-Scheunen und Silos wurden voll, die Schulden sind bezahlt, unser Gutsbesitzer lehnt sich zurück, kann aufatmen; alle Mühe hat sich gelohnt. Nun habe ich Ruhe und Frieden für viele Jahre. Endlich! Ach, ist das gut!

Ein zweiter Simeon also? Das Gegenteil von Simeon! Der Gutsbesitzer konnte keineswegs in Frieden Abschied nehmen. Die Frage: wenn du heute Nacht sterben mußt, wem wird gehören, was du angesammelt hast?, diese Frage deckte seine Narrheit auf: Sein Lebensziel und sein Lebensinhalt waren volle Taschen; zugegeben: die hatte er. Aber er hatte vergessen: Das Totenhemd hat keine Taschen. – Simeon brauchte keine Taschen. Was ihn froh machte, kann man nicht in die Tasche stecken; es paßt nur in unsere Herzen. Und Simeons Herz war voller Freude und Frieden. Er hält das Gotteskind in den Armen. Er war nicht reich. Er war nicht jung. Er war weder erfolgreich noch konkurrenzfähig. Er war in Einklang mit Gott. Das war besser als alles andere.

Bei Lukas das gleiche wie bei Luther: Der Tod Jesu ist deine Lebensbasisin schlechten und in guten Tagen – oder gar nicht. Das Reich-sein-in-Gott war dem Simeon angeboten und dem Gutsbesitzer, beiden für ein ganzes Leben; wer allerdings in guten Tagen auf volle Scheunen setzt, kann auch, wenn es hart auf hart kommt, nicht in Frieden Abschied nehmen. Der Religions-Kitsch, den Tucholsky mit jenen zwei Überzeugungen bissig ironisiert, ist weder bei Luther noch bei Lukas unterzubringen.

Wer ist mein Vorbild? Simeon oder der Kombauer? Ist Gott mein Freund – dann muß auch die Armut nicht mein Feind sein, auch nicht Krankheit, Behinderung oder Alter. Oder ist die Armut mein Erzfeind, und etwas Schlimmeres ist für mich nicht denkbar? Dann habe ich nichts übrig für Gott. Denn ich kann nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon, dem gekreuzigten Gottessohn und den vollen Scheunen.

So wichtig Trost und innerer Friede sind – indem Lukas von Simeon und vom Kombauern erzählt, sagt er: Friede kann Gift sein. An dem Satz: „Ach, ist das gut, jetzt kann mir nichts mehr passieren!“, können wir Menschen auch verrecken; denn vielleicht ist da gar nichts gut; vielleicht ist da nur Lüge und Verführung. – Was heißt in meinem Leben „Friede“ und „Trost“? Lasse ich mich verführen; lasse ich mir vorlügen, ich könne sorglos und getröstet leben, wenn ich eine neue Stereo-Anlage oder einen schnittigen Wagen habe, wenn ich ohne Rollstuhl auskomme und nicht zu den Arbeitslosengeld-Empfängern gehöre? Oder lerne ich bei Simeon, was Friede in Wahrheit ist: Reich sein in Gott und darum die Kraft haben, wenn’s sein muß, alles andere loszulassen? Herr, jetzt könnte dein Knecht in Frieden sogar sterben, denn ich habe erkannt, daß du mein Freund bist.

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Zu Beginn dieses Gedankengangs zu Luther und Lukas hatte ich gesagt: Es gibt eine Möglichkeit, die nicht wegzudiskutierende Trostlosigkeit erträglich zu machen, oder sie wenigstens ein bißchen erträglicher: zu gestalten. – Wer könnte sie erträglicher gestalten? Jeder für sich, oder wir miteinander? – Dazu zwei Notizen:

Zunächst grundsätzlich: Ich halte es seit langen Jahren für die zentrale diakonische Aufgabe unserer Kirche (noch vor allem Geldsammeln, Häuser-Bauen und sozialberuflichem Tätigwerden), wieder glauben zu lernen, sich also beispielsweise Simeon schon in jungen Jahren zum Vorbild zu nehmen, oder: die erste Frage des Heidelberger Katechismus, nach der Jesus Christus der einzige Trost ist, schon im „Leben“ zu trainieren und nicht erst, wenn es dem „Sterben“ zugeht. – Darf ich mir für diese Tagung den Vorschlag erlauben, hiermit jetzt zu beginnen: indem wir uns Gedanken machen über den Trost für die „uns anvertrauten Menschen“, sollten wir offen auch davon sprechen, was uns denn „tröstet“ und hält. Leiten wir nur andere zum Schwimmen an, oder lassen wir uns selbst vom gleichen Wasser tragen? Und es kann sogar geschehen, falls ich wirklich mit ins Wasser gehe, daß (ich denke noch einmal an die alte Dame und ihr Pudding-Schälchen) – daß ich zum eigenen Schwimmen neu ermutigt werde, wenn ich sehe, wie sich andere ganz selbstverständlich vom „Wasser“ tragen lassen.

In meiner zweiten Notiz will ich den Versuch machen anzudeuten, wie das im Alltag unserer Einrichtungen aussehen könnte, wenn wir uns miteinander (Bewohner, Mitarbeiter, Leitung) daranmachen, die oft nicht wegzukriegende Trostlosigkeit gemeinsam zu bestehen.

Bei der Gelegenheit ist es für Sie vielleicht nicht uninteressant zu hören, bei welchem Ausdruck in Ihrer Zeitschrift „Johannesruf“ man stutzig werden kann, wenn man 64 Jahre zählt und bereits seit über vierzig Jahren pflegeabhängig ist. Als ich da (‚2/95, S. 14) auf „die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze“ stieß, fiel mir ein, was ich kurz zuvor in einem Bericht eines ZDL-ers gelesen hatte: „Ich kniete mich hin und zwängte meinen Zeigefinger in die engen Zwischenräume seiner rissigen, verwachsenen und brandigen Zehen – und pulte auch dort die Scheiße hervor. Vor zwei Tagen ist der Alte gestorben. Wir sind alle sehr zufrieden darüber“ (Jochen Temsch (Zivi, 23 J.), Das wird schon wieder, in: ZEIT -Punkte 2/95. S. 10). Vorstellbar wird für mich: ich bin demnächst jemand, vor dem einer von Ihnen knien muß, um zwischen meinen Zehen den Kot oder das verschüttete Gemüse herauszupulen. Vorstellbar wird für mich, daß Ihr Arbeitsplatz dadurch nicht gerade attraktiver wird. Vorstellbar also wird für mich: Vielleicht bin ich es. der Ihren ansonsten attraktiven Arbeitsplatz versaut. – Aber ich kann doch nicht dafür. Und auch Ihnen ist kein Vorwurf zu machen; natürlich haben Sie das. Recht auf einen attraktiven Arbeitsplatz, ich denke nicht daran, Ihnen das streitig zu machen. Nur: wie reimt sich beides zusammen? Ich weiß es nicht. Aber mir fällt noch jemand ein, der sich hinkniete und anderen zwischen den Zehen herumpulte. Im Johannes-Evangelium findet sich diese Geschichte, wie Jesus, wie der Gottessohn seinen Jüngern die Füße wäscht (Johannes 13, 1-17). Die hatten zwischen den Zehen vermutlich weder Kot noch Gemüse. mit Sicherheit aber – das ist bei den heißen und staubigen Wegen Palästinas kaum anders vorstellbar – ein unappetitliches Gemisch aus Sand und verkrustetem Fußschweiß. Jesus hatte keinen attraktiven Arbeitsplatz. Und: Er nennt gerade dieses Tun diakonisch.

Aber Vorsicht! Es wäre jetzt ein übler Kurzschluß, wollte ich hier fortfahren: Habt Ihr Mitarbeiter gehört, wie Jesus das machte? Also; stellt euch nicht an, verzichtet auch Ihr auf einen attraktiven Arbeitsplatz; andernfalls kommt Ihr als diakonische Mitarbeiter nicht in Frage. Mit solchen Sätzen hätte ich das heilige Evangelium als Peitsche mißbraucht, mit der ich auf Mitarbeiter eindresche. – Auch wenn ich hier keine Lösung weiß, möchte ich sagen, in welche Richtung ich denke. Meines Erachtens müßte zweierlei zusammenkommen: Auf der einen Seite tatsächlich Menschen. die bereit sind. eine deutliche Un-Attraktivität ihres Arbeitsplatzes mindestens auf Zeit in Kauf zu nehmen (Diakonie nach dem Modell der Fußwaschung). Das würde aber sofort zu einer Ausbeutung der Mitarbeiter führen, wenn das andere nicht hinzukäme: Strukturen, sorgfältigste Vorgesetzten-Auswahl, Bildung von sich

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besonders gut verstehenden Mitarbeiter-Teams und anderes – alles mit dem Ziel, diese Arbeitsplätze gewissermaßen von außen her attraktiv zu machen. – Ich wills konkreter fassen und erinnere an jenen ZDL: „Vor zwei Tagen ist der Alte gestorben. Wir sind alle sehr zufrieden darüber.“ So etwas muß doch zunächst einmal ausgesprochen werden dürfen. Dann aber muß auch etwas anderes legitim sein: Etwa als Mitarbeiter(in) nach einem freien Wochenende auf die Gruppe kommen, und schon im Auto oder noch früher spürte man in sich die Hoffnung, daß „der Alte“ nicht mehr lebt. Man kommt auf die Gruppe – er lebt immer noch! Sind jetzt Kollegen und Vorgesetzte da, denen man das sagen kann: „Ich bin richtig ein bißchen alle, ich hatte gehofft, Herr Meyer ist gestorben, ich kanns bald nicht mehr ertragen“, und von denen man dann nicht zu hören bekommt: stell dich nicht an, du willst ein Christ sein?, du taugst wohl nicht für Diakonie, wenn du so schlapp bist; sondern die dann vielleicht sagen: ich kann dich verstehen, mir ging es auch schon so? – Natürlich ist das sofort eine Frage nach der Personal-Struktur und der Personalmenge, ich weiß. Aber eins ist auch klar: Wenn wir von Mitarbeitern besondere Belastbarkeit erwarten,  ohne gleichzeitig durch flankierende strukturelle Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Belastungen einigermaßen erträglich bleiben, dann, haben die Einrichtungen diakonisch versagt, nicht die Mitarbeiter.

Jetzt, ganz zum Schluß, sollte ich doch noch einmal von meiner Rolle reden, in der ich den heutigen Vortrag hielt. Sonst könnten gerade meine letzten Ausführungen klingen wie kluge Ratschläge eines Ober-Diakonikers. Nein, der bin ich nicht; der will ich auch nicht sein: Ich sprach die ganze Zeit als Betroffener: als einer, der in zwei Monaten in Rente geht, als einer, der seit vierzig Jahren keinen Tag ohne Pflege auskommt, als einer, der kürzlich lebensgefährlich erkrankt war. In dieser Rolle muß ich es für möglich halten, daß ich eines Tages auf einer Ihrer Gruppen liege; ja, vielleicht bin ich dann irgendwann der „Herr Meyer“, von dem Sie hoffen, er ist am Wochenende gestorben – aber ich lebe.
noch immer. Mir ist es heute wichtig, solche Situationen in meinem Denken zuzulassen. Und Sie hätten mich richtig verstanden, wenn Sie meine Ausführungen als zweigeteilte Bitte gehört haben:
a) Laßt uns das „diakonische Hauruck“ gar nicht erst versuchen, also die Beteuerung, bei uns ist alles okay, macht bloß die Diakonie nicht schlecht!,
b) laßt uns miteinander aushalten, daß wir keine Ideallösung haben und auch keine Idealmenschen sind, keine Ideal-Alten, keine Ideal-Mitarbeiter, keine Ideal-Leitungen. Der alte Mensch muß wissen dürfen: ich bin (unter Umständen!) eine kaum noch erträgliche Zumutung. Und die Mitarbeiterin muß sagen dürfen: ich habe nicht so viel Geduld, wie sie für diesen „Herrn Meyer“ richtig wäre.
Wenn wir miteinander als unvollkommene, als fehlerhafte, als andere Menschen belastende Menschen Mut füreinander entwickeln, dann ist die Trostlosigkeit nicht einfach weg. Aber sie ist ein Stück weit erträglicher geworden, davon bin ich überzeugt.

—- Kürzel der zitiertenLiteratur—-

Bach Frau N =Ulrich Bach, Wer hat Angst vor Frau N.? Ein Kapitelchen abendländischer Befreiungs-Theologie, in:
Diakonie (DW der EKiD), 4/1987, S. 198-202

Bach Thesen = ders., „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal..5,1) – Thesen zu einer abendländischen Befreiungs-Theologie (ursprünglich: Evangelische DiakonenanstaIt Martineum, Beilage zum Monatsbrief Oktober 1987). Junge Kirche 49. Jg., 1988. S.478ff

Brecht Gedichte = Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, (Suhrkamp) Frankfurt/M. 1981

Feyerabend (u.a.) WN = E. Feyerabend, U. Fuchs, W. Kobusch, J. Paul, Erlaubt wird. was machbar ist. Vom Wahnsinn der
Normalität – die »Bioethik-Konvention«, in: Soziale Psychiatrie 2/94, S. 2-31

Jens-Küng MW = Walter Jens, Hans Küng, Menschenwürdig sterben, Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, Mit Beiträgen
von Dietrich Niethammer und Albin Eser, (Piper) München und Zürich 1995

Johannesruf 2/1995 = Evangelisches Johanneswerk e.V., Bielefeld (Hg.), Jobannesruf, Halbjahresschrift des Evangelischen
Johanneswerkes, 1995, Heft 2: Die Qualität der diakonischen Altenarbeit

Luther Ev V = D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. von E. Mülhaupt, Göttingen; Band V: 2. Aufl 1954

Neruda LW III = Pablo Neruda, Das lyrische Werk. Band 3 (hg. von Karsten Garscha) (Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1986), Büchergilde Gutenberg oJ.

Saarow Mem = Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow (DDR), April 1978; mehrfach gedruckt, z.B.: epd-Dokumentation Nr. 36a/78; Geiko Müller-Fahrenholz (Hg.), Wir brauchen einander, Behinderte in kirchlicher Verantwortung, Frankfurt 1979, S. 197ff; und: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD 1978/79; S.227ff

Schernus HL = Renate Schernus. Heiligkeit des Lebens – ein Märchen von Gestern?, Vortrag auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg, Forum Lebenswert und Lebensrecht am 15.6.1995, Manuskript

Schernus ÜMB = dies., Über-menschliche Barmherzigkeit, Eine Entgegnung auf Walter Jens und Hans Küng, in: Wege zum Menschen (Göttingen), 47. Jg., 1995, Heft 6, S. 362-370

Tucholsky AW II = Kurt Tucholsky, Ausgewählte Werke, Band 2, (Rowohlt) Reinbek bei Hamburg 1965

ZEIT·Punkte 2/95 =Theo Sommer (Hg.), Was darf der Mensch?, ZElT-Punkte 2/1995 (ZEIT-Verlag Hamburg)

Wie predige ich Heilungsgeschichten?

Ulrich Bach
Wie predige ich Heilungsgeschichten?
Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte

Vorbemerkung:

Seitdem ich nach dem dritten Theologie-Semester an meinen Rollstuhl kam, habe ich Theologie und Predigt oft als ermutigende und einladende Hilfe erfahren, oft aber auch als entmutigend und diskriminierend. Immer deutlicher wurde mir, daß dieses Zweite, also die störende, uns behinderte Menschen von der Gesamtgemeinde abspaltende, uns in die Objektrolle drängende Funktion von Theologie, stark herkommt von einer bestimmten Auslegungstradition der neutestamentlichen Heilungsgeschichten. Darum habe ich mich näher mit diesen Texten befaßt und dabei erkannt, daß die Evangelisten sehr anders über Behinderung und Heilung reden, als es in unserer theologischen Literatur üblicherweise dargestellt wird. Nun ist von niemandem, der eine Predigt anzufertigen hat, zu erwarten, daß er dazu mehrere längere Aufsätze studiert. Darum möchte ich ein paar von ihnen am Ende der vorliegenden Arbeit zwar nennen, im folgenden aber den Versuch machen, die wesentlichen Punkte zusammenzustellen und zwar so knapp, daß sie auch da praktisch von Nutzen sein können, wo nur relativ wenig Zeit zur Verfügung steht. – Bei der Fülle des Stoffes konnte ich die beiden Ziele „knapp“ und „praktisch“ miteinander nur verbinden, indem ich mich in der Text-Gestaltung der Form einer Gebrauchsanweisung näherte; das wird beim Lesen hoffentlich nicht allzusehr stören.
 

Entwurf eines Korrekturprogramms:

Wenn Sie eine Predigt, eine Auslegung oder Andacht geschrieben haben, nehmen Sie dieses Blatt zur Hand und gehen mit ihm Ihren Text noch einmal durch. Falls Ihnen eine Aufforderung zum Korrigieren Ihres Textes nicht auf Anhieb einleuchtet, lesen Sie bitte im nachfolgenden Text die Abschnitte mit den im Anschluß an die Fragen angegebenen Ziffern.

  • Habe ich als meine Aufgabe erkannt, (wie die Evangelisten) über Jesu Heilungen zu predigen angesichts der Tatsache, daß es in unseren Gemeinden (wie schon in denen der Evangelisten) Menschen gibt, die durch Jesus körperlich nicht geheilt werden? Oder bin ich dieser Aufgabe ausgewichen, indem ich die Krankheit als Bild für etwas „eigentlich“ Gemeintes auffaßte (uns allen fehlt oft „der Durchblick“; jeder fühlt sich zuweilen „wie gelähmt“)?
    (Gegebenenfalls ändern!) (4 / 9)
     
  • Habe ich Krankheiten und Behinderungen einen Teil „des Bösen“ genannt? Habe ich sie auf gottfeindliche Mächte (auf Dämonen) zurückgeführt?
    (Wenn ja – löschen!) (2 / 3 / 6 / 7)
     
  • Habe ich im Zusammenhang mit konkreten Krankheiten und Behinderungen Jesus als Arzt bezeichnet?
    (Wenn ja – löschen!) (8, 2.Hälfte)
     
  • Habe ich – etwa mit dem Slogan „Heil und Heilung“ – die Gesundheit des Menschen einen Teil des ihm zugedachten Heils genannt?
    (Wenn ja – löschen!) (vgl. 4)
     
  • Haben Kranke und Behinderte, sowie Menschen, die sich vor Krankheit und Behinderung fürchten, von mir die befreiende Froh-Botschaft des ersten Gebotes zu hören bekommen?
    (Wenn nein – nachtragen!) (1 / 5 / 10)
     
  • Haben Kranke und Behinderte den Satz: „Gott will, daß dieses Leben dein Leben ist,“ als repressives Gesetz hören müssen (der Allmächtige hat das so angeordnet; du hast kein Recht zur Klage; sei dankbar dafür, daß es dir nicht noch schlechter geht), oder haben sie ihn als subversives Evangelium hören können (wage in deiner belastenden Situation den aufrechten Gang; denn Gott kann und will mit dir etwas anfangen, wie mit jedem Gesunden auch; wer dir sagt, du seiest weniger, der hat gelogen)?
    (Gegebenenfalls ändern!) (1 / 4)
     
  • Verpflichtet meine Predigt Nichtbehinderte und Gesunde zu dem, was wir tun sollen und tun können (Kranke zu Jesus bringen; Behinderte tragen, Mk 2,3; Unterprivilegierte gerade dann einladen, wenn sie sich nicht revanchieren können, Luk 14,12-14), oder ergeht meine Predigt sich in hochtrabenden Zielen, die wir weder erreichen können noch sollen (unheilbar Kranke und Behinderte heilen)? Rief ich auf zu versuchter Nähe und Solidarität, ohne solches Bemühen in „Heilen“ umzulügen?
    (Gegebenenfalls ändern!) (5 / 9)
     
  • Habe ich Menschen davor gewarnt, die Gesundheit als unabdingbaren Bestandteil der Gnade Gottes zu verstehen; habe ich ihnen erklärt, daß dann bei (Teil-)Verlust der Gesundheit die Sorge entstehen muß, Gott habe ihnen jetzt seine Gnade entzogen?
    (Wenn nein – unter Umständen nachtragen!) (4 / 5)
     
  • Habe ich (vielleicht nur zwischen den Zeilen) „Nichtbehinderte“ und „Kerngemeinde“ miteinander identifiziert, ebenso „Behinderte“ und „Randgruppe“?
    (Wenn ja – löschen!) (5 / 7)

Erläuternder Text:

(1) Dem Evangelisten Markus verdankt die Christenheit einen großartigen theologischen Befreiungsschlag gegen die in der Antike üblichen Vorstellungen, Krankheiten und Behinderungen seien auf dämonische Kräfte zurückzuführen. – Matthäus und Lukas blieben – mit geringfügigen Abweichungen – auf dieser Linie.

