Pastor D. Ulrich Bach, Wetter-Volmarstein
„Siehe, um Trost war mir sehr bange…
Vortrag am 11. März 1996
beim 2. Symposion Altenseelsorge ’96 (Ev, Johanneswerk)
„Trost im Alter …“ (11. bis 14.März 1996)
Seite 39-48
Um ein bißchen spitz zu beginnen: Bei Kurt Tucholsky ist über den Menschen nachzulesen (Tucholsky AW II, S. 137): „Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenns ihm gut geht, und eine, wenns ihm schlecht geht. Die letztere heißt Religion.“ Denkmöglich ist es für mich. daß heute von mir erwartet wird – vielleicht nicht vom Veranstalter, aber mag sein: von dem einen oder der anderen im Zuhörerkreis -, in Tucholskys Sinne ein ordentlicher Religions-Vertreter zu sein: Wenn das Thema „Alter“ dran ist, geht es uns nun einmal „schlecht“, und darum brauchen wir jene zweite Überzeugung mit dem hoffnungsträchtigen Namen „Religion“: wie schön ist es, daß auf dieser Tagung das erste Referat von einem Theologen gehalten wird! Da, wo uns um Trost sehr bange ist, wird er gewiß den erhofften Trost zu erteilen (oder: zu verteilen) wissen. – Um, wie gesagt, ein bißchen spitz zu beginnen: Hier möchte ich mich verweigern.
Ich möchte den Trost davor bewahren, zur Vertröstung zu werden. Anders gesagt: Auch wenn der Mensch zwei Beine hat, ich möchte es gern bei einer Überzeugung belassen für schlechte und für gute Tage, bei einem Trost im Sterben und im Leben. Der Heidelberger Katechismus nennt Jesus Christus den einzigen Trost im Leben und im Sterben. Wir werden nicht verhindern können, daß viele Menschen heute anderswo Trost und Sinn, Lebensbasis und Frieden suchen (und zu finden meinen). Aber eins sollten wir zu verhindern trachten: daß man in jungen Jahren den Trost in Beruf und Gesundheit, in Karriere und Erfolg sucht, um dann fürs Alter sich auf Jesus Christus als den einzigen Trost im Sterben zu besinnen. Das wäre das Tucholsky-Schema von den zwei Überzeugungen; damit hätten wir aus dem einzigen Trost im Leben und im Sterben eine billige Vertröstung für den letzten Lebensabschnitt gemacht. nach dem Motto: Ab Rente wird Jesus aktuell. Solcherlei Lied erwarten Sie bitte nicht von mir. – Ich weiß überhaupt nicht, ob ich viel von Trost zu sagen weiß. Es ist ja durchaus möglich, daß eine ehrlich eingestandene Trostlosigkeit viel realistischer wäre. Jedenfalls will ich als Theologe nichts schönreden. Was ich sage, auch was ich über den Trost sage, will ich so sagen, daß klar bleibt: es gibt gute Gründe für ein ausführliches Referat zum Thema „Trostlosigkeit im Alter“.