(2) Markus unterscheidet sorgfältig zwischen „Besessenheit“ und „Krankheit“, entsprechend zwischen Dämonenaustreibung und Heilung. (7) – Die Ausnahmen (Mk 5,1ff und 9,14ff) können die hier vorgetragenen Thesen nicht widerlegen, was jedoch im Rahmen dieses Textes nicht nachgewiesen werden kann (vgl. aber: „Nachbemerkung“).

(3) Was Markus konkret unter „Besessenheit“ (unter „bösen Geistern“ usw.) verstand, läßt sich kaum sagen. Klar ist a: Wir dürfen hier nicht an psychisch Erkrankte denken; denn diese sind krank, und Kranke will Markus ja gerade von Besessenen unterscheiden (2). Klar ist b: Durch Besessenheit (durch unsaubere Geister) wird das Werk Jesu gestört (ob auch die betroffenen Menschen gestört wurden, bleibt vielfach offen). Klar ist c: Es gehörte zu Jesu Auftrag, alles Böse zu bekämpfen, dazu, daß er Dämonen austrieb, nicht aber auch, daß er Kranke heilte (10).

(4) Tatsächlich heilte Jesus Kranke; das war nötig, weil er nur so als Messias gepredigt werden konnte (vgl. Mt 11,2ff u.a.). Das Reich Gottes ist aber nicht da zu uns gekommen, wo Jesus heilt, sondern da, wo er Dämonen austreibt (Luk 11,20 par; dazu: 8, 1.Hälfte). Niemals ist körperliches Intaktsein Voraussetzung für die Teilhabe an Gottes Sache; eher im Gegenteil: Jesus sagt nirgends: wenn du nur eine Hand hast, dann hast du eine zu wenig für das Reich Gottes; er sagt allerdings: Wenn du zwei Hände hast, dann hast du möglicherweise eine zu viel für das Reich Gottes; hacke sie ab, wenn sie deine Nachfolge stört (Mk 9,43 par). So dürfte niemand reden, der von Gott den Auftrag hat, Behinderungen zu bekämpfen. Gottes Heil kann also in seiner irdischen Gestalt durchaus ohne des Menschen Gesundheit Gottes ganzes Heil sein, ohne jeden Punkte-Abzug. Daß sich für Behinderte in Gottes kommendem Reich einiges ändert, ist uns verheißen, aber das ist den Nichtbehinderten genauso verheißen: Gott wird „alles“ neu machen.

(5) Weil also Krankheit (im Gegensatz zur Besessenheit) keine Reich-Gottes-Störung bedeutet (3), gehören nichtbehinderte und behinderte Menschen in gleicher Weise zentral zur Gemeinde; beide sind gleichberechtigte Subjekte der Gemeinde Jesu, ohne daß die Behinderten zunächst noch in irgendeinem Sinne „geheilt“ werden müßten. – Eine Reich-Gottes-Störung bedeutet es aber, wenn wir das Gesund-Sein „über alle Dinge lieben“: wenn also wir einen sagen, unser Leben sei nicht lebenswert, weil wir behindert sind; und wenn die anderen sagen, ihr Leben sei nur solange lebenswert, wie sie ohne Blindenstock und Rollstuhl auskommen. Also auch die Aufgabe macht uns in der Gemeinde zu Gleichen: Wir stehen miteinander vor der Aufgabe, das erste Gebot zu trainieren, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben, ihm zu vertrauen. Damit sind wir alle in den gleichen Kampf gegen das „Hauptsache gesund!“ gestellt (10).

6) Von dem in „1“ behaupteten und in „2“ bis „5“ skizzierten Befreiungsschlag des Markus ist in der heutigen theologischen Literatur oft darum nichts mehr zu spüren, weil er bereits seit Augustin fahrlässig vertan wird. Bei Augustin gibt es die Behauptung, behinderte Menschen stammen von dem (von seinem Vater Noah verfluchten) Bösewicht Ham ab; das heißt: sie stehen den Nichtbehinderten gegenüber wie der verfluchte Ham seinen gesegneten Brüdern gegenüberstand; die einheitliche Gemeinde der Gleichberechtigten (5) wird damit abgelöst von einer gespaltenen Gemeinde (7 / 8)

7) Diese Ham-Theorie hat das gesamte Mittelalter in Wissenschaft, Theologie, Literatur und bildender Kunst stark geprägt: behinderte Menschen werden als böse Menschen verstanden oder als Menschen, die sich weitgehend in der Gewalt böser Mächte befinden; sie werden also, kraß gegen Markus (2 / 3), den Besessenen wieder gleichgeordnet: sie sind, solange Christus sie nicht von dem (angeblich) „Bösen“ frei macht, stärker von ihm getrennt als Menschen ohne Behinderung; so wie sie sind, können sie in der Gemeinde nicht gleichberechtigt sein (6).

8) Die (unbewußte) Übernahme dieser auf Augustin zurückgehenden unbiblischen Sichtweise wird in heutiger theologischer Literatur zum Beispiel da erkennbar, wo behauptet wird, Jesus habe bei den Heilungen die gottfeindlichen Mächte bekämpft (Kampfmotive finden sich bei den Evangelisten eindeutig im Zusammenhang der Dämonen-Austreibungen, nicht aber bei Heilungen, 2 / 3), oder wo entsprechend eine Heilung als Weltenwende, als Beginn der neuen Welt Gottes bezeichnet wird (so wird im Neuen Testament zwar von Dämonen-Austreibungen geredet, nicht aber von Heilungen, 4), oder wo Jesus im nicht-übertragenen Sinn der „Arzt“ genannt wird: Diese Jesus-Bezeichnung gibt es im Neuen Testament nur in einem Bildwort (Mk 2,17 par). Nach unserem Gefühl bietet sich bei Heilungsgeschichten das Wort „Arzt“ geradezu an; deshalb taucht es häufig in Predigten (und verwandten Texten) im Zusammenhang mit leiblichen Erkrankungen auf. Dieses Wort (mit dem gesagt wäre: Jesus hat nicht nur faktisch geheilt, sondern: das war typisch für ihn, zum Heilen ist er gekommen, Heilen war sein Job) wird im Zusammenhang mit Krankenheilungen von den Evangelisten sauber gemieden. – Laut Bibeltext ist Jesus also nicht darin unser „Arzt“, daß er Blinde sehend und Gelähmte gehfähig macht, sondern darin, daß er Sünder (uns alle) in seine Gemeinschaft ruft. Darum ist es ein Skandal, wenn heutige Theologen oft (ausgerechnet unter dem Stichwort „Arzt“, das uns zu Gleichbedürftigen und Gleichberufenen zusammenschließt) die Gemeinde Jesu in zwei Gruppen spalten: hier die (Normal-) Sünder und dort die anderen, die auf Jesu Einsatz zusätzlich noch in anderer Weise angewiesen sind: die Kranken und Behinderten (vgl. 6). Diese Gruppen werden damit theologisch diskriminiert: Daß Jesus uns nicht geheilt hat (voraussichtlich in diesem Leben nicht mehr gesund machen wird), müßte entweder heißen: Jesus will nicht unser Arzt sein (uns gilt seine Gnade nicht oder nur eingeschränkt), oder: Er kann uns (trotz Taufe, Gebet, Abendmahl) nicht Arzt sein, weil wir besonders hartgesottene Sünder sind. (Wir können uns nur dessen getrösten, daß das Endgericht anderen Instanzen als der Theologie vorbehalten ist.)

9) Oft weicht man solchen schlimmen Aussagen aus, indem man die in den Texten genannten Krankheiten in irgendeinem übertragenen Sinne versteht: wir alle sind „aussätzig“, weil wir so erzogen sind, daß uns irgend etwas an uns eklig ist (daß Jesus uns heilt, meint nun: er hilft uns dazu, uns nicht mehr zu schämen); die gekrümmte Frau wird verstanden als eine Frau, die in der Männerwelt den aufrechten Gang verlernte. Auf diese Weise werden wir den Bibeltexten nicht gerecht; zudem werden die tatsächlich in unseren Gemeinden lebenden behinderten Menschen wieder einmal übersehen (das geschieht keineswegs nur in der oft getadelten „Gesellschaft“): nicht von ihnen ist angeblich in der Bibel die Rede; darum brauchen sie auch in der Predigt keine ausführliche Erwähnung zu finden. Die Heilungsgeschichten werden so in ihr Gegenteil pervertiert: Diese Texte berichten davon, daß man behinderte Menschen zu Jesus brachte; die symbolische Auslegung aber erschwert es, daß behinderte Menschen in ihrer konkreten Situation Jesu Zuspruch hören können(5).

10) Unser oben genanntes Verhaftet-Sein in mittelalterliche Ideologie führt dazu, daß wir der gottlosen „Hauptsache-gesund!“-Mentalität (5) allenfalls halbherzigen Widerstand entgegensetzen können. Auch die Gründe für die Tatsache, daß man weder der Theologie noch unserer Kirche verbissene Energie abspürt, was Stellungnahmen zur neuen Euthanasie-Debatte (insgesamt zur sogenannten Bioethik) angeht, dürften ins Mittelalter und bis zu Augustin zurückgehen. Unsere Umkehr muß darin bestehen, daß wir bei Markus neu wieder lernen, daß die Heilungsgeschichten die Kreuzestheologie nicht widerlegen, sie auch nicht abschwächen, vielmehr ein Teil derselben sind. Nicht Krankheiten und Behinderungen sind vom Teufel; aber der Satz, Krankheiten und Behinderungen seien vom Teufel, dieser Satz stammt gewiß aus einer Fibel, an der die Dämonen gründlich mitgewirkt haben. Mag sein, bei solcher Buße wird erkennbar, worin „Besessenheit“ (unsere Ankettung) bestehen könnte.

Nachbemerkung:

Wer sich genauer über die hier angesprochenen Dinge informieren möchte, sei hingewiesen auf folgende Arbeiten: Boden unter den Füßen hat keiner. Plädoyer für eine solidarische Diakonie, Göttingen 1980, darin: S. 157-170 /  Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991, darin: S. 40-118 / „Gesunde“ und „Behinderte“, Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, (Kaiser) Gütersloh 1994 (KT 134), darin: S. 100-121 / Wie lange noch wollen wir fliehen? Einspruch gegen die unheilvolle These vom „Heilungs-Auftrag“, in: Diakonie (DW der EKD Stuttgart), 1993, S. 390-397 / Gottes Heil und unser europäisches Apartheids-Denken, in: Reiner Degenhardt (Hg.), Geheilt durch Vertrauen, Bibelarbeiten zu Markus 9,14-29, (Kaiser) München 1992, S. 141-157 (zu: Krankenheilung oder Dämonenaustreibung?) / „Diakonie zwischen Fußwaschung und Sozialmanagement“, in: Hans Bachmann und Reinhard van Spankeren, Hg., Diakonie: Geschichte von unten, Christliche Nächstenliebe und kirchliche Sozialarbeit in Westfalen, (Luther-Verlag) Bielefeld 1995, S. 15-55 (hier zur Verbindung von Ham-Theorie und Auslegung der Heilungsgeschichten: S. 30f.37-43).

Quelle: Ulrich Bach, Wie predige ich Heilungsgeschichten? Korrekturprogramm für Auslegungen biblischer Texte, in: DtPfrBl, 97. Jg., 1997, Heft 6, Juni 1997, S. 294-296

Unser Reden und Denken von Gott – und die Konsequenzen für unser Diakonisches Handeln

Ulrich Bach
Unser Reden und Denken von Gott – und die Konsequenzen für unser Diakonisches Handeln

Konvent der Diakoniegemeinschaft des Theodor Fliedner Werkes, Marienheide, 25. Oktober 1997

Liebe Schwestern und Brüder, zunächst drei Vorbemerkungen:

  • Bert Brecht hat einmal gesagt, es gäbe Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen sei, darum nämlich, weil es ein Schweigen bedeutet zu vielerlei Unrecht in unserer Welt. Verführt uns unser heutiges Thema zu einem Verbrechen in diesem Sinne? Reden wir, weitab von allem irdischen Getümmel, über Gott, über unser Reden von Gott und über die Konsequenzen solchen Redens so, daß wir gewiß einen interessanten Tag miteinander verbringen, aber die Geschundenen, die Übersehenen, die durch unsere egoistische Ellenbogen-Gesinnung unsichtbar Gemachten, werden heute auch von uns übersehen? – Sie können sich denken, weshalb ich mit dieser kritischen Frage beginne. Ich möchte dazu einladen, so über unser Reden von Gott nachzudenken, daß die „kleinen Leute“ ständig mit dabei sind. Nein, so ist es noch immer nicht richtig: Wenn ich dazu einlade, heißt das: Wir könnten es auch anders machen. Ich behaupte jedoch: Wenn wir es anders machen, ist das der Beweis dafür, daß wir falsch von Gott reden.
     
  • Mit dieser kühnen Behauptung bin ich schon bei meiner zweiten Vorbemerkung: Was verstehen wir unter Konsequenz? Zwei Beispiele: Wenn es an der Haustür schellt, hat das zur Konsequenz, daß einer aus der Familie die Tür öffnet. Oder: Wenn die dünne Porzellan-Tasse aus zwei Metern Höhe auf den Steinfußboden fällt, hat das zur Konsequenz, daß sie zu Bruch geht. Sie sehen sofort den Unterschied: Beim Klingeln muß ja niemand zur Tür gehen; wir könnten so tun, als hätten wir nichts gehört. Eine entsprechende Möglichkeit hat die Tasse aber nicht. Hier sind Fallen und Zerbrechen untrennbar miteinander verbunden. Beides wird sozusagen eine Sache, so daß man kaum noch von Konsequenz sprechen möchte. Ebenso verhält es sich bei unserem Reden von Gott. „Sage mir, wie du von Gott redest, und ich sage dir, wie deine Diakonie aussieht, etwa: was behinderte Menschen von dir zu erwarten haben, bzw. ob du etwas von behinderten Menschen [für dich] erwartest“ (Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, S. 196). Wenn in einem theologischen Gedankengebäude die „kleinen Leute“ beheimatet sein dürfen, als normal („gut“ und okay) vorkommen dürfen, setzt das ein bestimmtes Reden von Gott voraus. Bei einer total anderen Art, von Gott zu reden, kämen die „kleinen Leute“ nicht vor, allenfalls als unliebsame Gäste, die aber die Einheit dieses Denkgebäudes eigentlich stören. Ich hoffe, daß diese Grundthese meines Referats Ihnen in einer Stunde einleuchtet.
     
  • Bei der Vorbereitung auf dieses Referat stieß ich auf eine Thesenreihe, die ich 1984 verfaßt habe (also fünf Jahre vor Ausbruch der Peter-Singer-Debatte). Ich war selber überrascht, wie aktuell diese Thesen offenbar auch heute sind in der Zeit der Diskussionen um die sogenannte Bioethik. So möchte ich Ihr Einverständnis dafür voraussetzen, daß ich mich an diese Thesenreihe halte. Den acht Thesen entsprechend gliedere ich meinen Vortrag in acht Abschnitte und sage das jeweils deutlich, damit Sie, falls Sie etwas mitschreiben wollen, nachher wissen, zu welcher These die Notiz gehört. Die Ausführlichkeit der einzelnen Abschnitte ist übrigens recht unterschiedlich. Die ersten Thesen kommentiere ich ziemlich breit; damit sind dann hoffentlich so viele Dinge abgeklärt, daß es danach rascher geht. Ein paar Thesen kann ich sozusagen überspringen. – Mein Vorschlag wäre, daß wir nachher, zur Aussprache, die Thesen-Blätter verteilen. – Nun aber zum ersten Abschnitt:

1.
Lassen Sie mich sehr kritisch einsetzen: Es gibt weit verbreitet eine verhunzende Theologie. Damit meine ich eine Theologie, in der Hauptinhalte verballhornt, halbiert, amputiert werden; da gibt man einen durchaus richtigen Aspekt für die ganze Sache aus. Ich möchte das konkretisieren an den vier Größen (die uns auch im zweiten Abschnitt beschäftigen werden): Gott, Mensch, Kirche, Diakonie.

  • Von Gott wird so geredet, als sei er darin Gott, daß er irdisch-sichtbar allmächtig ist und an die Seinen Macht und Stärke verschenkt. Natürlich bestreite ich nicht, daß Gott Stärke, Macht, Gesundheit und vieles, was wir wünschen, schenken kann; der Fehler liegt darin, daß man so tut, als müsse er das ständig tun, als sei das sein Job. Indem er unsere Wünsche erfüllt, ist er Gott. Anders wollen wir Gott nicht denken. Andere Möglichkeiten, die es für Gott geben könnte, werden abgespaltet, amputiert, einfach nicht zugelassen. Denken Sie nur an unsere modernen Schwierigkeiten mit Golgatha und folglich auch mit der Lehre vom stellvertretenden Leiden des Gottessohnes. Mag ja sein, daß wir an dieser Stelle manche älteren Äußerungen von der Bibel her korrigieren müssen. Aber die Fixigkeit, mit der heute beteuert wird, ein Gott, der seinen Sohn in den Foltertod schickt, sei ein sadistischer Gott; ein Sohn, der sich das gefallen läßt, sei ein masochistischer Sohn, ist so unglaublich oberflächlich, daß man solche Sätze nicht mehr theologische Sätze nennen kann. Denn ihre Grundlage ist ein menschlicher Benimm-Katalog, von dem her wir Gott zensieren: So was tut man nicht, auch als Gott nicht.
     
  • Unser zweites Stichwort hieß „Mensch“; und Sie erinnern sich bitte an das, was ich eben über die „Konsequenz“ sagte. Wenn ich Gottes widersprüchliche Ganzheit, wie beschrieben, amputiere, eingrenze auf das, was mir paßt, dann muß ich entsprechend vom Menschen reden. Die Werte sind (durch unser Reden von Gott) vorgegeben: Stärke gilt als göttlich, womit logischerweise die Schwäche in unserer Theologie negativ qualifiziert ist. Das geht gar nicht anders. Wer die Stärke für Gottes Wesen hält, wer Gottes Stark-Machen als seinen Job ansieht, der kann in einem schwerstmehrfachbehinderten Menschen nicht seinen ihm völlig ebenbürtigen Partner sehen (wenigstens, solange seine Theologie einigermaßen folgerichtig bleibt). Eine Theologie, die von Gott als dem Starken und dauernd Stärke verleihenden Gott redet, diskriminiert zwangsläufig behinderte Menschen. Wie solche Diskriminierung aussieht, lernte ich im Volmarsteiner Berufsbildungswerk kennen.  Dort kommt es vor, daß man mit einem schwer behinderten jungen Menschen zwar eine Ausbildung wagt und beginnt, daß sich nach einiger Zeit aber herausstellt, dieses Wagnis war doch zu groß: Erwin wird auf dem heutigen Arbeitsmarkt niemals vermittelbar sein; also muß Erwin das Berufsbildungswerk verlassen. (Das ist noch keine Diskriminierung, sondern eine pädagogisch-sozialpolitisch offenbar notwendige Entscheidung; aber nun weiter:) Wenn ich dann im Religionsunterricht fragte: Wo ist Erwin heute?, bekam ich die Antwort: Den haben sie totgeschrieben. Klar: wenn Stärke „in“ ist, ist Schwäche „out“; wem der Stolz darauf, auch mit schwerer Behinderung die Ausbildung vermutlich zu schaffen, zur Lebensbasis gehört, für den ist Erwin gestorben: das ist angeblich kein Leben mehr. Schwach zu sein, ist in diesem Menschenbild unanständig. Schwache, alte, verwirrte Menschen sind hier die Ausnahmen, sie sind regelwidrig, unnormal. Wer will für diese Klientel schon Lobby sein? Verstehen Sie, das hat alles eine saubere Logik: Die heutigen Sparmaßnahmen im sozialen Bereich sind keine überraschende Ungezogenheit von Leuten, deren Weltanschauung bzw. Religion durchaus in Ordnung wäre. Nein, wer, wie beschrieben, vom Menschen und von Gott redet, der kann, ohne rot zu werden, Kürzungen im Sozialbereich vornehmen – das ist schlicht konsequent.
     
  • Dem allen entspricht natürlich auch unser Reden von der Kirche: Der allmächtige Gott, der stabile Menschen will, bedient sich, um dieses Ziel zu erreichen, seiner Kirche, die er hierzu mit Missions- und Heilungs-Auftrag ausstattete (manche sprechen gern vom Missions- und Diakonie-Befehl und berufen sich dazu auf den Missionsbefehl von Mt 28). Wir, die Christen, sollen die verlorenen Seelen retten und die kranken Körper heilen. Und wieder wird uns viel zu selten klar, daß dieses unbiblische Bild von der Kirche die Gemeinde Jesu spaltet, Schwächere an den Rand drückt. Augenfällig wurde das etwa bei der EKD-Umfrage von 1984 „Was wird aus der Kirche?“ Eine der Fragen lautete, für was die Gefragten am liebsten spenden würden. Die Zahlen für Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime lagen wesentlich höher als die für Kirchengebäudeerhaltung oder Orgel. Im offiziellen EKD-Kommentar heißt es dazu: „Die Meinung ist eindeutig: Die Kirchenmitglieder würden Geld eher für soziale und diakonische als für binnenkirchliche Zwecke geben“. Ist das nicht unglaublich? Kindergärten, Krankenhäuser und Altenheime gehören also nicht zu den „binnenkirchlichen“ Aufgaben. Das ist die Spaltung: Wer auf Hilfe angewiesen ist, gehört nicht in den Binnenraum der Kirche, sondern an den Rand.

    Diese Spaltung möchte ich aufzeigen auch an dem sogenannten Heilungsauftrag der Kirche. Nun habe ich so häufig und so ausführlich nachzuweisen versucht, daß sich der in der Theologie landauf, landab behauptete Heilungsauftrag der Kirche von einer sauberen Textexegese nicht halten läßt, daß ich es langweilig fände, das heute zu wiederholen. Heute möchte ich einmal hypothetisch voraussetzen: Okay, den Heilungsauftrag gibt es; aber wie jetzt weiter? „Heilungsauftrag“ kann ja nur heißen: Die Kirche hat den Auftrag, Blinde sehen, Gelähmte gehen, Gehörlose hören und Krebskranke ohne Befund sein zu lassen. Kommt so etwas vor, gehäuft vor? Mir hat noch niemand gesagt: Stehe auf und wandle. Und mir hat noch kein Behinderter erzählt, ihm sei so etwas gesagt worden. Die Kirche scheint den Heilungsauftrag, den sie behauptet zu haben, gar nicht auszuführen, wenigstens nicht umfassend. Ich stelle mir vor, die Kirche nimmt sich beim Wort und lädt zu Heilungsgottesdiensten ein. Allen Behinderten und Kranken wird zugesprochen, von dem, was sie einengt, ab sofort frei zu sein; denn Gott wolle nicht, daß sie so geschwächt und eingeschränkt leben. Logischerweise gibt es jetzt nur zwei Möglichkeiten: es klappt, oder es klappt nicht. Gegen die erste Möglichkeit hätte wohl kaum ein Behinderter etwas einzuwenden – höchstens dieses, daß die Kirche in dieser Hinsicht nicht schon längst aktiv wurde. Hier könnte eine Kirche ohne Spaltung sichtbar werden: Wir sind alle stark (die einen waren es schon vorher, die anderen sind es in diesem Gottesdienst geworden), keinem „fehlt“ noch etwas. Und bei der zweiten Möglichkeit (wenn es nicht klappt)? So sehr es Sie überraschen mag: auch hier könnte eine Kirche ohne Spaltung sichtbar werden: Wir sind alle schwach: Die einen sagen, wir möchten gern gehen, aber es geht nicht; andere sagen, ich würde gern sehen, aber ich kanns nicht; und die, die zu diesem Gottesdienst eingeladen hatten, müßten sagen: und wir wollen gern heilen, aber wir kriegen das nicht hin. Auch hier gäbe es keine Spaltung, nun aber nicht auf der Ebene der Stärke, sondern auf der der Schwäche. In den Blick käme die Kirche als die bunte Gemeinschaft der unterschiedlich begabten Hilfsschüler Jesu; wir können alle nicht so, wie wir wollen. Wir wissen: solche flächendeckenden Heilungsgottesdienste gibt es nicht. Und darum sehe ich für die Kirche nur zwei faire Möglichkeiten: Entweder gibt sie zu: Wir haben keinen Heilungsauftrag (das entspräche, wie gesagt, nach meiner festen Überzeugung den Bibeltexten) – hier wäre Raum für eine geschwisterliche Kirche der Behinderten und Nichtbehinderten; keiner ist besser oder schlechter, keiner ist normal und andere unnormal, alle sind gleichberechtigt und gleichbedürftig vor Gott und voreinander. Trotz aller Unterschiede im Körperlichen, im Geistigen, im Seelischen gibt es keinerlei Unterschied in der „Richtigkeit“ der Gottesbeziehung: auch ohne des Menschen Heilung kann ihm das Heil ganz gehören. Oder die Kirche sagt: Wir haben zwar einen Heilungsauftrag, aber dem sind wir in keiner Weise gewachsen; auch hier gäbe es keine Spaltung, denn wir sind (wie eben ausgeführt) die Gemeinschaft der Nicht-Könner.

    Die Kirche aber sträubt sich, einen dieser beiden Wege zu gehen, sie entscheidet sich für einen dritten: Wir haben einen Heilungsauftrag, und den führen wir auch ständig aus, womit jetzt gemeint ist: wir fördern behinderte Menschen je nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen. Dabei ist nicht nur an Behinderte gedacht. Horst Seibert führt in seinem Buch über das „Hilfehandeln“ alle Arbeitszweige des weitgefächerten Diakonischen Werkes auf das heilende Handeln Jesu zurück. Ist es sehr ungezogen, wenn ich in solcher Ideologie, ohne die Kirche, Theologie und Diakonie heute kaum zu denken sind, einen Etiketten-Schwindel sehe? Jesus brachte Blinde zum Sehen; wir bringen sie nicht zum Sehen, sondern in eine Blindenschule, behaupten aber, das sei doch in etwa das gleiche. Zudem muß man so etwas „zynisch“ nennen. Ein blinder Mensch steht vor der Aufgabe, sich klar zu machen: ich werde mein Leben lang blind bleiben; ich will versuchen, als Blinder mein Leben frohgemut zu gestalten (ich will von euch nicht in irgendein Lügennest hineingeglaubt oder hineindefiniert werden). Ist es nicht zynisch, hier zu widersprechen: Im Grunde haben wir dich doch geheilt, du hast jetzt sogar eine Arbeitsstelle. Der Unterschied zu einem sehenden Arbeitnehmer, und alle Mühe und Erschwernis, die damit zusammenhängt, wird von dieser Theologie einfach nicht ernst genommen. Verständlich; denn in dem Augenblick, wie sie sagen würde: wir haben dich nicht geheilt, müßte sie zugeben: wir können nicht heilen. Und diese Schwäche kann und will man offenbar nicht einräumen. Sichtbar wird damit die Funktion des angeblichen Heilungsauftrages: Er hilft zwar nicht den Behinderten (wie gezeigt, erschwert er im Gegenteil einem behinderten Menschen die mutige Lebensgestaltung), aber er tut den nichtbehinderten Christen gut: sie können sich in der starken Pose aalen: Wir haben einen Heilungsauftrag, und den üben wir fleißig aus. Saniert wird mit dem sog. Heilungsauftrag kein kranker oder behinderter Mensch, aber vielleicht das Ohnmachtsgefühl einer schlappen Kirche, die sich gern auf der Könner-Seite sieht.
     
  • Wie Sie merken bin ich längst beim vierten Stichwort: „Diakonie“. Wenn sie und solange sie von dem aufgezeigten Reden von Kirche herkommt, ist auch die Diakonie von der Spaltung befallen: Die Starken tun etwas für die Schwachen, anstatt mit den Schwachen zu leben, wobei jeder aufmerksame Mitarbeiter die Erfahrung machen wird: ich profitiere von diesem Miteinander genau so wie der sogenannte Klient. – In der Diakonie wird der Satz gern zitiert: Gott hat keine anderen Hände als unsere. Kaum einer sagt aber: Gott hat (wenn ich Hilfe brauche) ebenfalls keine anderen Hände als die meiner Mitmenschen. Vermutlich stimmen beide Sätze nicht; denn sie bestreiten, daß Gott, abgesehen von unseren menschlichen Händen, noch „eine andere Hand mit ins Spiel“ bringen kann. Aber wenn ich jenen ersten Satz sage, wird auch der zweite nötig; sonst behaupte ich ja: Auf mein Helfen ist Gott angewiesen, wenn es um andere geht; mir aber hilft Gott ständig ohne Mitwirken der anderen. Damit praktizierten wir eine Zwei-Klassen-Diakonie. Ich frage mich zuweilen, was eine so sich verstehnde Diakonie noch grundsätzlich unterscheidet von einem Tierschutzverein. Nun gut, bei uns werden keine Kaulquappen oder Singvögel geschützt, sondern Menschen; aber in beiden Fällen gibt es das krasse Gegenüber von Subjekten und Objekten. Von einer Kaulquappe erwarte ich nichts (oder fast nichts) für mich und für die Sinnfindung meines Lebens; aber sie verdankt ihr Leben meinem Einsatz. Im Schema „Hilfehandeln“ wäre das gleiche zu sagen auch vom Umgang etwa mit Schwerstmehrfachbehinderten.

Damit aber genug zu diesem ersten Abschnitt, in dem ich von einer spaltenden Theologie sprach, die ich aufzeigte an den Stichworten: Gott, Mensch, Kirche und Diakonie.

2.
Beim zweiten Abschnitt muß ich aufpassen, daß ich mich nicht wiederhole. Thema ist hier die nicht spaltende, die integrierende Theologie; die vier Stichworte sollen die gleichen sein.

  • Wenn ich richtig, wenn ich biblisch von Gott rede, darf ich nicht nur von seiner Stärke reden. Wenn ich den ganzen Gott benennen möchte, muß ich sagen: er ist auch grausam, dunkel, nicht verstehbar und leidend. Ich will mich hier beschränken auf das, was Theologen den „deus absconditus“ nennen, den verborgenen Gott. Bei Luther etwa ist klar, daß alles, was wir in unserer Welt kennen, bis auf das, was uns in Christus offenbart wurde, auf den „verborgenen Gott“ zurückzuführen ist: Sonne wie Regen, Glück wie Leid, Lachen und Weinen, Gesundheit und Krankheit. Erkennbar ist Gott nur in Christus, da ist er der offenbare Gott, der „deus revelatus“. – Ich könnte es verstehen, wenn Sie jetzt denken: Im Augenblick driftet er aber ins Abstrakte ab; jetzt redet er – im Sinne des Brecht-Zitats – von Bäumen und hat die „kleinen Leute“ vergessen. Aber nein! Gerade an diesem streng theologisch aussehenden Punkt läßt sich zeigen, wie nahe „Bäume“ und „Elend in der Welt“, saubere Theologie und die „kleinen Leute“ beisammen sind.

    Es gibt nämlich seit einiger Zeit Theologen, die Luthers Reden vom verborgenen Gott heranziehen, wenn sie von der Frage sprechen: Wie kann Gott das Leid in der Welt zulassen? Jetzt soll der verborgene Gott plötzlich das Leid in der Welt erklären, und nicht mehr, wie bei Luther, das unverständliche, uns ungerecht erscheinende, Nebeneinander und Miteinander von Glück und Leid. Jetzt wird der verborgene Gott benötigt, wenn die Frage ansteht: Warum kann der total gelähmte Peter niemals im Leben auch nur einen Happen selber zum Munde führen. Der verborgene Gott wird aber nicht benötigt, wenn wir fragen: Warum kann Boris Becker so toll Tennis spielen? Aber (und jetzt wird’s spannend!) wenn die Stärke des Sportlers nichts mit Gottes Verborgenheit zu tun hat, dann ja wohl mit seiner Offenbarung (eine dritte Möglichkeit gibt es nicht). Das heißt: Wenn ich beim „verborgenen Gott“ nicht an die scheinbar ungerechte Verteilung von Stärke und Schwäche denke, sondern nur noch an die Schwäche, dann bringe ich automatisch die Stärke auf die Seite des offenbaren Gottes; ich rücke die Kraft eines Sportlers und die geistigen Fähigkeiten eines Gelehrten in die Nähe von Gnade, Versöhnung, Heil; und unter der Hand stehen die Schwäche des körperlich und des geistig Behinderten in der Nähe von Ungnade (Verwerfung), Gericht und Unheil: Eine schrecklichere Spaltung kann es gewiß nicht geben. Und sie ergibt sich unmittelbar (denken Sie noch einmal an die „Konsequenzen“) aus einem bestimmten Reden von Gott. Wer richtig, biblisch von Gott redet, wer vom ganzen Gott redet, der wird umfassend vom verborgenen Gott reden: Wir wissen nicht, warum es uns vergönnt ist, Mitarbeiter in der Diakonie zu sein, warum es uns erspart blieb, lebenslänglich in einer Einrichtung der Diakonie versorgt werden zu müssen; und genauso wenig wissen wir, warum es bei den von uns Betreuten andersherum ist. Im Nichtwissen stehen wir beisammen, werden wir Geschwister.
     
  • Wer vom dunklen Gott redet, vom nichtverstehbaren, ungerecht erscheinenden Gott, hat die Möglichkeit, auch vom Menschen anders zu reden: der Mensch ist, als Geschöpf!, auch schwach, hilfsbedürftig, nicht ohne Leiden und Angst. – Zu diesem Punkt stelle ich einmal zwei außer-theologische Beispiele einander gegenüber. Der Bundesverband der Lebenshilfe formulierte in einem Grundsatzpapier (1990; zit: Westfalen Lesebuch, S. 239): „Es ist normal, verschieden zu sein. Behinderung ist eine besondere Form von Gesundheit.“ (Nebenbei gesagt: Dieser Satz wird zuweilen zitiert als ein Satz des ehemaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker; der hat ihn aber offensichtlich von der Lebenshilfe übernommen.) Warum fällt es der Theologie so schwer, genau so locker, nicht spaltend von Behinderungen zu sprechen? – Nun das andere Beispiel. Der Bochumer Philosoph Hans Martin Saß (und mit ihm andere Bioethiker) unterscheiden zwischen Mensch und Mensch, zwischen Menschen, die nur geweblich, organisch Menschen sind, und Menschen, die dank ihrer geistigen Fähigkeiten „Personen“ genannt werden können. Rechtlich geschützt und ethisch zu würdigen sind, so wird behauptet, nur die „Personen“. Ich halte es heute für eine dringliche Aufgabe von Theologie, Kirche und Diakonie, an dieser Stelle mindestens so laut Krach zu schlagen, wie sie es bei der Abschaffung des Buß- und Bettages getan haben; auf den können wir gewiß zur Not verzichten, aber auch darauf, daß jeder von einem menschlichen Vater Gezeugte und von einer menschlichen Mutter Geborene als Mensch im umfassen Sinne, als „Person“ also, anerkannt ist? – Im Zeitalter der sogenannten Bioethik scheint die Parole sinnvoll zu sein: Sage mir, wann du Krach schlägst, und ich sage dir, ob du Kirche bist oder bloß ein Verein zur Pflege religiöser Traditionen.
     
  • Beim Thema „Kirche“, der nicht-spaltenden Kirche, muß von vornherein klar sein: sie ist auch ein Haufe von Stolpernden, der Gottes Hilfe ständig für sich selbst nötig hat. Auch dazu nur zwei Punkte:
    • Seit 1975 hat die Ökumene das Thema aufgegriffen: Behinderte und nichtbehinderte Menschen gehören in der „Familie Gottes“ zusammen: „Die Einheit der Kirche muß die »Behinderten« wie die »Unbehinderten« einschließen.“ Bisher läuft vieles falsch: „Die Behinderten werden als die Schwachen behandelt, die bedient werden müssen, und nicht als völlig verpflichtete und integrierte Glieder des einen Leibes Christi …“. Dann kommt man auf „die gegenseitige Abhängigkeit aller Menschen“ zu sprechen und stellt die aufregende Frage: „Wie kann die Kirche sich dem Zeugnis öffnen, das Christus durch diese Menschen ablegt?“ (H.Krüger u. W.Müller-Römheld (Hg.), Bericht aus Nairobi. Ergebnisse, Erlebnisse, Ereignisse. Offizieller Bericht der fünften Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen.  Frankfurt (1976), 2. Aufl. 1976, S.28f). Behinderte Menschen also haben eine Mission an die Gesamt-Kirche, das ist deutlich eine total andere Perspektive als die stolze These vom Heilungsauftrag der Kirche behinderten Menschen gegenüber. Auf dieser Linie erkannte dann 1978 eine ökumenische Konsultation in Bad Saarow (DDR): „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht. Wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert“ (Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow, DDR, in: Jahrbuch DW EKD 1978/79; S.227ff; Zit.: S. 228).
       
    • Wenn ich die Dinge richtig sehe, geht es bei dem hier zur Rede stehenden Gegensatz (Kirche der Starken / Kirche als Familie Gottes, in der behinderte und nichtbehinderte Menschen ebenbürtig zusammengehören) um einen Gegensatz, der um 1930 zwischen Otto Dibelius und Karl Barth sichtbar wurde. Nach dem ersten Weltkrieg gab es viele Stimmen, die die Kirche priesen als Fels in der Brandung, als Hilfe in den Wirren der Nachkriegszeit. Schon 1920 widersprach Karl Barth einer solchen Position der Stärke: „So ist die biblische Kirche bezeichnenderweise die Stiftshütte, das Wanderzelt; von dem Moment an, wo sie zum Tempel wird, existiert sie wesentlich nur noch als Angriffsobjekt“ (Karl Barth, Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke , München 1920, S. 16). Und weiter: „Das ewige vermeintliche Besitzen, Schmausen und Austeilen, diese verblendete Unart der Religion, muß einmal aufhören, um einem ehrlichen grimmigen Suchen, Bitten und Anklopfen Platz zu machen“ (S. 26). Als dann Otto Dibelius ein Buch veröffentlichte mit dem markigen Titel: „Das Jahrhundert der Kirche“ (1928; daraus nur ein Zitat: „die Aufgabe der Kirche ist der Kampf! In eine Welt der Sünde ist sie hineingestellt, damit sie ihr (!) das Urteil Gottes verkündige“; zit: Karl Kupisch (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871 bis 1945, Siebenstern-Taschenbuch, München und Hamburg 1965, S, 237), konterte Barth mit einem Vortrag: „Die Not der evangelischen Kirche“ (1931, abgedruckt in: Der Götze wackelt, hg. Kupisch, Berlin 1961, S. 31ff). Etwa: „Kann und darf die Sichtbarkeit der Kirche unter dem Kreuz die Sichtbarkeit einer Schar in ihrer Geistlichkeit offenbar sehr reicher, mit vollen Händen aus einem wohlgefüllten Schatz austeilender Leute sein? Wo und wann und wie wird denn die Kirche der verlorenen, der geistlich bankerotten, der auf Barmherzigkeit angewiesenen und von Barmherzigkeit lebenden Leute sichtbar? (S. 52) Oder: [Oft muß man] „den Eindruck haben, als ob es mit dem Vorhandensein von allerlei Lebenskräften und mit dem Zirkulieren von allerlei Lebensströmen, was die Kirche betrifft, aufs Beste bestellt sei, als ob der Fehler nur draußen in der immer gleichgültiger werdenden, immer mehr verwildernden und sich zerreißenden Welt zu suchen sei. Und das geht eben nicht …! Wo ist eigentlich die Kirche, die selber in der Buße steht, die sie predigt, die von Luthers »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«, das sie so trefflich anzupreisen weiß, Gebrauch macht?“ (S. 52f).