Oder fällt Ihnen da irgendetwas „Tröstliches“ ein, wenn ich Ihnen vorlese, was zwei dänische Wissenschaftler 1994 schrieben: „Nach unserer Auffassung scheint es ganz natürlich, zu sagen, daß die Organe lebendiger Personen lebenswichtige Gesundheitsressourcen sind, die wie alle lebenswichtigen Ressourcen gerecht verteilt werden müssen. Wir könnten uns.daher gezwungen sehen, darauf zu bestehen, daß alte Menschen getötet werden, damit ihre Organe an jüngere, kritisch kranke Personen, umverteilt werden können, die ohne diese Organe bald sterben müßten. Schließlich benutzen die alten Menschen lebenswichtige Ressourcen auf Kosten von bedürftigen jüngeren Menschen“ (zit. nach: Feyerabend (u.a.) WN, S. 30). Das hieße: Unsere Altenheime werden eines Tages vielleicht zu „Grabbel-Tischen“, an denen sich die „Halbgötter in Weiß“ – zwecks Transplantation – preisgünstig bedienen können – um
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Trost war mir sehr bange! – Das Schlimme: Die beiden sind nur konsequent Es scheint sich heute einzubürgern, unsere Organe Ressourcen zu nennen. „Mein Bauch gehört mir“ – das wäre dann nicht nur ein dummer Satz; er wäre auch längst überholt: er stammt aus der Zeit, als die Menschenwürde noch unantastbar war – das muß ’ne Weile her sein. Dein Bauch gehört dir?, wie kommst du denn da drauf? Gar nichts gehört dir, keine Niere, keine Hornhaut, kein Knochenmark, schon gar nicht ein ganzer Bauch; du benutzt zur Zeit Ressourcen, die uns allen gehören, und die wir dir großzügig so lange gönnen, wie wir keine wichtigere Verwendung für sie haben; aber das kann sich von jetzt bis gleich ändern. – Heute, in dieser verrückten Zeit, soll ich alt werden ohne Angst? Wie macht man das?
Soll ich Ihnen zwischendurch einmal sagen, was ich vermutlich denken würde, wenn ich an Ihrer Stelle säße? Ich dächte wohl: Wann fängt der endlich mal mit seinem Vortag an? Wenn der so weiter macht, ist er heute abend noch bei seinen Vorbemerkungen – oder wie man das nennen soll, was er da im Augenblick abspult. – Tatsächlich, ich bin noch bei den Vorbemerkungen; und ich werde bei ihnen bleiben. Einen sauberen Vortrag kann ich Ihnen nicht halten: Trost und Alter in der Bibel; Trost und Alter in der Geschichte; Trost und Alter heute; Folgerungen für die Diakonie. Natürlich, so oder ähnlich stellt man sich einen Vortrag vor; das wäre auch gar nicht schlecht. Nur sehe ich mich dazu nicht in der Lage; nein, ich will es auch nicht. Warum nicht? Ich muß Ihnen kurz erzählen, woher ich im Augenblick komme. Ich komme her „aus“ (so muß ich wohl sagen) einer schweren Lungenentzündung, die mir im vergangenen Herbst arg zu schaffen machte. 64 Jahre alt, seit über 40 Jahren Rollstuhlfahrer, jetzt zusätzlich diese Erkrankung. Ein Häufchen Mensch, das da nach Luft japste. Aushusten müssen, aber (wegen des behinderungsbedingten Fehlens der Bauchmuskulatur) nicht aushusten können – total angewiesen auf Phantasie und Tatkraft meiner Frau. Lebte ich? Wurde ich gelebt? Es war eine Schwäche, die jeden Stolz zerbricht, auch noch die letzten Reste. – Heute spüre ich in mir den Impuls: sei froh, du hast es hinter dir. In mir höre ich aber auch: sei mutig, du hast vielleicht Schwereres noch vor dir. Beide Impulse möchte ich zulassen. Hielte ich es nur mit dem ersten (sei froh, du hast es hinter dir), dann versuchte ich jetzt einen zünftigen Vortrag; mit ihm feierte ich mich als Steh-auf-Männchen: im Grunde bin ich unschlagbar! Folgte ich nur dem zweiten Impuls (sei mutig, du hast noch manches vor dir), könnte mich das stumm machen, vermutlich hätte ich den heutigen Termin abgesagt, denn für Vorträge bliebe keine Zeit, ich muß mich auf mich selber konzentrieren. Wie gesagt: Ich will beide Impulse zulassen: ich will mich zum Thema äußern, dabei aber keinen Augenblick leugnen, daß ich wesentlich stärker im Thema drinbin, als es diejenigen wissen konnten, die mich vor Jahresfrist um diesen Beitrag baten. Das heißt also: ich werde es bei Vorbemerkungen belassen; oder etwas freundlicher: bei Anmerkungen zum Thema, bei Notizen zur Sache.