      Mein Vikars-Vater Johannes Klevinghaus, lange Jahre Anstaltsleiter im Wittekindshof, sagte 1964 genau auf dieser Barth-Linie: Als Mitarbeiter in der Diakonie „sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“ (Ernst Brinkmann, Hg., Heil und Heilung, Gedenkbuch für Johannes Klevinghaus, Luther-Verlag Witten 1970, S. 61 f).
       
  • Sie haben es gemerkt: Ich leitete soeben über zur nichtgespaltenen Diakonie. Hier möchte ich berichten von einem Anstaltsleiter und dann von einer über 80-jährigen Anstaltsbewohnerin.
    • Karl-Adolf Bauer fragte in einem Vortrag, 1976: „Haben wir erkannt, daß die unserer Hilfe Bedürftigen nicht nur auf uns, sondern auch wir auf sie angewiesen sind, damit wir alle miteinander Menschen werden? Die Praktizierung einer solchen Gemeinschaft von Helfenden und Hilfsbedürftigen ist das Betriebsziel der Diakonie!“ (K.-A. Bauer, Diakonie am Wendepunkt, in: Die offene Tür, Mitteilungen aus den Diakonie-Anstalten Bad Kreuznach, Nr. 132, Dezember 1976, 9. Seite.) Ich halte fest: Hier wird das Miteinander klar betont. Aber weiter: Die törichte Frage, ob sehr schwer behinderte Menschen weniger „Menschen“ sind als wir anderen (s.o. zu H.M. Sass), wird unterlaufen: ein Mensch ist nie fertig, ein Mensch ist immer im Werden, Menschsein ist grundsätzlich ein Prozeß; und der ist bei uns allen in gleicher Weise noch nicht abgeschlossen; so hoffen wir, „miteinander Menschen (zu) werden (!)“. – Dieser Prozeß ist keineswegs ein Nebenprodukt der Diakonie, sondern wird geradezu das „Betriebsziel der Diakonie“ genannt; und das nicht so, daß wir von einzelnen reden (der eine bekommt eine neue Hüfte, der andere trotz Rollstuhl eine Berufsausbildung und der Mitarbeiter nach 25 Jahren Tätigkeit das Kronenkreuz in Gold), sondern so, daß die auch uns Mitarbeiter einschließende Gemeinschaft in den Blick kommt. Der andere ist noch nicht fertig, und auch ich bin noch nicht fertig ohne Diakonie! Der krasse Unterschied zu jener Hilfehandeln-Mentalität springt gewiß ins Auge.
       
    • Frau K., eine nichtbehinderte Teilnehmerin unseres Andachtskreises in einem Wohnheim für behinderte Menschen, wurde nach einem Krankenhausaufenthalt freudig im Kreis begrüßt, woraufhin sie sagte: Das müßt ihr mir glauben, ich habe euch auch richtig vermißt. Damit hatte sie der über 80jährigen Frau N. ein wichtiges Stichwort geliefert. (Noch einmal: Frau K. hatte gesagt: ich habe euch auch richtig vermißt. Und nun Frau N.:) Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt. – Ich konnte nur staunen und ihr und dem Kreis mein Staunen erklären: Wir Mitarbeiter haben das hohe Ziel, so fleißig für die Bewohner einer Einrichtung da zu sein, daß niemand die Pflegerin oder den Seelsorger, den Pädagogen oder die Ärztin „vermissen“ muß. Bei Frau N. lerne ich: es gibt auch den entgegengesetzten Blick. Frau N. weiß: auch sie ist jemand, den man möglicherweise vermissen kann. Nur, davon haben viele keine Ahnung: sie sorgen dauernd für uns, sie sind davon überzeugt: ohne die Nichtbehinderten würde den Behinderten vieles fehlen; aber kaum jemand gibt zu, daß auch den Nichtbehinderten ohne die Behinderten etwas fehlt. Frau K. hat das begriffen, sie sagt als Nichtbehinderte: ich habe euch vermißt. Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.

3.
Halten wir kurz inne! In zwei ausführlichen Abschnitten stellte ich zwei grundverschiedene Arten, theologisch von Gott, vom Menschen, von der Kirche und ihrer Diakonie zu reden, einander gegenüber. Ohne jeden Zweifel kommen behinderte Menschen und insgesamt die „kleinen Leute“ bei der zweiten Art der Theologie besser zurecht. Aber, so müssen wir jetzt kritisch weiterfragen: Ist das ein Argument, das in der Theologie Sinn macht? Könnten wir dabei nicht in einem uferlosen Relativismus landen: Jeder sucht sich aus, was ihm am besten paßt: Der Sportler kommt vielleicht besser klar in einer Theologie der Stärke (also in der ersten unserer beiden Arten), die Schwachen besser in der zweiten Art. Warum sollten sich nicht auch Musiker, Astronauten und Briefmarkensammler eine jeweils für sie passende Theologie zurechtschneidern? Klar, so geht es nicht. Aber wie geht es denn? Natürlich nur so, daß wir den in der Theologie einzig gültigen Maßstab anlegen: Welche Art der Theologie ist vom Zeugnis der Heiligen Schrift her legitim? – Übrigens war diese Zwischenbemerkung schon mein ganzer dritter Teil, und ich komme bereits zum vierten:

4.
Jede Theologie, vor allem jede evangelische Theologie vermag den Maßstab noch präziser zu benennen: Welche der beiden Theologie-Typen könnte sich auf das biblische Zeugnis von Jesus Christus berufen? Diese Rückfrage möchte ich jetzt nicht an alle vier Punkte richten, sondern nur (zunächst nur) an den ersten: Wie ist in der Person Jesu Christi von Gott die Rede? Da ich hoffe, meine These hat Sie überzeugt, daß mit dem Reden von Gott schon eine Vorentscheidung getroffen ist über unser Reden von Mensch, Kirche, Diakonie, ist die Eingrenzung auf den ersten Punkt sachlich wohl berechtigt. Ist Jesus der starke Held? Angekündigt wird er als der Retter der Welt, aber dann muß er (ich denke an die Flucht nach Ägypten) erst selber einmal gerettet werden. Wir kennen diese Geschichten und wundern uns nicht mehr viel über die Inhalte. Aber im Grunde ist das doch peinlich: Was für ein Gott ist das! Gott als Flüchtlingskind. Vor Jahren sagte ein Kollege, als wir über diese Zusammenhänge sprachen: Eigentlich ist das ein Skandal, wenn man bedenkt, was wir für’n Gott haben. – Oder denken Sie an die Weihnachtsgeschichte bei Lukas. Gelegentlich sprachen wir im Volmarsteiner Andachtskreis über den Ausdruck: „Weg damit!“ Behinderte Menschen empfinden gelegentlich so: was willst du hier, du störst, du kannst ja doch nichts; weg damit! Und dann fiel uns Lukas 2 ein: Auch die beiden aus Nazareth störten, erst recht, als man merkte, Maria ist hochschwanger. Weg damit, ab in den Stall. Da kam der Heiland zur Welt. Gott wurde selber ein „weg damit!“: Denn sie hatten keinen anderen Platz in der Herberge. Der erste Petrus-Brief nennt später Jesus den Stein, den die Fachleute „verworfen“ haben, wieder: weg damit! Aber zurück zu Lukas 2! Bei der Botschaft des Engels denkt man zunächst an die Theologie der Stärke: Er kündigt den Herrn in der Stadt Davids an. Und bei der unmittelbaren Fortsetzung wird man gespannt: Und das habt zum Zeichen; jetzt werden also die Erkennungszeichen Gottes genannt, die Königsinsignien des „Herrn in der Stadt Davids“: Ihr werdet finden ein Kind (keine Macht, eher Ohnmacht), in Windeln gewickelt (die blieben auch beim Gotteskind nicht trocken; die Rede ist hier von der Hilfsbedürftigkeit Jesu) und in einer Krippe liegen (jämmerliche Armut). Verstehe, wer kann: Gottes Kennzeichen in dieser Welt sind nicht Macht, Stärke und Reichtum, sondern Ohnmacht, Hilfsbedürftigkeit und Armut.

Nun gut, könnte man einwenden, wir haben alle mal klein angefangen; später aber war er doch der starke Heiland. Wirklich? Angefeindet ist er, zuweilen gerade da, wo er eine Heilung vollzogen hat: ich denke an die Heilung des Blindgeborenen, durch die sich Jesus Ärger einhandelt (Joh 9). Zudem sagt Jesus von sich, er sei ärmer als Fuchs und Vogel (Lk 9,58). Und dem entspricht das Ende seines irdischen Weges. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß da, wo Jesus das große Werk zu unserer Rettung tut, auf Golgatha, daß sich gerade da die Hinweise auf seine Hilfsbedürftigkeit häufen? Man hat deutlich den Eindruck, Markus etwa legt Wert auf diese Sache, denn er betont sie auch da, wo es absolut nicht nötig ist. Ein Mißverständnis muß dafür herhalten, die Hilfsbedürftigkeit zu erwähnen. Jesus ruft: Eli, Eli; manche verstehen, er rufe den Elia und sind gespannt, „ob Elia komme und ihm helfe„! Zuvor hatte Simon von Kyrene ihm helfen müssen beim Kreuztragen. Mk 15, 31 lesen wir: andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Am auffälligsten ist sicher die Erwähnung der Frauen, die von ferne stehen; Markus hätte über sie nichts weiter sagen müssen; wenn er aber Galiläa erwähnen möchte, hätte er sagen können: sie waren schon in Galiläa seine Zuhörerinnen; oder: die sind von Galiläa aus mit hierher gewandert; nein, Markus sagt: diese Frauen hatten ihm in Galiläa „gedient“. Diese Notiz ist für den Fortgang der Kreuzigungsgeschichte absolut nicht nötig; offenbar ist sie aber für das Predigtanliegen des Evangelisten unabdingbar. Markus will unüberhörbar den in die Hilfsbedürftigkeit heruntergekommenen Gottessohn predigen.

Aber aufgepaßt! Markus predigt hiermit keineswegs einen schlappen Gott. Nein, auf dem Weg der unüberbietbaren Hilflosigkeit schafft er unser Heil: Der Vorhang im Tempel zerreißt, der das Allerheiligste vom Rest der Welt abtrennte: Jeder hat ab sofort unmittelbaren Zutritt zu Gott. Und der heidnische Hauptmann ist der erste, der davon Gebrauch macht: Er bekennt sich unter dem Kreuz zu Jesus als dem Gottessohn. Was Paulus im zweiten Korintherbrief sagt, müßte man zweimal sagen und jeweils anders betonen: Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung. Aber eben auch: Gottes Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung (IIKor 12,9).

5.
Wir kommen zum Abschnitt 5. Auch wenn ich sagte, daß ich von der Überlegung, wie von Jesus Christus her über Gott zu reden sei, nicht die drei anderen Punkte unter der Perspektive „Konsequenz“ beleuchten will, für den vierten Punkt, also für die Diakonie, möchte ich es doch tun – im Thema ist die Diakonie ja besonders genannt. – Klar ist gewiß von vornherein: Eine Diakonie, die ehrlich herkommt von der Art, in der das Neue Testament von Jesus predigt, muß auf alles verzichten, was man „Heldenpose“ nennen könnte: Jedes Gegenüber von starken Helfern und schwachen Hilfeempfängern, alles einseitige Hilfehandeln, das die eigene Bedürftigkeit und Dürftigkeit verdrängt, vergeht wie der Schnee in der Sonne. Denn in der Person Jesu wird deutlich: Stärke ist nicht besonders göttlich; Schwäche ist kein Makel; Hilfsbedürftigkeit ist nicht schlimm. Anders gesagt: Sich helfen lassen zu müssen ist genau so „göttlich“, wie anderen helfen zu können. Das rückt in der Diakonie Mitarbeiter und Versorgte radikal zusammen. Denn unmöglich geworden, durch unser „Aufsehen auf Jesus“ (vgl. Hebr. 12,2; der ganze Vers scheint mir diakonisch bedeutsam) unmöglich gemacht, ist es, im diakonischen Alltag Jesus einseitig auf der Seite der Helfer zu sehen (im Sinne von: Jesus half den Schwachen, somit ist Helfen göttlich); Jesus ist ebenso (kein bißchen weniger) auf der Seite der Hilfbedürftigen (im Sinne von: Jesus mußte sich helfen lassen, somit ist es göttlich, auf Hilfe angewiesen zu sein). Darf ich’s so sagen: Die Botschaft von Jesus verdonnert uns zu einer Geschwisterlichkeit, in der jedes Festklopfen von Oben und Unten Verweigerung der Nachfolge Jesu bedeuten würde.

Erlauben Sie, daß ich Ihnen an dieser Stelle eine persönliche Begegnung erzähle, eine für mich spannende Begegnung mit einem theologischen Satz. Zuweilen wird mir gesagt, meine Thesen und Veröffentlichungen seien sehr neu und aufregend. Meine Antwort ist regelmäßig: das sehe ich anders; ich trage doch nur zusammen, was jeder etwa bei Markus und bei Paulus, bei Luther und Barth nachlesen könne. Nur eine Ausnahme gab ich zu: Die starke Betonung der Hilfsbedürftigkeit Jesu, und die Behauptung, von der Hilfsbedürftigkeit Jesu her müsse sich unser übliches Reden von Diakonie gründlich ändern, dieses beides hätte ich so nirgendwo sonst gefunden. Und dann, eines Abends, fand ich’s zufällig doch. Ich las, unter einer ganz anderen Fragestellung, Wicherns Gutachten von 1856 und begegnete darin unvermutet folgendem Satz: Christus »ist nicht bloß das Subjekt der Diakonie; seine Liebe erfüllt sich (!), indem er sich zugleich als Objekt derselben ergibt« (in: J.-H. Wichern, Sämtliche Werke, hg. von P.Meinhold, Bd.III/1, 1968, S. 132). Jesus, der Bedürftige, Jesus als „Objekt“ der Diakonie. Und das nicht als bedauerliche Ausnahme von der eigentlich geltenden Regel, so als wollte Jesus am liebsten der ständig Helfende sein, aber leider geriet er zwischendurch in Situationen, in denen er Hilfe nötig hatte. Nein, das gehört notwendig und gewollt mit zu Jesu Liebestätigkeit: Darin „erfüllt“ sich seine Liebe; das heißt doch: Wäre Jesus immer nur kraftvoll der helfende Heiland gewesen, dann wäre seine „Liebe“, seine „Diakonie“, nicht vollständig gewesen! Von einer Diakonie, die herkommt von Jesu Diakonie, muß das gleiche gelten. Wer meint, immer nur helfen zu sollen, wer allein im „Hilfehandeln“ das Wesen der Diakonie definiert sieht, wer als Schwäche bei sich selbst allenfalls das Eingeständnis gelten läßt, daß er mit dem Helfen nicht fertig wird, wer sich weigert zu erkennen: ich vermisse die mir Anvertrauten gelegentlich, denn ohne sie würde mir etwas fehlen, der mag von einem großen humanitären Ideal sprechen (vielleicht aber auch nicht, denn vermutlich landet man mit diesem „Ideal“ rascher als gedacht beim Burn-Out), aber von der Diakonie, wie sie von Jesus gelebt wurde und wie sie von uns wenigstens versucht werden sollte, hat er keinesfalls geredet. – Was Rolf Zerfaß von der Caritas sagt, hat daher auch für die Diakonie Gültigkeit: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen.“ (Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, (Herder) Freiburg, 1992, S. 15). Vereinfacht ausgedrückt: Die vorhin genannte Frau K. kann den Bewohnerinnen des Hauses nur helfen, wenn sie, Wochen von ihnen getrennt, sie ehrlich vermißt, wenn sie neben dem Satz „die brauchen mich doch“ als gleichwichtig den Satz zuläßt: „und ich brauche Frau N. und die anderen ebenso“.

6 und 7.
Die eingangs genannten Thesen, von denen her ich mein heutiges Referat gliedere, trug ich in der Heidelberger Universität vor. Damit ist gegeben, daß ich in zwei Thesen (6 und 7) auf das Verhältnis zwischen praktischer Diakonie und Universitätstheologie einging. Das möchte ich, bis auf eine Sache, überspringen.

  • Nicht überspringen möchte ich die Anfrage, ob wir in der Diakonie nicht die Theologie zu wenig in die Pflicht nehmen und ihr damit erlauben, immer abstrakter zu werden. – Ich denke an eine Tagung mit Religionslehrer(inne)n aus Sonderschulen. Deren Not bestand unter anderem darin, daß sie auf die von schwerbehinderten Kindern gestellte Warum-Frage theologisch nicht zu reagieren wußten. Uns wurde klar: Wenn die Theologie Stärke für göttlich und Schwäche für einen Makel ansieht, ist man selbstverständlich bei solcher Warum-Frage mit seinem Latein am Ende. Auf dieser Tagung ging mir auf: Bei der Vokation schickt unsere Kirche diese Lehrkräfte mit einem theologischen Rüstzeug in die Sonderschulen, in denen sie mit diesem Rüstzeug scheitern müssen. Das gleiche gilt unter Umständen auch von diakonischen Mitarbeitern. Damit will ich sagen: Wir an der religions-pädagogischen und der diakonischen „Basis“ sollten der Universitätstheologie gegenüber wesentlich kritischer und offensiver werden. Diakonische Mitarbeiter sollten Mut entwickeln, alles, was sie theologisch gelernt haben, von ihrer Praxis her kritisch zu sichten. Und sie sollten andererseits den Mut haben, das, was sie an ihrem Ort über Gott und Gemeinde, über Schöpfung und Hoffnung, über Jesus und Nachfolge verstehen lernen, als „Theologie“ zu begreifen, als etwas so Wichtiges, daß eines Tages vielleicht sogar die Professoren davon lernen werden. Und immerhin gibt es schon heute Professoren, die uns in solchem Unternehmen bestärken. Dazu noch einmal Rolf Zerfaß: „Wer heute acht Stunden in der Station für desorientierte alte Menschen oder im Heim für Mehrfachbehinderte aushält, hat jedem akademischen Theologen einen Leidens- und Erfahrensvorsprung voraus, der in Theologie und Kirche Gehör verdient. Er besitzt eine Autorität, die ihm kein Diplom und keine Weihe zu geben vermag“ (Zerfaß a.a.O., S. 74).

    Was hieße das für den theologischen Unterricht in Diakonenschulen? Könnten diese Ausbildungsstätten nicht wesentlich selbstbewußter arbeiten? In den dreißig Jahren meiner Lehrtätigkeit im Martineum ist uns wohl immer bewußt gewesen, daß wir kein Mini-Theologie-Studium anzubieten haben. Aber kamen wir wirklich frei von dieser Vorstellung? War nicht doch der Student im dritten oder vierten Semester unser Wunschtraum, wenn wir an unsere Examenskandidaten dachten? Hatten wir den Mut, von unseren Begegnungen mit Frau N. und all den anderen eine eigenständige Theologie zu entwickeln, die sich herausnimmt, auch Professoren gelegentlich heftig zu widersprechen? Was in der Diakonie an Theologie erkannt und formuliert werden könnte, kann keine Universitätstheologie auf die Beine stellen. Entweder formulieren wir es oder es wird nicht formuliert; das hieße: unsere Schätze und Möglichkeiten werden von uns selbst nicht ernst genommen und gehen damit der Kirche und ihrer Theologie verloren. – Es ist gut, daß ich die letzten Sätze leicht korrigieren muß: Denn es gibt hin und wieder Professoren, die mit ihren Seminaren in Kliniken und Behinderten-Einrichtungen gehen, um dort mit Patienten und Bewohnern zu sprechen, um von ihnen zu lernen. Wenn ich die Dinge nicht völlig falsch sehe, prägt diese viel versprechende Praxis aber noch keineswegs das Wesen heutiger Universitätstheologie.

8.
Es bleibt noch die achte These. Es geht da wieder um die „Konsequenzen“; diesmal aber gehe ich den Weg in umgekehrter Reihenfolge: von der Diakonie hin zum Einzelmenschen. Wenn das Gespräch zwischen Theologie und Diakonie nicht intensiver als bisher geführt wird, verkommt die Diakonie zu einem Anhängsel an die Gesamt-Theologie; die Diakonie in den Gemeinden wird entsprechend zum Anhängsel an die übrige Gemeindearbeit, und die kranken und behinderten Menschen werden zu Anhängsel-Existenzen an die übrige Bevölkerung. Und damit sind wir bei einer heute weit verbreiteten inhumanen These: Es gibt normale Menschen und es gibt unnormale Menschen, „Personen“ und nur noch vegetierende biologisch menschliche Wesen (vgl. noch einmal H.M. Sass, s.o.). Daß die Bioethik, die Peter-Singer-Debatte und anderes sich so großer Publizität erfreuen können, geht somit auch „auf die Kappe“ von Theologie und Kirche. Denn auch die Theologie (davon war ausführlich die Rede) macht schwerstbehinderte Menschen zu Ausnahme-Existenzen, die angeblich von Gott so nicht gewollt sind. Sind wir wirklich so naiv? Wenn wir sagen: Gott will nicht, daß Menschen so leben, dürften wir uns eigentlich nicht wundern, wenn andere das nur ein bißchen anders sagen: Wir wollen nicht, daß so Menschen leben. – Wer heute verantwortlich Theologie betreibt, redet keineswegs (um noch einmal an Brecht zu erinnern) von Bäumen, sondern er muß sich der politischen Dimension und der politischen Implikationen und Folgerungen seiner Arbeit bewußt sein. Sonst könnte es passieren (ich fürchte: es geschieht bereits), daß Theologie und Kirche durch ein unbiblisches Reden von Gott unbeabsichtigt Wasser auf die Mühlen der Euthanasie-Befürworter leiten. Kein Theologie-Treibender kommt um die Frage herum: Richte ich etwas aus, oder richte ich etwas an? – Ich weiß: Die letzten sehr ernsten Sätze sind kein schöner Vortrags-Abschluß. Aber ich halte sie bei der Brisanz unseres Themas gerade deshalb für passend.

Hauptsache gesund?  Der Glaube an die Machbarkeit einer von Krankheit freien Welt

Studientag am 20. Oktober 1997 in Stuttgart
(Diakonisches Werk
der evangelischen Kirche in Württemberg e.V.)

Wer zu Ende Oktober um ein theologisches Referat gebeten wird (ganz gleich, zu welchem Thema), ist gewiß gut beraten, wenn er sich von der Nähe zum Reformationsfest dazu einladen läßt, die reformatorische Theologie bewußt zur Grundlage seiner Ausführungen zu wählen. Dabei verstehe ich „Reformation“ im Sinne der alten Erkenntnis, nach der es bei ihr um einen nie abgeschlossenen Prozeß geht. Lateinisch sagt man: ecclesia semper reformanda, das meint: Kirche ist grundsätzlich eine Größe, die ständig eine stetige Rückbesinnung nötig hat. Allerdings: Wenn sie Reformation grundsätzlich und immer nötig hat, dann ist Kirche also grundsätzlich unfertig, bedürftig, hier und da vielleicht krank. Kurzum: Das Stichwort „Reformation“ soll unsere Blicke nicht auf die Zeit von vor 480 Jahren lenken, soll uns kein Anlaß sein, die alten Geschichten von Tetzels Ablaßhandel, also damalige innerkirchliche Krankheits-Symptome, zum abertausendsten mal zu wiederholen, vielmehr wollen wir von heute reden: Worin ist unsere Kirche erneuerungsbedürftig; wo sind wir in Gefahr, Irrwege zu gehen? Im Blick auf das Thema dieses Nachmittags wird Sie meine These nicht verwundern: Kirche und Theologie sind heute in der Gefahr, die Gesundheitsvergottung mitzumachen, die sich in unserer Gesellschaft zum Beispiel ausdrückt in dem häufig gebrauchten Wunsch: „Hauptsache gesund“; diese Gefahr ist nur zu bannen durch eine ehrliche Umkehr zur biblischen Botschaft, wobei Luthers Theologie uns wichtige Hilfen bieten kann.

Wer sich einmal mit der Geschichte der Reformation befaßt hat, weiß, daß für die Reformatoren Hand in Hand gingen: biblische Besinnungen, praktische Alltagsfragen, systematisch-dogmatische Streitfragen, kritische Blicke in die Kirchengeschichte und politische Impulse. Mein Vortrag möchte diese bunte Fülle ein bißchen übernehmen:

  • Einsetzen möchte ich im Alltag unserer Gemeinden und dem dort praktizierten Miteinander (oder Nebeneinanderher) von behinderten und nichtbehinderten Menschen. (Nebenbei: Ich komme beruflich her aus der Behindertenhilfe; aus diesem Bereich stammen meine Veranschaulichungen; die Übertragung auf andere diakonische Arbeitsfelder dürfte gewiß nicht schwerfallen.)
  • Dann werde ich die Thematik an unsere Theologie weitergeben.
  • Anschließen sollen sich Rückfragen an den Bibeltext.
  • Nötig wird dadurch ein Blick (oder auch mehrere) in die Kirchengeschichte; ich werde von Augustin und von Luther zu reden haben.
  • Zum Schluß soll noch einmal der Alltag zur Sprache kommen, wobei ich auch politische Fragen ansprechen möchte. – Aber nun der Reihe nach!

I)
Blicken wir auf den Alltag unserer Gemeinden! Niemand kann widersprechen, wenn beklagt wird, daß für behinderte Menschen nicht genug getan wird. Trotzdem möchte ich diese Kritik heute einmal nicht vertiefen, vielmehr frage ich: Geht diese berechtigte Klage überhaupt in die richtige Richtung? Denn sie setzt ja voraus: Wenn genug für Behinderte getan würde, wäre alles okay. Und das stimmt so nicht. Ich erzähle kurz von zwei Menschen, bei denen man lernen kann, daß das so nicht stimmt: von dem Theologie-Professor Eberhard Jüngel und von der alten Frau N. aus dem Volmarsteiner Andachtskreis.

Eberhard Jüngel schrieb einmal, das alte „suum cuique“ (zu deutsch: jedem das Seine) müsse auch in seiner aktiven Ausdeutung praktiziert werden. Das heißt: Es kann nicht genug sein, wenn jeder das zugeteilt bekommt, was er unbedingt braucht – damit könnte er Objekt unserer Versorgung bleiben; nein, er muß auch die Möglichkeit haben, selber die eigenen Anlagen und eigenen Begabungen aktiv in das große Miteinander seiner Gruppe, seiner Gemeinde, seines Staates einzubringen [1].

Frau N. sagte das gleiche sehr konkret. Frau K., eine nichtbehinderte Teilnehmerin des Andachtskreises, wurde nach einem Krankenhausaufenthalt freudig im Kreis begrüßt, woraufhin sie sagte: Das müßt ihr mir glauben, ich habe euch auch richtig vermißt. Damit hatte sie der über 80jährigen Frau N. ein wichtiges Stichwort geliefert. Sie sagte drei kurze Sätze, aber die hatten es in sich. (Noch einmal: Frau K. hatte gesagt: ich habe euch auch richtig vermißt. Und nun Frau N.:) Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt. – Ich konnte nur staunen und ihr und dem Kreis mein Staunen erklären: Wir Mitarbeiter haben das hohe Ziel, so fleißig für die Bewohner einer Einrichtung da zu sein, daß niemand die Pflegerin oder den Seelsorger, den Pädagogen oder die Ärztin „vermissen“ muß. Bei Frau N. lerne ich: es gibt auch den entgegengesetzten Blick. Frau N. weiß: auch sie ist jemand, den man möglicherweise vermissen kann. Nur, davon haben viele keine Ahnung: sie sorgen dauernd für uns, sie sind davon überzeugt: ohne die Nichtbehinderten würde den Behinderten vieles fehlen; aber kaum jemand gibt zu, daß auch den Nichtbehinderten ohne die Behinderten etwas fehlt. Frau K. hat das begriffen, sie sagt als Nichtbehinderte: ich habe euch vermißt. Ist viel wert; wenigstens einer, der uns vermißt; ist ja nicht so rasch einer, der uns vermißt.

Normalerweise sehen wir das anders, wir sehen ein Gefälle: Die einen sind wichtig, sie werden natürlich vermißt, wenn sie nicht da sind. Und die anderen? Man ist ja nett zu ihnen. Aber vermißt haben wir „die“ kaum jemals. – Was ist das für eine Arroganz! Woher kommt dieser Stolz auf sich und seinesgleichen und (als Kehrseite dieses Stolzes) die Verachtung der Schwächeren, der Hinfälligen, der körperlich Geschädigten? Wir nehmen sie ernst, sorgen für sie, völlig klar; aber sie sind uns kaum wichtig für unser eigenes Vorankommen. Woher kommt dieser Stolz?

Da mag es manche Wurzeln geben, ich nenne nur eine einzige. Ich behaupte: Unsere ständige Einstellung, in der wir sagen: „Hauptsache gesund!“ schafft dieses Gefälle, schafft die Kluft zwischen den Wichtigen und den anderen, auf die es nicht so ankommt. Denn wenn wirklich die Gesundheit die Hauptsache ist, dann ist ein Mensch, dem die Gesundheit fehlt, ein Mensch, dem die Hauptsache fehlt: Ist er eigentlich noch ein Mensch? Er gleicht einem leeren Briefumschlag: Auch einem Umschlag ohne Brief fehlt die Hauptsache. – Lassen Sie mich diese Kritik zuspitzen: Wir legen Wert darauf, besser zu sein als die Nazis, die mit ihrem Euthanasie-Programm viele Schwerstbehinderte umgebracht haben; damals sprach man von Menschenhülsen – man weigerte sich, diese schwer behinderten Menschen „Menschen“ zu nennen; sie sind nur Hülsen. Wie nennen Sie eine Hülsenfrucht, der sie die Früchte entnommen haben? Was haben sie in der Hand, wenn Sie eine Erbsenschote in der Hand haben, aus der Sie zuvor die Erbsen entfernt haben? Damit sind wir wieder beim leeren Briefumschlag. Kurzum: Unser Spruch „Hauptsache gesund!“ denkt bei Nicht-Gesunden im Schema „Menschenhülsen“. Unser Spruch „Hauptsache gesund!“ bahnt (wenigstens in unseren Köpfen und Herzen) der Euthanasie den Weg. Was können Sie mit leeren Briefumschlägen anfangen? Wer könnte leere Erbsenschoten vermissen?

Als Zwischenergebnis halte ich fest: Eine Gesellschaft, zu deren Grundüberzeugungen der Ausdruck „Hauptsache gesund!“ gehört, wird vielleicht keine Euthanasie praktizieren, vielleicht ist man sogar ausgesprochen freundlich zu behinderten Menschen; im Denken aber, in unseren inneren Schaltzentralen, kultivieren wir das, was ich seit Jahrzehnten eine Euthanasie-Mentalität nenne. Und eine Gesellschaft, die sich für eine solche Euthanasie-Mentalität erwärmt, kann kaum Widerstand entwickeln, wenn die Euthanasie auch wieder einmal praktiziert werden soll.

II)
Wenn ich nun, wie angekündigt, im zweiten Punkt die angesprochene Thematik an unsere Theologie weiterreiche, wird jeder hoffen und stark vermuten, daß es in der Theologie das genannte Gefälle zwischen Wichtigen und den anderen nicht gibt, daß Theologie stattdessen stets und ständig von dem großen Geschwisterkreis Jesu redet, in dem alle gleiches Recht und gleiche Würde haben. – Es gehört für mich zu den bedrückendsten Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte auch diese: Unsere Theologie kennt beides. Auf der einen Seite die totale Weigerung, jenes Gefälle aufkommen zu lassen oder es zu fördern. Ich nenne nur einen einzigen Satz aus der Ökumene. Im Memorandum von Bad Saarow (1978) heißt es: „Eine Gemeinde ohne Behinderte gibt es nicht; wo die Behinderten fehlen, ist eine Gemeinde behindert“ [2]. Das heißt, ganz im Sinne der Frau N., der Gemeinde fehlt etwas, wenn die Behinderten nicht da sind. Nicht nur vermissen behinderte Christen unter Umständen die nichtbehinderten Christen; sondern die nichtbehinderten Christen sind keine vollständige Gemeinde, wenn die behinderten Christen nicht dabei sind. Eine solche Gemeinde wäre, um in einem Bild zu sprechen, das der Apostel Paulus benutzt, im Bilde vom „Leibe Christi“, eine amputierte Gemeinde, eine behinderte Gemeinde. Gut, daß es solche Sätze gibt, auch heutzutage gibt. Und da ich heute recht ausführlich auf die andere Seite zu sprechen komme, möchte ich Sie bitten, nicht zu vergessen, daß ich dieses Positive sehe, gesagt habe und keinesfalls unter den Teppich kehren will.

Aber nun die andere Seite. Durch viele Themen unserer Theologie schleicht sich die Ansicht, behinderte Menschen seien Sonder-Menschen, Menschen ja, aber nicht so wie Nichtbehinderte Menschen sind. Ich denke etwa an die Aussagen zur Schöpfung: Daß ein nichtbehinderter Mensch sagen darf: ich glaube, daß mich Gott so geschaffen hat, wie ich bin, das lernt er im kirchlichen Unterricht. Aber wenn ich auch als Rollstuhlfahrer sage: Ich glaube, daß Gott mich so geschaffen hat, dann erlebe ich von vielen Theologen Widerspruch. – Wir können das jetzt nicht alles durchspielen. Ich möchte mich auf eine Sache eingrenzen, auf die Auslegung der Heilungsgeschichten des Neuen Testaments.

In Kommentaren, Predigthilfen und sonstigen Schriften ist immer und immer wieder zu lesen: Jesus kämpfte gegen die Krankheiten wie gegen die Dämonen; Krankheit und Besessenheit will er vernichten; dazu und zum Predigen ist er gekommen, er hatte also zu beidem einen Auftrag – man spricht gern von Jesu Doppelauftrag. Wir werden gleich nachprüfen, ob unsere Bibel das wirklich so sagt. Vorab möchte ich die genannte Sichtweise ein bißchen entfalten. Was ist mit ihr behauptet?

Unter anderem dieses: Gott will die Behinderung also nicht; Behinderung ist vom Teufel (oder von seinen Trabanten). Das hieße: Der Behinderte ist bestenfalls halberlei in der Herrschaft Jesu, teilweise (vielleicht: zum größten Teil) gehört er unter die Fuchtel der Dämonen. Das wieder hieße: Es gibt zwei „Sorten“ von Menschen: die einen sind so, wie Gott sie will; die anderen sind so, wie Gott sie nicht will. Das hieße dann aber: Es gibt sehr deutlich das „Gefälle“, von dem eben die Rede war, ja wir müßten dieses Gefälle kraß benennen als „Apartheid“, als Spaltung in zwei Gruppen, diesmal nicht in Weiße und Schwarze, aber in Nichtbehinderte und Behinderte. Und das schließlich hieße (und damit komme ich zum schlimmsten Punkt): Solche Apartheid ist nicht nur etwas Ausgedachtes, von Menschen boshaft Konstruiertes, sondern sie ist eine Realität; sie gibt es nicht nur als menschliche Ungezogenheit, sondern sie ist eine in der Bibel vorgegebene Notwendigkeit: Apartheid zwischen Nichtbehinderten und Behinderten ist theologisch legitim, denn sie ist von Gott verordnet. Zugespitzt: Diese Apartheid wäre eine Gottesordnung.

Man hat mir in den letzten Jahren mehrfach vorgeworfen, meine Kritik sei zu hart, mein Wort Apartheid sei kraß überzogen. Lassen Sie mich sagen, was ich damit meine, und was nicht. – Denken Sie bitte an den Satz, den es in den dreißiger Jahren gab: „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ Eine Parallele zu diesem rassistischen Satz müßte lauten: Ihr Nichtbehinderten, meidet die Behinderten. Ich habe nie behauptet und werde voraussichtlich nie behaupten, daß es in der Theologie diesen oder einen ähnlichen Satz gibt. Aber es gibt andere Sätze, Parallelen zu dem (von mir jetzt erfundenen) Satz: „Deutsche, seid nett zu den Juden!“ Dieser Satz klingt freundlich, ist wohl auch freundlich gemeint; und dennoch bedeutet auch er eine Kränkung, denn er verweigert den Deutschen jüdischer Herkunft die Anerkennung, Deutsche zu sein. Es gab um 1930 zahllose deutsche Juden, für die das Bewußtsein, Deutscher zu sein, Vorrang hatte vor dem Bewußtsein, Jude zu sein. Darum müßte es richtig heißen: Deutsche arischer Herkunft, seid nett zu den Deutschen semitischer Herkunft (oder ähnlich). Aber der Satz: Deutsche, seid nett zu den Juden, spaltet das deutsche Volk in richtige Deutsche und in Undeutsche; da werden zwei Gruppen behauptet, da ist angeblich ein Gefälle, ein Riß, ein Graben. Und der bleibt bestehen, auch wenn ein „Deutscher“ einen „Juden“ zum Kaffee einlädt; da sitzen keine gleichberechtigten deutschen Menschen am Tisch, was sich etwa darin zeigt, daß die Thematik „Ehe zwischen »Deutschen« und »Juden«“ höflich umgangen wird, weil sie ja als „Rassenschande“ gilt. Man ist zwar nett, ganz sicher; und dennoch: Apartheid. – Genau das ist es, was es in der Theologie im Blick auf behinderte Menschen auch gibt. Natürlich werden Christen aufgerufen, nett und hilfsbereit zu behinderten Menschen zu sein. Aber solange gesagt wird, die einen seien so, wie Gott sie will, die anderen aber seien nicht so (sie sind in der Macht gegengöttlicher Kräfte), so lange können wir uns überschlagen in diakonischen Aktivitäten, der Graben bleibt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang einen weiteren Punkt markieren durch zwei ältere Zitate. In beiden geht es um die Frage, ob wir Christen, wenn wir uns den Schwächeren zuwenden, dadurch auf die Seite Gottes treten, der sich ja auch zu uns Menschen herunterneigte (das würde ein krasses Gefälle bedeuten: Gott und wir Helfer auf der einen, die Hilfsbedürftigen auf der anderen Seite), oder ob wir alle, Starke und Schwache, Behinderte und Nichtbehinderte, in gleichem Maße darauf angewiesen sind, daß Gott sich uns allen zuwendet – und wenn wir Menschen uns mitunter gegenseitig helfen, dann steht das – ohne jedes Gefälle – auf einem völlig anderen Blatt (möglich wird hier eine ehrliche Solidarität). Das erste Zitat stammt von Ernst Wolf [3]; in einem Text von 1962 sagt er, die Wörter „Nächstenschaft“, „Zuwendung an alle“ und „mitverantwortliche Solidarität“ seien zu verstehen als „der freie Nachvollzug der Selbsterniedrigung Christi“. Spüren Sie die gewaltige Stufe? Das, was wir Menschwerdung Gottes nennen, sein Herabsteigen, (mit dem theologischen Begriff:) seine Kondeszendenz, soll von uns „nachvollzogen“ werden. Bin ich wirklich so hoch, daß ich das leisten könnte? Und ist der andere wirklich so weit unten, daß ich das leisten müßte: eine gottähnliche „Selbsterniedrigung“, ohne die ich nicht auf die Ebene des Schwächeren gelange? – Zwei Jahre später sagte (mein Vikarsvater) Johannes Klevinghaus in einem Vortrag [4] (und ich habe leider noch nicht herausgefunden, ob er es bewußt im Gegensatz zu Ernst Wolf gesagt hat, mit dem er nachweislich theologisch im Gespräch war): „Wir sollten, wenn von unserer Diakonie die Rede ist, nicht von Kondeszendenz sprechen. Zum Heruntersteigen werden wir in der Schrift zwar oft ermahnt; es ist dann aber an eine vermeintliche Höhe gedacht, die wir verlassen sollen: ‚Haltet euch herunter zu den Niedrigen.‘ Da ist keine Kondeszendenz, da ist kein frommer Schein des Herabneigens und Herabsteigens. Da wird uns der Platz angewiesen, an den wir gehören. Da sind wir Kranke im gleichen Spital, Gebundene unter Mitgebundenen, in gleich schwerer Schuldverhaftung, in gleicher Verdammnis, haben teil an Not und Elend und rufen für uns selber mit den Herrn an, der im Elend unser Bruder wurde: ‚Herr, erbarme dich unser!‘ Vielleicht geschieht in solchem miteinander und füreinander gebeteten: ‚Herr, erbarme dich!‘ das wesentlichste Stück der Diakonie“.