Lassen Sie uns zuerst ein bißchen kreisen um die Thema-Stellung: Trost, Trostlosigkeit und Alter. Ein paar Anmerkungen zur gemalten Trostlosigkeit:
„Guck mal, der da – ist das nicht schrecklich?'“ So rasch geht das oft: man blickt kurz hin, sieht etwas scheinbar Unerträgliches und wendet sich innerlich ab. Schrecklich! Schrecklich ist tatsächlich das, was ich mir da ausmale. Aber wer sagt mir denn, daß das, was der alte Herr da drüben erlebt, in sich ebenfalls schrecklich ist. – Bei Pablo Neruda fand ich die schönen Zeilen: „… so ist es: I/ müde seiner selbst, wie man genug hat / von einem total durchlöcherten Anzug…“ (Neruda LW III, S. 731). So kann es sein. Da ist einer nicht glücklich, aber es ist auch nicht schrecklich. Da ist einer am Ende. Jetzt reicht es. „Lebenssatt“ wäre geschönt. Aber: keinen Appetit mehr haben auf weitere Jahrzehnte – ist das eigentlich so schlimm? „Müde seiner selbst, wie man genug hat / von einem total durchlöcherten Anzug“. – Gemalte Trostlosigkeit, das ist ein Thema, mit dem es behinderte Menschen fast täglich zu tun haben, schon in jungen Tagen. Warum sonst hat mir die alte Dame ein Fünf-Mark-Stück in die Hand gedrückt? Ich hatte als junger Pastor einer Frauenhilfs-Gruppe eine Andacht gehalten. Vermutlich hat sie die ganze Zeit an meiner Trostlosigkeit gemalt: so jung und dann so behindert!, das ist ja entsetzlich. Sie konnte sich nicht vorstellen, was mir in jenen Jahren ein Bekannter sagte: Ich habe lange
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niemanden mehr gesehen, der so viel Blödsinn macht wie Sie. Das konnte sich auch der junge Mann nicht vorstellen, der mir, kaum hatten wir uns kennengelernt. mitteilte: An Ihrer Stelle hätte ich längst Schluß gemacht. Ich bin mir sicher, daß man dieses Phänomen der gemalten Trostlosigkeit auch im Umfeld der alten Menschen antrifft: Man beobachtet eine Situation von außen, kennt den betreffenden Menschen nicht, nimmt nur Fragmente wahr, die man nicht als Teile einer ungewohnten, aber sinnvollen Einheit verstehen kann (vielleicht auch nicht verstehen will), und gerät in Panik: gemalte Trostlosigkeit.
Zwei Beispiele dazu. Das erste entnehme ich dem Buch von ‚Walter Jens und Hans Küng, „Menschenwürdig sterben“. (Vergleiche dazu die kritische Besprechung durch Renate Schernus in „Wege zum Menschen“: Schernus ÜMB.) Da sagt Hans Küng (Jens-Küng, S. 209): „Ich möchte … nicht erleben, was mir ein … Arzt ganz freundlich zu meiner Beruhigung gesagt hat“; der hat nämlich von einem altersdementen Professor erzählt, „der nicht mehr weiß, wer er ist, und jeden Tag sich aus der Klinik entfernt und ganz munter in die Stadt geht; er trägt eine Nummer auf dem Rücken seine Telefonnummer; er geht dann in eine Bar und kommt nach ein paar Stunden wieder fidel zurück.“ Sehe ich die Dinge richtig? Vermutlich würden Sie sich glücklich schätzen, wenn Sie es in Ihren Gruppen mit lauter solchen „pflegeleichten“ Menschen zu tun hätten. Aber das nur am Rande. Küng fährt fort: „Also ehrlich gesagt, so möchte ich mich nicht eines Tages zum Gespött der Überlebenden durch Tübingen wandeln sehen!“ Nun gut, ’so möchte ich nicht‘, wer kann ihm das verwehren. Aber ist die Situation wirklich so trostlos, so uferlos schrecklich, daß man, wie es bei Küng (im direkten Anschluß an das Zitat) der Fall ist, weiterdenken muß in Richtung von „Regelungen“ der aktiven Sterbehilfe?