Halten wir kurz inne, um den roten Faden nicht zu verlieren. Durch das „Hauptsache gesund!“ werden behinderte Menschen in unserer Gesellschaft zu Menschen zweiter Wahl, zu Menschenhülsen, auf die wir verzichten können (wir vermissen nichts und niemanden, wenn sie nicht da sind). In der Theologie gibt es (neben anderem) auch die Spaltung, die Apartheid, was sich in zwei Punkten zeigte: Nichtbehinderte und Behinderte stehen einander gegenüber als die, die körperlich so dran sind, wie Gott es will, und als die anderen, die so dran sind, wie Gott es nicht wollen kann. Und das andere: Wenn die Stärkeren sich den Schwächeren zuwenden, bedeutet das den „Nachvollzug der Selbsterniedrigung Christi“ (s.o.); auf der einen Seite also: Gott und die Starken, auf der anderen Seite die Schwachen (im Gegensatz dazu J.Klevinghaus: auf der einen Seite Gott, auf der anderen wir Menschen, Schwache und Starke). – „Wie sagt es die Schrift?“, muß nun unsere weitere Frage lauten.

III)
Gefälle oder nicht? Apartheid oder Solidarität? Wir schauen in die Bibel und fragen, wie gesagt, die Heilungsgeschichten des Neuen Testaments: was sagen sie zu unserer Thematik? Ich grenze die Frage noch einmal ein: Was predigt das älteste Evangelium in diesen Texten? Wie redet Markus von gesunden und kranken Menschen, von Behinderten und Nichtbehinderten? Fehlt einem Menschen die Hauptsache, wenn ihm die Gesundheit fehlt, oder kann ein Mensch die Hauptsache haben und trotzdem krank oder behindert sein? Und anders herum: Kann einem Menschen die Hauptsache fehlen, auch wenn er gesund ist?

Die Predigt des Markus ist eindeutig als Kreuzespredigt zu verstehen. Gottes Heil kommt nicht mit Glanz und Gloria; es ereignet sich da, wo Jesus am Kreuz qualvoll stirbt. Zugang zum Heil haben wir nicht als Starke, als religiös oder sittlich oder sonstwie Vorbereitete: Der heidnische Hauptmann kommt unter dem Kreuz Jesu zum Glauben, und die Jüngerinnen werden am offenen Grab von Zittern und Entsetzen gepackt. Zöllner und Dirnen sitzen mit Jesus am Tisch, und „die Guten“ wenden sich ab. Die Witwe legt einen einzigen Pfennig in den Opferkasten und gibt damit „mehr“ als die Reichen. Überall hat die Markus-Predigt diese gleiche Struktur: Gottes Sache kann niemals an dem abgelesen, durch das ausgewiesen werden, was wir positiv und günstig nennen; sie kann aber auch nicht durch das, was uns negativ erscheint, gefährdet oder widerlegt werden.

Die spannende Frage ist nun: Hält Markus seine Kreuzespredigt auch dann durch, wenn er von den Heilungen Jesu erzählt, oder ist in diesen Texten von Glanz und Gloria, von notwendig gesunder Muskulatur und von normalerweise intakten Organen die Rede; ist jetzt doch das Starke und Positive die Voraussetzung dafür, daß ein Mensch mit Gott in Ordnung ist?

Kein Zweifel: Markus hält seine Kreuzespredigt durch. Und zwar gelingt ihm das dadurch, daß er sorgfältig unterscheidet zwischen Krankheit und Besessenheit und dementsprechend zwischen Heilungen und Dämonenaustreibungen. Was immer man unter „Besessenheit“ zu verstehen hat, klar ist zweierlei: a) diese Menschen sind in der Gewalt eines Geistes, der die Sache Jesu stören will; b) wir dürfen hier auf keinen Fall an psychisch Kranke denken; denn psychisch Kranke sind krank; und Markus will Kranke ja gerade von Besessenen abheben; durch Krankheiten sieht Jesus seinen Auftrag keineswegs gestört, durch Besessenheit aber sehr.

Ein Beispiel für diese klare Unterscheidung: Markus 1,21ff. Da wird Jesus, der in der Synagoge zu Kapernaum predigte, von einem bösen Geist angebrüllt und gestört: Du bist gekommen, uns zu verderben! Recht hat er: Gott will tatsächlich nicht, daß Menschen ohnmächtig in der Gewalt unsauberer Geister sind. Diesen Menschen fehlt tatsächlich die Hauptsache: die Möglichkeit der freien Hinwendung zu Gott; diese Menschen sind in der Tat nicht so dran, wie Gott es will. Jesus hat den Auftrag (dazu ist er „gekommen“ – das sagt der böse Geist völlig korrekt), die Dämonen zu besiegen. So nimmt er den Kampf auf, er brüllt zurück; da ist es richtig laut geworden; Jesus bleibt Sieger, und die Menge staunt: Eine Lehre „in Vollmacht“, auch die unsauberen Geister müssen ihm gehorchen. – Unmittelbar nach der Dämonenaustreibung eine Heilung, unmittelbar nach dem Spektakel der Friede: Jesus und die Jünger sind im Hause des Petrus. Da liegt die Schwiegermutter des Petrus und hat Fieber. Keine Silbe davon, daß das Fieber Jesus anbrüllt wie der Geist eben. Hier wird es nicht laut. Markus sagt nicht einmal, ob Jesus überhaupt etwas gesagt hat: Er greift die Frau bei der Hand, richtet sie auf und sie kann für das Essen sorgen. Das Fieber war gewiß lästig; aber es störte nur die Erkrankte und nicht Jesu Auftrag; Fieber ist wirklich kein Reich-Gottes-Problem; und das gilt ebenso von Lähmung, Blindheit, Aussatz und anderen Krankheiten [5].

Sie merken gewiß, daß es mich geradezu fasziniert, wie  leicht es Markus wird, zwischen Krankheit und Besessenheit zu unterscheiden: Er erzählt einfach. Und indem er erzählt, wird der Gegensatz klar. Kranke und Behinderte werden auf diese Weise herausgenommen aus dem Getümmel der Dämonen-Arena, werden frei für eine ungehinderte Begegnung mit Jesus. Aber was machen die Ausleger daraus? Manche Auslegungen verwischen die bei Markus sauber gezogene Grenze zwischen Besessenheit und Krankheit fast völlig. Walter Grundmann zum Beispiel [6] unterscheidet zwar zunächst zwischen Exorzismen und Heilungen; dann aber sagt er dennoch von der Krankheit: Sie „erscheint als Wirkung der Macht des Bösen am Menschen, mit der Jesus den Kampf aufnimmt.“ Bei Wilfried Joest [7] werden Krankheit und Besessenheit durch das beide Größen zusammenfassende Wort „Leiden“ ununterscheidbar, wenn er sagt: Jesus „hat im Leiden die Macht des die Menschen knechtenden Feindes Gottes erkannt. Er ergrimmt über diese Macht. Er kämpft gegen das Leiden“. Auf dieser Linie kann dann Reinhard Turre [8] sagen: „Im Leiden begegnet uns ja das Böse, das überwunden werden muß, wenn der Mensch nicht verlorengehen soll.“ – Spüren Sie, wie hier, streng genommen, schon einem lästigen Schnupfen, ohne Zweifel aber jeder Lungenentzündung und jeder Krebserkrankung eine heilsgefährdende Bedeutung zuerkannt wird? Das hieße: Wenn das Leiden (sprich: das Böse!) nicht überwunden wird, geht der Mensch „verloren“. Dagegen kann angeblich der Schöpfer und der Erlöser nichts machen. Biblische Theologie sagt es anders: Dem qualvoll am Kreuz sterbenden Schächer wird das Heil zugesagt: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein, sagt Jesus. Diese Heilszusage hat nicht die Überwindung des Leidens zur Voraussetzung, sondern sie bietet Schmerz und Schrei ein göttliches, ein schöpferisches, ein erlösendes Kontra. – Bei den genannten Autoren (und die Reihe ließe sich beliebig verlängern) bleiben Kranke und Behinderte (im Gegensatz zu Markus) in der Dämonen-Arena: Krankheit und Besessenheit sind angeblich in gleicher Weise Symptome „des“ Bösen, zu dessen Überwindung Jesus in unsere Welt kam.

Das Unglück solcher Nicht-Unterscheidung (von Krankheit und Besessenheit) müssen wir genauer in den Blick nehmen. Denn die Nichtunterscheidung führt notwendig zum Apartheids-Denken. Von den Besessenen wird nämlich dreierlei gesagt: a) Sie sind im Besitz gegengöttlicher Mächte – das kann Gott wirklich nicht wollen; b) es gehört zu Jesu Auftrag, sie aus der Herrschaft der Dämonen zu befreien; c) diese Befreiung, dieser Herrschafts-Wechsel, kann als Weltenwende, als Beginn des neuen Lebens, gefeiert werden. In neutestamentlichen Bildern: der Satan fällt vom Himmel; Jesus bricht in das Haus eines Starken ein, den er dann fesselt. Diese Bilder tauchen im Neuen Testament aber durchgängig nur da auf, wo von Besessenheit bzw. Dämonenaustreibung die Rede ist, niemals aber im Zusammenhang mit Fieber, Lähmung oder Blindheit. – Von Besessenen wird geredet als von Menschen, die durch Jesus noch nicht erlöst wurden; und jeder, der in der Erlösung durch Jesus das Wichtigste für einen Menschen sehen kann, wird sagen: diesen Menschen fehlt also die Hauptsache. Denn sie sind noch nicht, etwa durch die Taufe, unter seine gnädige Herrschaft getreten. Sie gehören noch zur „alten“ Welt, zu deren Überwindung Jesus gekommen ist. – Auch angesehene Neutestamentler beziehen die genannten der-Satan-fällt-vom-Himmel-Stellen aber auf Dämonenaustreibungen und auch auf Krankenheilungen. Und schon ist das Unglück passiert. Denn jetzt ist angeblich auch die Heilung eine Weltenwende, der Anfang des neuen Lebens für diesen Menschen. Schon haben wir wieder das Apartheids-Gefälle, die Kluft zwischen den einen und den anderen: Jetzt sind auch unheilbar Kranke nicht so, wie Gott sie will, sie gehören (trotz ihrer Taufe!) noch zur alten, unerlösten Welt, sie sind weniger erlöst als die Geheilten, als die Gesunden, bei denen die „Weltenwende“ angeblich schon stattgefunden hat.

Aber noch zu einem weiteren Text aus den ersten Markus-Kapiteln, zur Heilung des Gelähmten (Mk 2, 1-12)! Diese bekannte Geschichte dient heute als eine Art Standard-Beleg für die Behauptung: Jesus kämpfte gegen beides: gegen die Sünde (die Gottverlassenheit) und gegen die Krankheit. Tatsächlich sagt Jesus zu dem Gelähmten, der ihm vor die Füße gelegt wurde: Dir sind deine Sünden vergeben. Und nach einer Weile: Steh auf, nimm dein Bett und gehe heim. So scheint geradezu ins Auge zu springen: Innere und äußere Heilung gehören zusammen. Keins von beiden ist, für sich allein genommen, die Hauptsache. Aber beide Hilfen Jesu zusammen ergeben die „Hauptsache“, womit wir im Blick auf alle Nicht-Geheilten doch wieder in der Nähe des leeren Umschlags sind: der ist zwar nicht ganz leer, aber das Blatt ist der Länge nach durchgerissen, und wir haben nur die eine Hälfte, die ohne die andere keinen Sinn ergibt. Tatsächlich behauptet Martin Dibelius: Jesus behebt hier sowohl „die leibliche Gottverlassenheit der Krankheit“ als auch „die sittliche Gottverlassenheit der Sünde“ [9]. Trotz Taufe, trotz Sündenvergebung lebt ein Nichtgeheilter angeblich in der „Gottverlassenheit“, also (zusätzlich noch in einer anderen Weise, als man das von jedem Geheilten auch sagen muß) in der alten, nicht=erlösten Welt, wie wir es eben (mit Markus) im Blick auf die Besessenen sagten.

Gott sei Dank!, Markus erzählt eine total andere Geschichte. Dem Gelähmten sagt Jesus: Dir sind deine Sünden vergeben. Punkt, aus. Damit ist das Hilfehandeln Jesu zugunsten dieses Menschen beendet. Der hat, was ihm unbedingt nötig ist. Als einer, der von vier Männern geschleppt werden muß, darf er sich verstehen als im Frieden Gottes lebend. Er hat jetzt die ganze Hauptsache. Keine Spur davon, daß Jesus gegen die Lähmung gekämft hätte. Gekämpft hat Jesus offenbar, aber an einer anderen Front: Markus erzählt von den knurrenden Theologen: Die Schriftgelehrten denken: der lästert Gott, nur Gott darf Sünden vergeben. Daraufhin greift Jesus noch einmal ein und heilt den Gelähmten; aber was sagt er – und: was sagt er nicht? Jesus sagt nicht: Mit dem Zuspruch der Sündenvergebung habe ich eben ja nur den einen Teil meines Doppelauftrags erledigt, jetzt kommt der zweite Teil. Jesus sagt auch nicht: Diesem Menschen gab ich bisher erst die halbe Hauptsache, er hat natürlich die ganze nötig. Markus erzählt so, als brauche der Gelähmte überhaupt nichts mehr; die Schriftgelehrten haben etwas nötig. Jesus sagt: Damit ihr wißt, daß ich die Vollmacht zur Sündenvergebung habe, lasse ich jetzt diesen Menschen aufstehen. Den Schriftgelehrten, den damaligen Theologen, fehlte die Hauptsache. Sie hatten trotz Gesundheit und Klugheit noch keinen Zugang zu Jesus. Jetzt wird er ihnen eröffnet. Markus läßt offen, ob sie sich zurechthelfen ließen. Sogleich heißt es, daß alle Gott priesen; da nicht gesagt wurde, die Schriftgelehrten hätten sich zuvor aus dem Staub gemacht, könnte man annehmen, sie stimmten in das Gotteslob mit ein. Das läßt sich aber nicht sicher so sagen. Eindeutig ist jedoch: Bei der Heilung dieses Gelähmten ging es, so komisch das klingen mag, um einen Mangel der Schriftgelehrten und nicht um den des Gelähmten.

Noch deutlicher, als Markus es hier tut, kann man kaum sagen, daß die Gesundheit keineswegs die Hauptsache ist. So sehr der Gelähmte sich über seine Heilung gefreut haben mag, und so sehr Nicht-Geheilte verständlicher- und berechtigterweise mit Gott hadern mögen (Jesus hat die Berechtigung der Klage-Psalmen keineswegs bestritten [10]), Markus hat solche Heilungen total herausgenommen aus dem Kampf-Getümmel der Dämonen-Arena. Die Größen „blind oder sehend“, „gelähmt oder nicht“ stehen in Jesu Reich-Gottes-Botschaft auf einem völlig anderen Blatt als die Größen: „Heil oder Unheil“, „Segen oder Fluch“, „Friede Gottes oder Gottverlassenheit“. Immer rätselvoller wird mir, daß es in der theologischen Literatur überhaupt solche Begriffe geben kann wie „Gottverlassenheit der Krankheit“ (s.o.) oder „Krankheitsdämonen“ [11].

Aus alledem ergibt sich: Wir müssen der Gesundheitsideologie den Kampf ansagen. Die These: „Hauptsache gesund!“ ist eine Gotteslästerung. Theologie muß lernen, diese knechtende Behauptung nicht festzuzurren, sondern das befreiende Kontra des Markus selber zu begreifen und für alle verständlich zu entfalten. Nur: Kann sie das? Ist sie dazu in der Lage? Ist Theologie dazu frei genug? Oder ist sie im Bann schlimmer Traditionen, die ihr das Apartheidsdenken geradezu aufzwingen? – Sie merken: Ich leite über zu dem Teil, in dem wir in die Kirchengeschichte blicken wollen.

IV)
Wieder gehe ich von einem Beispiel aus: Etwa im Jahre 900 erzählt der Mönch Notker (ca 840-912) „von einem Bischof, der glaubt, gesündigt zu haben, weil er in der Fastenzeit Fleisch gegessen hat. Um diese Sünde zu büßen, verpflichtet er sich, die Kranken der Stadt zu pflegen, zu baden, zu versorgen. Während er nun dabei ist, einem Kranken den Bart zu scheren, bemerkt er, daß immer, wenn er den Bart auf der einen Seite abgenommen hat, er auf der anderen Seite wieder nachwächst. Das verwirrt ihn zutiefst. Er weiß es nicht zu deuten. Es fällt ihm auch auf, daß der Kranke besonders häßlich und mit vielen Eitergeschwüren bedeckt ist. Und plötzlich bemerkt er, wie ein Auge auf dem Hals des Kranken ihn anstarrt. Er fährt entsetzt zurück. Und in diesem Moment hört er die Stimme: »Dieses Auge hat immer auf dich geblickt, als du gesündigt hast.« Aus dem Kranken spricht der Teufel“; ich verdanke diese Geschichte dem Medizinhistoriker J.N.Neumann [12].

Hier mischt sich einiges ineinander. Reizen würde es mich, der Parallele zur heutigen Bußgeld-Praxis nachzudenken: Auch wer sich im allgemeinen nicht sozial betätigt, kann, wenn er etwas ausgefressen hat, zur Zahlung eines Bußgeldes verurteilt werden, das dann häufig an soziale Einrichtungen geht. So scheint unser Bischof mit Kranken normalerweise nichts „am Hut“ zu haben; aber als Bußübung bleibt ihm nichts anderes übrig. – Aber lassen wir das. Hinweisen möchte ich auf das Gemisch von Zuwendung und „Gefälle“ (s.o.). Das ist doch einiges: Der Bischof rasiert einen häßlichen, eitrigen Kranken; er geht hin zu ihm, scheut vor dem Hautkontakt nicht zurück (es fällt uns nicht leicht, uns Entsprechendes von heutigen Präsides und Bischöfen vorzustellen: stundenweise die Pflege Schwerkranker zu übernehmen). Aber untrennbar mit solcher Zuwendung verbunden ist das Wissen um einen unüberbrückbaren Abstand. Der Bischof läßt sich keineswegs mit seinesgleichen ein; der andere ist weit unter ihm, aus ihm spricht der Teufel, der Mißgebildete wird mit dem Bösen gleichgesetzt.

Diese Geschichte scheint mir typisch zu sein für das mittelalterliche Empfinden. Wir können sie deuten als einen Beleg für das, was man die thomistische Stufenleiter nennt. In der besonders von Thomas von Aquin (ca 1225-1274) geprägten Theologie wird alles, was es gibt, wie auf einer senkrechten Leiter von Werten angeordnet: Ganz oben haben wir das absolute Gute zu sehen, also Gott, ganz unten das schlimmste Verbrechen – sagen wir den Völkermord. Alles, was uns begegnet, ist auf einer bestimmten Sprosse dieser Leiter anzusiedeln. Und es ist völlig klar, daß ein Gesunder, besonders ein gesunder Bischof, eine hörere Sprosse besetzt als ein Kranker, zumal ein besonders häßlicher Kranker. Hier ist, was ich vorhin „Gefälle“ nannte, theologisch sauber geordnet. Und völlig klar: Die Werte-Leiter macht die freundliche Zuwendung keinesfalls unmöglich, aber Zuwendung ist jetzt eine Art „Kondeszendenz“: sie hat die gleiche Richtung wie die Menschwerdung Gottes: Vom himmlischen (oder Himmel-nahen) Oben senkrecht nach unten zu den Verlorenen.