Weshalb ich an dieser Stelle ausführlich werde, hat seinen Grund darin, daß ich Ihnen keinen Ausspruch eines Managers im Box-Sport-Verbandswesen vorgelesen habe, sondern Sätze eines Theologen, eines der bekanntesten heute lebenden Theologen. Und zweifellos gehört es für jeden verantwortlichen Theologen heutzutage zum „kleinen Ein-mal-Eins“, den Gegensatz zu kennen zwischen den in unseren Gesellschaften üblichen Menschenbildern und der Art, in der unsere Bibel vom Menschen spricht Ich zitiere dazu ein paar Zeilen aus dem Memorandum „Leben und Zeugnis der Behinderten in der christlichen Gemeinde“, das 1978 bei einer ökumenischen Konsultation in Bad Saarow (DDR) beschlossen wurde, Da heißt es am Ende bei den „weiteren Aufgaben und Erfordernissen“ unter anderem: „Kritische Reflexion der gegenwärtigen anthropologischen Leitbilder und Ideale wie Stärke, Schönheit, Leistungsfähigkeit und deren diskriminierende Wirkung auf behinderte Menschen im
Lichte des Bekenntnisses zu Jesus Christus, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist“ (Saarow Mem, S. 11/205/233). Oder: „Die christliche Gemeinde muß deshalb der Ort sein, wo solche Vorurteile und Einstellungen im Lichte eines Menschenbildes, das sich an Jesus Christus als dem leidenden Gottesknecht und Bruder der Armen und Verachteten orientiert, aufgedeckt und verändert werden.“ (a.a.O., S. 7/202/231f)
Am Rande sei schmunzelnd vermerkt, daß es offenbar schwer ist, sich vom Ideal des Könnens und der Stärke zu verabschieden. Das zeigt sich bis hin zu einem Druckfehler, den ich gerade nicht mitgelesen habe. Im Original heißt es, wir müßten unser Menschenbild orientieren an Jesus Christus, „dem leitenden (!) Gottesknecht und Bruder der Armen“ (so in allen drei Ausgaben; vgl. Literatur-Nachweise). Bleiben wir beim leidenden Gottesknecht. wie die Passionsgeschichte ihn zeichnet: Ecce homo; seht, ein Mensch!, sagt Pilatus und zeigt hin auf den geschundenen und verspotteten Mann aus Nazareth. Hier steht „der“ Mensch in seiner kaum zu überbietenden Schwachheit Aber in dieser Schwachheit vollbrachte er das ihm von Gott aufgetragene Werk. „Meine Kraft erfüllt sich in der Schwachheit“ (2.Kor.12,9); dieser bekannte Satz ist demnach kein kerniger Spruch, den unser Meister später seinem Apostel Paulus vermittelt; sondern es ist zunächst die von ihm selber durchlittene und durchkämpfte Wahrheit. – Wer heute den Mut hat, bei diesem Menschen anzusetzen, wenn er über uns Menschen
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nachdenkt, der hat es wirklich nicht nötig, schon bei einem Professor, der ein bißchen heiter und ein bißchen komisch durch Tübingen läuft, an die Spritze zu denken.
Aber nun das zweite Beispiel: Am frühen Nachmittag komme ich ins Zimmer einer alten verwirrten Dame. Ich sitze an ihrem Gitterbett, sage ihren Namen, sage meinen Namen; dann sage ich den Satz, den sie zu Beginn ihrer Verwirrtheit jedesmal sagte, wenn wir uns trafen: „wir kennen uns ja auch, wohl?“ Aber heute schuf auch dieser Satz keine Brücke. Zudem war sie beschäftigt. Auf ihrer Brust stand das Plastik-Schälchen vom Mittags-Pudding. Sie geht mit dem Zeigefmger hinein, sucht die letzten Reste und lutscht den Finger ab. Langsam. Immer wieder. Wie weit sie mich wahrnahm, weiß ich nicht. Als ich das Vaterunser sprach, schien sie einmal kurz aufzumerken. – Ich nehme es mir nicht übel, daß es in mir das Empfinden gab: so möchte ich nicht sehr gerne ‚mal daliegen müssen. Aber ich bin froh, daß bald ein anderer Gedanke in der Nähe war, ein Satz, den ich bei Bert Brecht gelesen hatte: „nur das Grab lehrt mich nichts mehr.“ (Brecht Gedichte, S. 558) Brecht will lernen, leidenschaftlich lernen, will überall lernen, von jedem lernen; er kennt nur eine Grenze: wenn jemand tot ist, dann kann ich nichts mehr bei ihm lernen: nur das Grab lehrt mich nichts mehr. – Das weckte in mir die Frage: Bin ich bereit, von dieser alten Frau zu lernen? Wenn nicht, dann habe ich sie wie eine Tote behandelt Ich glaube, das war weniger verkopft, als es jetzt klingt; ich merkte vielmehr, wie ich da saß, und bei ihr lernte: Wie macht sie das nur: so leben, so leben müssen und dann in diesem Zustand Interesse am Weiter-Leben zeigen; ja, darum ging es: sie zeigte mit ihrem Pudding-Schlecken ihr Interesse daran, weiter zu leben; das Leben kann nicht ganz daneben sein, wenn es noch Puddingreste im Schälchen gibt – unwahrscheinlich, ein unglaublicher, ein Trost-nicht-bedürftiger Mut. Wieso war sie auf meinen Trost angewiesen? Ich hatte hier zu lernen.
Um es zusammenzufassen: Sind wir mutig oder sind wir feige? Erkennen wir die Situation, in der ein verwirrter Professor, mit der Telefonnummer auf dem Rücken, in Tübingen unterwegs ist, die andere, in der ich während der Lungenentzündung nach Luft japse und vor Anstrengung heule, weil es auf dem Nachtstuhl nicht klappen will (lächerlich, da war ich eine Spottfigur), oder die dritte, in der die alte Dame die Pudding-Reste schleckt, erkennen wir diese Situationen als mögliche Lebensformen vielleicht auch für unser Leben an, oder verweigern wir uns? Malen wir die Trostlosigkeit dieser Ausprägungen von Leben in so schaurigen Farben, daß man nur noch weglaufen kann? Oder gehen wir auf solche Situationen offen und lernwillig zu: interessant, was alles zu „unserem“ Leben dazugehören kann! – Ich behaupte: Einen großen Teil der Trostlosigkeit im Alter bildet diese gemalte Trostlosigkeit, die in Wahrheit nichts anderes ist als die Mutlosigkeit der Jüngeren.