Das thomistische Werte-Denken will ich jetzt nicht weiter vertiefen, weil ich auf eine andere, mit ihm verwandte, Sache ausführlich eingehen möchte. Es gibt, lange Jahre vor Thomas, einen geradezu schaurigen theologischen Gedankengang, der das Denken und Empfinden der folgenden Jahrhunderte (vermutlich bis heute) nachhaltig geprägt hat. Von ihm aus ist zum Beispiel auch jene Geschichte über den pflegenden Bischof zu verstehen; verstehbar wird plötzlich aber auch das, was ich zur heutigen Theologie aufzeigte: die weit verbreitete Nichtunterscheidung zwischen Besessenen und Kranken. – Aber der Reihe nach.

Der eben erwähnte Medizinhistoriker J.N.Neumann geht der Frage nach, woher die behindertenfeindlichen Impulse unserer Gesellschaft stammen, und welche Rolle dabei möglicherweise die Theologie spielte [13]. In diesem Zusammenhang berichtet er über eine Auslegung der Noah-Geschichte durch Augustin. (Ich muß eben einfügen: Vielleicht geht das Schlimme, wovon sogleich die Rede sein wird, noch nicht insgesamt auf Augustin zurück, sondern gestaltete sich erst im Anschluß an Augustin bei seinen Schülern – aber das muß heute am Rande bleiben.) Die Frage entstand: Sind Mißgestaltete bzw. Behinderte eigentlich noch Menschen? Diese Frage wurde von Augustin (354-430) und in der durch ihn geprägten Theologie eindeutig bejaht: Alle behinderten und mißgestalteten Menschen stammen von Adam ab. Sie stammen natürlich auch von Noah ab, dem einzigen, der mit seiner Familie die Sintflut-Katastrophe überlebte. Aber jetzt wird’s schlimm. Noah hatte bekanntlich drei Söhne, von denen er zwei segnete, Sem und Japhet, den dritten aber verfluchte er, den Bösewicht Ham. Und Augustin (bzw. seine Schüler) behaupten nun: die Behinderten stammen von diesem Ham ab, von dem Verfluchten, dem wegen seiner Bosheit Verfluchten. – Wen wundert es noch, wenn dann aus dem häßlichen Kranken, während der Bischof ihn rasiert, plötzlich „der Böse“ spricht? Wen wundert es, daß auf der thomistischen Werte-Leiter der rasierende Bischof relativ weit oben zu stehen kommt, während der häßliche Kranke etliche Stufen weiter unten, in Richtung „Verbrechen“, anzutreffen ist? (Ich behaupte natürlich nicht, daß diese Werte-Leiter auf die Ham-Theorie zurückgeht; ich weise nur hin auf eine verwandte Anordnung und Einteilung der Menschen.)

Nun aber zur heutigen Theologie: Die genannte Ham-Theorie hat Theologie und andere Wissenschaften, Kunst und Literatur während des Mittelalters intensiv geprägt. Sie gehört also, auch wenn wir das nicht mehr wissen, mit zu den Traditionen, die wir immer noch unbewußt mit uns herumschleppen. Und damit erklärt sich einiges: Jene Nichtunterscheidung zwischen Besessenen und Kranken, die zur Apartheidstheologie führt, ist, wie wir sahen, in keiner Weise zu verstehen von dem her, was Markus aufgeschrieben hat. Sie wird aber restlos plausibel von Augustins Ham-Theorie her: Wenn tatsächlich Gesunde und Kranke, Nichtbehinderte und Behinderte einander gegenüberstehen wie die gesegneten Japhet und Sem ihrem verfluchten Bruder Ham gegenüberstanden, dann ist da ein klares Gefälle, dann gehören Kranke und Behinderte (wie Besessene) auf die Seite des Bösen, dann müssen sie noch erlöst werden, dann gehört zu Jesu Auftrag, alles Böse zu bekämpfen, auch der Kampf gegen alle Krankheiten dazu, dann beginnt für einen geheilten Kranken tatsächlich die neue Welt. (Wenn ich diese sehr ernste Sache einmal salopp ausdrücken darf: Offensichtlich haben manche Theologen bei ihrem ehrlichen Bemühen, der Markuspredigt zuzuhören, einen „kleinen Mann im Ohr“, nämlich den sogenannten „heiligen Augustin“ mit seiner zweifellos unheiligen Ham-Theorie.)

Ich bin mir klar darüber, daß meine These, die ich soeben entwickelte, eine schlimme Diagnose bedeutet. Und Sie können mir glauben, daß ich über ihre Wucht selber immer neu erschrecke. Ich fasse sie noch einmal zusammen: In unserer evangelischen Theologie stehen zahlreiche Aussagen über kranke und behinderte Menschen (ebenso über die Bedeutung von Heilung und Gesundheit) in krassem Widerspruch zum Bibeltext, sie stehen jedoch in harmonischer Übereinstimmung mit der völlig unbiblischen Ham-Theorie Augustins. Damit aber wird die in unserer Gesellschaft lebendige Euthanasie-Mentalität theologisch gestützt und untermauert.

Unsere Theologie ist also dringend einer Reformation bedürftig. Und zwar nicht nur, weil sie die üble Ham-Interpretation und damit die Gleichsetzung von Behinderung und Bösem und damit die Nichtunterscheidung von Krankheit und Besessenheit fleißig tradiert, sondern auch darum, weil sie offenbar nicht erkennt, daß Luthers Kreuzestheologie uns befreien könnte sowohl von der thomistischen Stufenleiter als auch von der Ham-Theorie und ihren schlimmen Folgen, so daß wir zurückfinden könnten zur Befreiungstheologie des Markus.

Martin Luther (1483-1546) setzt ein beim Kreuz Jesu, wodurch sich seine Theologie aber keineswegs verfinstert; im Gegenteil: von Golgatha her gewinnt Luther eine unglaubliche Kühnheit. Denn im Kreuz Jesu erkennt er die Umwertung aller Werte: Die schmachvolle Niederlage Jesu ist sein Sieg über Sünde, Tod und Teufel. Von Golgatha aus wird erkennbar: Gelogen hat jeder, der Schmerz und Geschrei dem Teufel, Triumph und sichtbaren Sieg aber Gott zuordnet. Nein, Gott war im Sterben Jesu der Siegreiche, seine Kraft kam in der Schwachheit zur Vollendung (vgl. 2. Kor 12,9), und die vermeintlichen Sieger waren die Verlierer [14].

Daß Luther hier nicht nur von Golgatha redet, sondern von Golgatha aus die gesamte Theologie neu gestaltet, möchte ich durch zwei Zitate andeuten. In einer Predigt [15] sagt Luther: Zu Weihnachten benahm sich Gott wie ein schlechter Maler. Der sagt, er wolle eine Kuh malen, aber wenn das Bild fertig ist, denkt jeder: das sieht aus wie ein Pferd. Also muß der Maler drunterschreiben: „Kuh“; dieses Wort ist gültig, auch wenn das Bild nach etwas anderem aussieht. So kündigt Gott durch seine Propheten den Retter der Welt an, und dann – liegt da ein Wickelkind im stinkigen Stall; Gott „vermalt“ seinen Heiland in ein Krippenkind. Also muß er das Wort drunterschreiben bzw. durch seinen Engel aussprechen lassen: Euch ist heute der Heiland geboren. – Das ist Kreuzestheologie: Dem Anschein zum Trotz dem Wort glauben: Das armselige Kind ist der Gottessohn. Spüren Sie die Nähe zu Markus? Der von vier Männern getragen werden muß, ist im Frieden mit Gott – schon, bevor er zum Laufen kam. Das soll Friede sein?, wird jeder fragen, der seinem Glauben nicht zutraut, den Augenschein „Lüge“ zu nennen. Ja, das ist Friede, könnte jeder sagen, der gelernt hat, in der Niederlage Jesu Gottes Sieg zu glauben.

Das andere Zitat stammt aus Luthers großem Galater-Kommentar: „Gott will unter der Larve“ (unter der Maske, in der Verstellung, im Kostüm, in der Rolle oder Verkleidung) „des Teufels erkannt werden“ [16]. Luther denkt nicht daran, auf Golgatha lustige Lieder zu singen. Wer uns heutzutage weismachen will, die Kreuzestheologie Luthers oder des Neuen Testaments weise masochistische Züge auf, der hat die Kreuzestheologie in geradezu abenteuerlicher Weise mißverstanden. Nein, Schmerz tut weh, Geschrei ist schlimm; bei vielem denkt und empfindet jeder von uns (auch wenn er ‚Martin Luther‘ heißt): hier haben wir’s aber nun wirklich mit dem Teufel zu tun. Und trotzdem – ich nannte es eben schon eine unglaubliche Kühnheit: trotzdem wagt Luther zu sagen (von dem her zu sagen, was er im Kreuz Jesu erkannt hat): das sieht nur aus wie Teufel; auch wenn es zuweilen teuflisch weh tut, kann es dennoch das sein, was Gott uns als Segen zugedacht hat. Das Böse, das, was jeder denkende, fühlende, lebenserfahrene Mensch als das Böse ansieht, kann in Wahrheit das Gute sein. Alles hängt hier am Kreuz. Ohne das Kreuz Jesu wäre Luthers Kühnheit eine unverantwortliche Tollkühnheit. Aber wenn wir auf Golgatha Gottes Sieg glauben dürfen, dann dürfen wir auch glauben, daß der von Vieren Getragene im Frieden Gottes ist; dann dürfen wir glauben, daß der entstellte Kranke Gott genau so nahe ist wie der ihn rasierende Bischof; dann dürfen wir kühn davon ausgehen, daß die schöne thomistische Werteleiter nur ein gut durchdachter Aberglaube ist. Luther legt die senkrechte Werteleiter quer auf die Erde; damit werden die Werte wieder irdische Werte, ohne jede pseudobiblische Überhöhung, ohne jede Aussage über größere oder geringere Nähe zu Gott. Krankheit und Gesundheit sind, von unserem Nervenkostüm, unseren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten aus, krasse Gegensätze; aber in Gottes Haushalt sind sie völlig gleichrangig. Die Gesundheit hat so wenig mit dem Guten, mit Gottes Segnen oder seiner Gnade zu tun wie die Krankheit mit dem Bösen, mit Gottes Verfluchen oder seiner Ungnade zu tun hat.

Das ist das Ende des Gefälles, das Ende der Apartheid. Kreuzestheologie macht solidarisch. Hier stehen Stärkere und Schwächere nebeneinander, auf der gleichen Ebene. Sie werden einander helfen, wenn sie da sind; sie werden einander vermissen, wenn sie nicht da sind; sie leben, wie J.Klevinghaus sagte, „im gleichen Spital“. Die Hauptsache ist für beide, sich dem uns allen gnädigen Vater im Himmel anzuvertrauen. Die Aufgabe ist für beide, sich gegenseitig zu dienen, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der bunten Gnadengaben unseres Gottes (vgl. 1. Petr 4,10).

V)
Angekündigt hatte ich, zum Schluß noch einmal auf unseren Alltag und auch auf politische Fragen zu sprechen zu kommen. Da können jetzt Andeutungen genügen, weil ich meine These bereits genannt habe. Etwas beiläufig sagte ich eben: Durch unsere Abhängigkeit von der Ham-Theorie werde die in unserer Gesellschaft lebendige Euthanasie-Mentalität theologisch gestützt und untermauert.

Denken Sie an die Pränataldiagnostik, die man gewiß ohne Übertreibung eine Treib-Jagd auf geschädigte Embryonen nennen muß. Denken Sie an die Diskussion um Wachkoma-Patienten: soll man deren Ernährung nicht einstellen (vielleicht sind die Organe ja noch für Transplantationen brauchbar)? Denken Sie an die Überlegungen zur aktiven Euthanasie, insgesamt an die sogenannte Singer-Debatte: ist es nicht besser, schwerstbehinderte Säuglinge zu töten? Ausführlich zur Sprache kommen müßte jetzt die Bioethik-Konvention, in der für Europa verbindlich geregelt werden soll etwa, unter welchen Voraussetzungen an Personen, die nicht einwilligen können, fremdnützige Forschung betrieben werden darf (Forschung also, die demjenigen, an dem geforscht wird, nicht helfen kann – aber die Wissenschaft käme vielleicht weiter).

Bei diesen Fragen sind die Kirchen merkwürdig zurückhaltend; als der Buß-und-Bettag abgeschafft wurde (nein, stimmt nicht; kein einziger Gottesdienst wurde verboten; der Tag wurde nur abgeschafft als staatlich anerkannter Feiertag), da gingen die Wogen wesentlich höher. Warum sind die Kirchen da, wo es um die Lebensrechte der Schwächsten geht, weniger laut? Könnte die Antwort bei der Ham-Theorie liegen? Eine Kirche, deren Theologie jede „stinknormale“ Behinderung in die Nähe „des Bösen“ rückt, eine Theologie, die zwischen Krankheit und Besessenheit zu unterscheiden verlernt hat – müßte sie sich nicht sogar freuen, wenn heutige Wissenschaft der Utopie nachjagt, Krankheiten auszumerzen, ein „Europa der Gesundheit“ (so in einem Straßburger Papier von 1988 [17]) zu schaffen? Um es zuzuspitzen: Müßte eine Theologie, die Jesus ständig gegen Krankheiten kämpfen sieht, die Bemühungen der Bioethiker nicht geradezu als Jesus-Nachfolge zustimmend interpretieren?

Vorhin ließ ich die Frage offen, was unter Besessenheit zu verstehen sei. Kommt jetzt vielleicht doch eine Antwort in den Blick? Ich bin davon überzeugt, daß Blindheit, Fieber und Lähmung nicht auf gottwidrige Kräfte zurückzuführen sind. Ich halte es aber durchaus für möglich, daß diese Behauptung, Krankheiten seien auf gottfeindliche Mächte zurückzuführen, daß dieser Satz wirklich dämonischen Ursprungs ist. Denn dieser Satz stört die Sache Jesu erheblich, seine befreiende Zusage an unheilbar Kranke, an behinderte Menschen und ihre Angehörigen, im Frieden Gottes zu sein, die „ganze Hauptsache“ zu haben. Könnte es also sein, daß es bei den „Besessenen“ nicht um Menschen in irgendwelchen Anstalten geht, sondern zum Beispiel um Menschen in theologischen Studierstuben, daß es also um uns geht? Könnten Theologie und Kirche also teilweise besessen sein, gebunden, gefangen in diesem total unbiblischen Hirngespinst, Krankheiten seien ein Teil „des“ Bösen?

Eingangs sagte ich: Reformation ist ein stetiger Prozeß. Wie dieser Prozeß heute aussehen müßte, können Gesellschaft, Kirche und Theologie möglicherweise von behinderten Menschen lernen. Schwer behinderte Menschen müssen eine trügerische Hoffnung bewußt aufgeben, die Hoffnung nämlich, irgendwann im Laufe dieses Lebens die Behinderung los zu sein. Solange der Rollstuhlfahrer hofft, irgendwann wieder gehen zu können, ist jeder Tag ein Negativ-Tag: ich konnte heute noch immer nicht gehen! Ich muß diese Hoffnung aufgeben, nicht aus Resignation, im Gegenteil: um Mut entwickeln zu können; nur so kann der einzelne Tag im Rollstuhl ein sinnvoller, ein normaler, ein guter Tag werden, der sich tatkräftig gestalten läßt. – Das gleiche gilt für die Gesellschaft. Solange wir von einer Welt ohne Krankheit träumen, ist jeder behinderte Mensch eine Negativ-Existenz, unnormal, regelwidrig; die Begegnung mit ihm beweist uns, daß wir’s noch immer nicht geschafft haben! Er ist eine Art Fossil aus einer Zeit, die wir doch endlich überwinden wollen; er stört unseren angenehmen Traum. Wir müssen diese Utopie unbedingt drangeben, nicht aus Resignation, im Gegenteil: Nur so ist es uns möglich, behinderten Menschen offen (ohne in irgendeiner Spielart an „das Böse“ zu denken) als normalen, uns ebenbürtigen Mitmenschen zu begegnen, in ihnen Menschen zu sehen, die wir vermissen werden, wenn sie nicht da sind. – Woher aber soll unsere Gesellschaft die Kraft gewinnen, sich von der liebgewordenen Utopie zu verabschieden, wenn sogar Kirche und Theologie den kindischen Traum von einer krankheitsfreien Welt nicht etwa stören, sondern ihn noch unterstützen, indem sie in Krankheit und Behinderung „das Böse“ sehen, das es im Auftrag Gottes zu bekämpfen gilt? So zeigt sich: Es wäre von enormer sozial-politischer Bedeutung, wenn es bei uns Christen eine ehrliche Reformation gäbe, eine klare Rückkehr zur befreienden Botschaft der Bibel und zur Schwung gebenden Kreuzestheologie Martin Luthers.


Anmerkungen:

1) Eberhard Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als Sacramentum et Exemplum, in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD, 86/87, S. 6ff, (Zitat: S. 20).- Vgl. dazu, aus katholischer Sicht: Rolf Zerfaß, Lebensnerv Caritas, (Herder) Freiburg, 1992, S. 15: „So scheint die zentrale Frage organisierter kirchlicher Caritasarbeit aus pastoraltheologischer Sicht darin zu bestehen, ob die Strukturen caritativer Hilfe verhindern oder ermöglichen, daß uns durch die Armen geholfen wird. Wo dies nicht möglich ist, wird auch den Armen durch uns nicht geholfen.“

2) Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde. Memorandum einer Konsultation in Bad Saarow (DDR), April 1978; ursprünglich: epd-Dokumentation Nr. 36a/78; dann mehrfach, z.B. in: Jahrbuch des Diakonischen Werkes der EKD, 78/79, S. 227ff (Zitat: S. 228).

3) Ernst Wolf, Ordnung und Freiheit. Zur politischen Ethik des Christen, S. 39f.

4) Johannes Klevinghaus, in: Ernst Brinkmann, Hg., Heil und Heilung, Gedenkbuch für Johannes Klevinghaus, 1970, S. 61 f. (Hervorhebung von mir, U.B.).

5) Vgl. zu dieser These, im Blick auf andere Heilungsgeschichten, zum Beispiel: Ulrich Bach, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen 1991, darin: S. 40-118 / „Gesunde“ und „Behinderte“, Gegen das Apartheidsdenken in Kirche und Gesellschaft, (Kaiser) Gütersloh 1994 (KT 134), darin: S. 100-121 / Gottes Heil und unser europäisches Apartheids-Denken, in: Reiner Degenhardt (hg. im Auftrag des DEKT), Geheilt durch Vertrauen, Bibelarbeiten zu Markus 9,14-29, (Kaiser) München 1992, S. 141-157.

6) Walter Grundmann, Das Evangelium nach Markus, in: Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, EVA Berlin, 9. Aufl. 1984, S. 163f.

7) Wilfried Joest, Die Allmacht Gottes und das Leiden der Menschen, in: ders., Gott will zum Menschen kommen. Zum Auftrag der Theologie im Horizont gegenwärtiger Fragen, Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, S. 150.

8) Reinhard Turre, Diakonik. Grundlegung und Gestaltung der Diakonie, Neukirchen 1991, S. 48.

9) Martin Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 5. Aufl., Tübingen 1966, S. 63.

10) vgl. etwa: Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, Hg.: Theodor Strohm, Heidelberg; Band 2: G.K.Schäfer, Th.Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen, Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, 1990, S. 67-93: darin, S. 72: „Der eine Gott ist für alles verantwortlich und zuständig. Weil alles an ihm hängt, gilt ihm Klage und Anklage. Klagen sind Gebete.“

11) zum Beispiel: W. Grundmann, a.a.O.,  S. 162.

12) Josef N. Neumann, „Böse und behindert“: Zur Geschichte eines Vorurteils, in: Junge Kirche, 55. Jg., 1994, S. 215-217 (Zitat: S. 217).

13) ders., Die Mißgestalt des Menschen – ihre Deutung im Weltbild von Antike und Frühmittelalter, in: Sudhoffs Archiv, Band 76, Heft 2 (1992) (Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart), S. 214-231.

14) zum folgenden vgl.: U. Bach, Kreuzestheologie und Behindertenhilfe, in: Pastoraltheologie, 73. Jg., 1984, S. 211-224, bes.: S. 221-224; auch in: Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein. Auf dem Wege zu einer diakonischen Kirche, Neukirchen 1986, S. 98-116 (113ff).

15) D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. von E. Mülhaupt, Göttingen, Band 1, 3.Aufl. 1957, S. 34f.

16) D. Martin Luthers Epistel-Auslegung, 4. Band: Der Galaterbrief (Hg.: H. Kleinknecht), Göttingen 1980, S. 302.

17) Ulrich Bleidick, Die Behinderung im Menschenbild und hinderliche Menschenbilder in der Erziehung von Behinderten, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 41. Jg., 1990 (Heft 8), S. 514-534, Zitat: S. 516.


Quelle: Ulrich Bach, Hauptsache gesund? Der Glaube an die Machbarkeit einer von Krankheit freien Welt, in: Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Württemberg e.V. (Hg.), Der Rede wert, Beiträge aus der Arbeit der Diakonie, Stuttgart, 1997

Ist unsere Theologie noch zu retten?

Über Sinn und Unsinn theologischer Aussagen in der Diakonie

Es ist jetzt vierzig Jahre her, daß ich, noch Schüler, mein erstes theologisches Buch las: Karl Barths Grundriß der Dogmatik, aus Vaters Bücherschrank genommen. Damals schon packte mich Theologie, und sie hat mich bis heute nicht losgelassen. Ihre Faszination spürte ich besonders deutlich, als ich vor gut 25 Jahren Mitarbeiter in der Diakonie wurde. Denn ich merkte schnell, daß Diakonie theologisch stark unterernährt war: der barmherzige Samariter, die „geringsten Brüder“ und das Stichwort „Nächstenliebe“ – das darf doch nicht reichen! „Leib Christi“, „Haushalterschaft“, „Schöpfung“: große theologische Begriffe schrien geradezu danach, im Kontext von Diakonie neu durchbuchstabiert zu werden. Meine Vorstellung war: Diakonie muß mehr Theologie treiben. Anders gesagt, allgemeiner: Lange habe ich geglaubt, Kirche und Diakonie müsse es besser gehen, wenn beide mehr Theologie an sich heranließen. Und ebenso meinte ich: Kirche und Theologie müsse es besser gehen, wenn beide mehr Diakonie an sich heranließen. (In die Systematik würde jetzt passen: Theologie und Diakonie müsse es besser gehen, wenn beide mehr Kirche an sich heranließen – aber dieser Aspekt war nicht deutlich in meinem Blick.) Und genau diese damalige Sicht der Dinge scheint mir heute recht naiv gewesen zu sein: Wäre denn schon ein Zusammenrücken tatsächlich eine Hilfe? Ist wirklich „Theologie“ eine Größe, die es Kirche und Diakonie besser gehen lassen könnte? Und ist andererseits „Diakonie“ eine Größe, durch die Kirche und Theologie genesen könnten? Um meine Denk-Richtung deutlich zu machen, überzeichne ich einmal bewußt und sage: Wenn Theologie für Kirche und Diakonie eine Hilfe sein soll, muß sie sich zuvor gründlich ändern. Ganz kraß: Jedes „mehr“ an Theologie (an dieser Theologie; an derzeitiger Theologie) brächte Kirche und Diakonie den nächsten Fieber-Schub. Ebenso müßte ehrlich gesagt werden (davon allerdings soll im folgenden nicht weiter die Rede sein): Jedes „mehr“ an Diakonie (an dieser Diakonie, an derzeitiger Diakonie) brächte Kirche und Theologie näher an den Abgrund; das aber hieße: Soll Kirche einigermaßen Kirche bleiben, soll Theologie ein bißchen ihren Namen verdienen, müßte man beide davor warnen, mit der heutigen Diakonie anzubändeln. Doch zurück zu meiner Theologie-Kritik: Wenn Kirche und Diakonie nicht total ruiniert werden sollen, müßte man sie warnen, sich von der heutzutage beklatschten Theologie weiter infizieren zu lassen. – Ohne Zweifel habe ich jetzt übertrieben. Mit dem bisher Gesagten wollte ich nur die Richtung meiner Gedanken verdeutlichen; natürlich bin ich da über’s Ziel hinausgeschossen; ich muß also differenzieren. Was ich tatsächlich meine, ist dieses: Theologie hat es heute unbedingt nötig, mutig einen dritten Schritt zu tun, nachdem sie unter Kämpfen und Krämpfen in den letzten hundert Jahren gelernt hat, zwei andere wichtige Schritte zu vollziehen. Genauer: Theologie hat bereits begriffen, daß sie lange Zeit politisch und sozial eine falsche Koalition eingegangen war (Gott will das Rechte – Thron und Altar; und: Reichtum ist Zeichen des göttlichen Wohlgefallens – ich hörte neulich von einer kirchlichen Gruppierung, die zwei Gründe für den Ausschluß kannte: Ehescheidung und Bankrott!). Inzwischen haben wir einigermaßen gelernt, daß (politisch) Christus nicht gegen die Kommunisten gestorben ist (Gust. Heinemann vor Jahren im Bundestag), und daß (sozial) Christus der Bruder der Armen ist (Befreiungstheologen, aber nicht nur sie). Heute müssen wir sogar aufpassen, daß wir nicht bei den gegenteiligen, ebenso falschen Koalitionen landen, als sei Christus links, als sei Armut schon die „halbe Miete“, um in den Himmel zu kommen. – Nun zu meiner Kritik an der heutigen Theologie: Ich behaupte: Was wir im politischen und im sozialen Bereich gelernt haben, übersahen wir bisher fast völlig im vitalen Bereich: Da schwebt uns weiterhin naiv die Koalition Gottes mit „Kraft“, „Gesundheit“, „Selbständigkeit“, „Energie“, „Schönheit“ usw. vor. Um mit Johannes Degen zu sprechen: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß wir einen „Gott der Menschen ohne Behinderung“ anbeten, daß dieser Gott ein Götze ist und daß wir an der „Demontage“ dieses Götzen arbeiten müssen (J.Degen, Diakonie im Widerspruch, 1985, S. 41f). An dieser Demontage zu arbeiten, erfordert Durchhalte-Vermögen, weil man sich nämlich dabei rasch den Vorwurf einhandelt, man verherrliche das Leiden. Das wäre natürlich Humbug; denn wie es keine Christus-Koalition mit „links“ und „arm“ gibt, so auch keine mit „behindert“. Wie Christus quer steht zu Mann/Frau, Sklave/Freier (vgl. Gal 3,28 usw.), so auch zu arisch/jüdisch, gesund/krank, rechts/links, reich/arm und anderen Alternativen, die uns oft arg wichtig sind. Mir macht es allerdings Schrecken, wenn ich sehe, wie naiv auch bekannte Theologen die Koalition Gottes mit der Gesundheit voraussetzen bzw. sie theologisch massiv unterfuttern. So behauptet Manfred Josuttis unter (fälschlicher!) Berufung auf Karl Barth, der Wille zur Gesundheit stelle einen Gehorsamsakt gegen das erste Gebot dar (M.Josuttis, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, 1974, 4. Aufl. 1988, S.131); damit wird ausgesagt: Gesundheit ist nicht nur eine gute Gabe Gottes, die wir ehren und achten sollen wie die Eltern (4. Gebot), die Ehe (6. Gebot) usw.; sondern in ihr geht es ums Ganze: wer die Gesundheit antastet, tastet Gott an; wer sie nicht ernst nimmt, treibt Götzendienst. Noch anders: Das bekannte vulgär-religiöse „Hauptsache gesund!“ unserer Geburtstags- und Neujahrs-Begrüßungen wird hier göttlich geadelt, es wird Gott selbst gewissermaßen in den Mund gelegt. Ausführlich (ich kann das jetzt nur andeuten; vgl. hierzu: U.Bach, Heilende Gemeinde?, 1988) müßte nun die Rede sein von einem Sprachgebrauch, der sich auch in Veröffentlichungen aus dem Bereich der Diakonie findet, nach dem Heil und Heilung so eng zusammengehören, daß Heilung ein Teil des Heils wird, das Gott uns Menschen zugedacht hat. Von der Bibel her ist das eine glatte Ketzerei, denn in der Schrift wird auch dem Menschen, der nicht geheilt wird, Gottes ganzes Heil zugesagt (z.B.: II Kor 12,9). Ein weiteres Beispiel möchte ich breiter darstellen; es ist bisher das letzte, das ich kennenlernte. Es hat zunächst mit Diakonie gar nichts zu tun, da es (scheinbar!) nur um zentral-theologische Fragen geht. Jeder, der lesen gelernt hat, merkt aber rasch, daß hier sofort diakonische Thematik mit angesprochen ist. Für die nicht-theologischen Leser muß ich knapp folgendes vorausschicken: In der Theologie wird unterschieden zwischen dem „offenbaren“ Gott (Gott, wie er sich uns in Christus geoffenbart hat; Theologen sagen: „deus revelatus“; was Gott in der Christus-Offenbarung tut, also unsere Rettung, seine Liebe zu uns, ist sein eigentliches Tun, lateinisch: „opus proprium“) und auf der anderen Seite dem „verborgenen“ Gott (Gott außerhalb der Christus-Offenbarung; Theologen sagen: „deus absconditus“; sein Tun ist unverständlich, ja sogar un-eigentlich, fremd, lateinisch: „opus alienum“). Diese Begrifflichkeit kann etwa herangezogen werden, wenn von Zachäus und Judas die Rede ist: Christus zeigte (offenbarte) sich dem Zöllner Zachäus so, daß der an ihn glauben konnte, daß ihm das „Heil widerfuhr“ (Lukas 19,9); aber wie sieht es mit Judas aus? Mußte der Jesus verraten? Konnte Gott das nicht verhindern – oder wollte er das nicht verhindern? Hier soll nun gesagt sein: Auch dieses Geschehen ist nicht außerhalb der göttlichen Herrschaft, aber es ist uns Menschen absolut „verborgen“ und „fremd“; wir können es nicht verstehen, nicht begründen, nicht nachrechnen. – Außerordentlich wichtig ist es, wenn man diese Begrifflichkeit benutzt, sie sauber zu benutzen; das heißt: streng durchzuhalten, daß es die göttliche Offenbarung wirklich nur in Christus gibt, und daß alles andere (das was uns paßt, und was uns nicht paßt; was wir meinen, verstehen zu können, und was wir „überhaupt nicht mehr verstehen“) auf die Seite des „verborgenen Gottes“ gehört. H.J.Iwand schrieb in seinen „Erläuterungen“ zu Luthers „De servo arbitrio“ (dt.: Vom unfreien Willen) (Münchener Luther-Ausgabe, 1.Band der Ergänzungsreihe, S. 260), auf die Seite des verborgenen Gottes gehöre Gottes gesamtes „Wirken in Natur und Geschichte…, in allem, was unter der Sonne geschieht“; also nicht nur das Tausende hinraffende Erdbeben, sondern auch der herrlichste Sonnenuntergang im Urlaub, nicht nur -ich nähere mich dem Thema der Diakonie- die Vierzigjährige, die vom Krebs scheinbar sinnlos und offenkundig qualvoll zerstört wird, sondern auch die Neunzigjährige, die, ohne je ernstlich krank gewesen zu sein, lebenssatt für immer „einschläft“: Warum Gott dieses und das tut, warum er dem einen Menschen dieses und dem anderen etwas ganz anderes zuweist, das wissen wir nicht; es ist uns total verborgen. Gesagt, „offenbart“ ist uns nur: Gott ist uns allen gnädig. Nun aber endlich zum angekündigten schlimmen Beispiel! Im April-Heft dieses Jahrganges der Zeitschrift „Pastoral-Theologie“ findet sich auf Seite 180 folgender Satz: Luther arbeitet „… mit der Unterscheidung zwischen dem in Christus offenbaren Gott und dem verborgenen Gott, dem opus proprium (Vergebung, Erbarmen, Heilung) und opus alienum (Tyrannei, Krankheit, Tod) …“ Hier wird die oben erklärte Begrifflichkeit benutzt, aber (was die beiden Klammern betrifft) in keiner Weise sauber durchgehalten. Jetzt wird nämlich behauptet: Auf die Seite des in Christus offenbaren Gottes, in sein „eigentliches“ Tun, gehört nicht nur die Vergebung, mein Heil, die mir zugesprochene Gnade, sondern ebenso auch mein Gesundsein; daß ich sehen, denken und hören kann, und daß ich durch Christus Gottes Kind bin (I Joh 3,1): beides gehört angeblich miteinander in das für Gott typische Gnaden-Handeln. Alle Krankheit gehört (mit Gottes Zorn und Gerichts-Handeln; das steht nicht ausdrücklich da, aber das weiß jeder Theologie-Student, daß beides zum „opus alienum“ gehört) auf die Seite des verborgenen Gottes; was da geschieht, ist ein „fremdes“ Tun Gottes. Was in den beiden Klammern dieses Zitats geschieht, ist geistliche Stigmatisierung im Exzeß! Der Kranke ist nicht nur schlechter dran als der Gesunde, sondern er hat auch geistlich andere Karten, schlechtere, auf der Hand – die Karten, an die wir bei der Sintflut denken und beim Verräter Judas: gewiß war Gott auch da „irgendwie“ der Handelnde, aber wirklich nur „irgendwie“; „richtig“, direkt, eigentlich, sein wirkliches Gesicht zeigend (offenbarend) handelte Gott in Jesus Christus und da, wo er Menschen gesund sein läßt. Nicht etwa nur unsere dummen Vorurteile behaupten, Kranke und Behinderte seien „anders“, irgendwie weniger; nein, nein: angeblich auch von Gott her ist der Unterschied zwischen einem Kranken und einem Gesunden zu verstehen als der Unterschied zwischen einem Menschen, dem Gott zürnt, den er straft, und einem Menschen, dem er seine Liebe und Gnade schenkt. – Ich wüßte nicht, daß in Südafrika Apartheids-Theologen den Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen theologisch ähnlich fundamental festzurren, wie es hier mit dem Unterschied zwischen gesunden und kranken Menschen geschieht. Jedenfalls müßte ich den Begriff „theologischer Sozial-Rassismus“ heute erfinden, wenn er mir nicht schon vor sechs Jahren in den Sinn gekommen wäre (U.Bach, Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein, 1986, S. 27 und 135). Selbstverständlich behaupte ich nicht zu wissen, warum kranke Menschen krank sind; der Sinn der Krankheit ist niemandem von uns „offenbart“ worden. Ich bestreite aber, daß irgendjemand begründen und verstehen kann, warum gesunde Menschen gesund sind; auch dieses ist uns nicht offenbart worden. Anders gesagt: Ich widerspreche nicht, wenn ein Theologe, wie es in dem genannten Zitat geschieht, die Krankheit auf die Seite des „opus alienum“ (des fremden Tuns Gottes) bringt; ich protestiere aber, wenn er die Gesundheit auf der Seite des „opus proprium“ abbucht (da, wo alles zusammengestellt wird, worin Gott sein wirkliches Gesicht zeigt). Noch anders gesagt: Solidarität (der Gegenbegriff zum theologischen Sozial-Rassismus) ist nicht möglich auf der Ebene der Wissenden, auf der Ebene der Offenbarung (so als tue Gott uns auch im Bereich des Vitalen seinen Willen kund; so als könnten wir die mit Gesundheit und Krankheit zusammenhängenden Dinge verstehen), sondern nur auf der Ebene der an der Verworrenheit unserer Welt Herum-Rätselnden: Gott und sein Tun und seine Absichten sind uns „verborgen“, nicht was seine uns in Christus geschenkte Gnade angeht, wohl aber was die Frage betrifft, warum es manchem unter uns gesundheitlich so viel besser (bzw. schlechter) geht als vielen anderen Menschen. Ich komme zum Ausgangspunkt zurück: Theologie lernte bereits um, was links/rechts und was reich/arm angeht; sie muß allerdings noch umlernen im Blick auf gesund/krank usw. Wie sehr dieser Umlern-Prozeß noch aussteht, spürt jeder, der den Satz an sich heranläßt: ein schwerstbehindertes Kind ist genau so Gottes geliebtes und gutes Geschöpf wie das gesunde Kind der Nachbarn. Da sträubt sich manches in uns; und ich schlage vor, wir versetzen uns gedanklich in eine Diskussion um 1848, in der gerade jemand behauptet hat, Gott stehe dem König und seiner Polizei keinen Deut näher als den Randalierern (links und rechts hätten die gleiche Gottferne und die gleiche Gottnähe); die Mehrheit unserer theologischen Urgroßväter konnte offenbar gar nicht anders als theologisch empört zu sein; und trotzdem war der Satz richtig (so richtig, daß wir ihn uns bereits an den Schuhsohlen abgelaufen haben). Stellen wir uns vor: Jener gedachte Diskussions-Redner und seine Freunde hätten sich damals zum Schweigen bringen lassen, unsere Theologie sähe, beim Thema „links/rechts“ noch immer so schrecklich aus wie 1848. Entsprechend sage ich nun: Es ist im Blick auf Kranke, Behinderte und Altersschwache (also im Blick auf uns alle, sofern wir einmal mutig 10 bis 60 Jahre weiterdenken) absolut notwendig, daß unsere Theologie jetzt auch den genannten weiteren Umlern-Schritt vollzieht, und zwar nicht erst in wiederum anderthalb Jahrhunderten, sondern daß sie schon heute und morgen den Mut findet, Menschen, die im Vitalen sehr schwach sind, und Menschen, die im Vitalen sehr stark sind, als völlig gleichberechtigt zu erklären im Blick auf sämtliche theologischen Aussagen über uns Menschen. Andernfalls wären wir eine schlafende Kirche, unbrauchbar für die Aufgaben, die heute anstehen. Denn auch das läßt sich in der Parallele zu 1848 rasch erkennen: Wie damals, historisch wohl unbestritten, die deutsche Theologie rechtslastig war und darum jedes Aufmucken der Proletarier gegen die Obrigkeit als Ungehorsam Gott gegenüber interpretierte (und bekämpfte), wodurch die Arbeiter-Bewegung dem Atheismus geradezu in die Arme getrieben wurde (in den angelsächsischen Ländern war eine Koalition der dortigen Frei-Kirchen mit dem Staat nicht gegeben; vielmehr hielten diese Kirchen ihre Staats-kritischen Vorbehalte wach; darum waren sie fähig, für die den Staat kritisierenden Arbeiter als Freunde in Frage zu kommen; die dortige Arbeiter-Bewegung war infolgedessen nie so aggressiv atheistisch wie in Deutschland), so steht heute zu befürchten: Wenn unsere Theologie im Vital-Bereich weiterhin an der Koalition mit dem vulgär-religiösen „Hauptsache gesund!“ unbeirrt festhält, dann werden damit Behinderte, Kranke und Alte von Gott, Bibel und Kirche entfremdet und möglicherweise dem Atheismus oder irgendwelchen obskuren Religionen zugetrieben. Die Bibel nennt das: sie kämen zu Fall, ihnen, den kleinen Leuten, würde „Ärgernis gegeben“. Jesus sagte einmal: „Wer aber Ärgernis gibt einem dieser Kleinen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist“ (Mt 18,6). Hat unsere Theologie den Mühlstein verdient, oder ist sie noch zu retten? Quelle: Ulrich Bach, Ist unsere Theologie noch zu retten?. Über Sinn und Unsinn theologischer Aussagen in der Diakonie, in: Weltweite Hilfe, Zeitschrift des Diakonischen Werks in Hessen und Nassau, 39.Jg. Heft 3, S. 23-28