Bei meinem nächsten Punkt, der gemachten Trostlosigkeit, will ich die These voranstellen: Wir planen und gestalten unser persönliches und unser gesellschaftliches Leben so stromlinienförmig und temporeich, daß damit automatisch das Altsein der alten Menschen immer exotischer, immer absurder, immer unerträglicher wird. – Das Ideal der Jugendlichkeit zum Beispiel hat zur notwendigen Folge, daß alte Menschen als Außenseiter gelten. In einer Gesellschaft, in der es den Satz gibt: „Trau keinem über dreißig!“, gehört es sich einfach nicht, siebzig zu sein. Das hat noch nichts zu tun mit finanziellen oder personellen Engpässen, das läuft in unseren Köpfen und Herzen ab. – „An und für sich“, sagte Dieter Hildebrandt („Scheibenwischer“ im Januar 1995), „ist Altsein bei uns noch erlaubt. Nur man sieht’s nicht gerne“ (zitiert nach: Schernus HL, S. 6). Alte Menschen werden nicht verboten, aber sie müssen sich schämen. Sechzig Jahre – das geht; auf dem Friedhof liegen – auch möglich. Aber dazwischen irgendetwas. sagen wir: 89 sein und noch immer leben – was soll das eigentlich, wer hat ‚was davon? – Das ist die völlig logische Kehrseite des Ideals der Jugendlichkeit und der Leistungsstärke; das ist wirklich trostlos. Nur: Diese Trostlosigkeit haben wir alle mitgebaut. Wir alle legen in jungen Jahren großen Wert darauf, mithalten zu können bei unseren drei Norm-Idealen „Selbständigkeit“, „Gesundheit“ und „Leistungsstärke“. Ich will das nicht moralisch anprangern, ich stelle nur fest: so ist es. Wer könnte es sich denn leisten, leistungsschwach zu sein; wer ist so gesund, sich für eine Krankheit
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Zeit nehmen zu können; wer ist so selbständig, freiwillig seine Selbständigkeit einschränken zu können? Hier gibt es Zwänge und Ketten, die ein einzelner kaum sprengen kann. Hier kommt die Sklaverei in den Blick, die es nötig macht, auch in Europa eine eigenständige Befreiungstheologie zu entwickeln (vgl. dazu: Bach Thesen, und: Bach Frau N). Und wenn doch einmal einzelne diese Ketten sprengen (ich denke etwa an Albert Schweitzer, Janusz Korczak oder Mutter Theresa), dann sind wir geneigt, solche Menschen als etwas absolut Außergewöhnliches zu beklatschen, womit wir nebenbei zu verstehen geben: für mich kommt so etwas natürlich nicht in Frage. Warum eigentlich nicht?
Gott sei Dank, gibt es auch heute relativ viele, die so fragen: warum eigentlich nicht“, und die dann etwa in pflegende Berufe gehen. Nur: wie geht deren Geschichte weiter? Sind sie nicht oft sträflich alleingelassen? – Man mag es beklagen, daß die Eintritts-Zahlen bei pflegenden Berufen heute nicht höher sind, als es der Fall ist. Was ich aber viel aufregender finde, ist die Tatsache, daß so viele von denen, die einen pflegenden Beruf beginnen, die auch die Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen haben, nach einem halben Jahr schon oder nach zwei Jahren in total anderen Berufsfeldern wiederzufinden sind. Hatten wir sie nicht genügend begleitet? – Ich bin ja beim Thema der „gemachten Trostlosigkeit“
und möchte fragen, ob wir Diakoniker uns nicht der „geistigen Ausbeutung“ schuldig machen. Ich meine folgendes: Wenn es „in“ ist, jung zu sein, sind alte Menschen „out“; das sagte ich bereits ähnlich. Nun aber weiter: Wenn Jung-sein „in“ ist, ist es ebenfalls „out“, sich hauptberuflich um alte Menschen zu kümmern. Wie gehen Mitarbeiter mit diesem Konflikt um, den sie natürlich nicht nur in Begegnungen draußen spüren („was, da arbeitest du?“), sondern auch in sich selber? Auf der Gruppe gilt der Satz: Sie dürfen so hinfällig und schwach sein, wie Sie sind; so wie Sie sind, sind Sie ein guter und wertvoller Mensch. Zu Hause aber, wenn der Sohn in der Mathe-Arbeit eine „5“ hatte, ist es vielleicht gar nicht angebracht, ‚ähnlich zu reden; da ist es vielleicht richtiger zu. sagen: wenn aus dir ‚was werden soll, mußt Du dich aber tüchtig auf den Hosenboden setzen. – Das sollte nur ein Mini-Beispiel sein, an dem ich klarmachen wollte: Pflegekräfte haben es ständig, hautnah und existentiell mit zwei gegensätzlichen Menschenbildern zu tun, zwischen denen man zerrieben werden kann wie zwischen Mühlsteinen, wenn man nicht gelernt hat, diese Konflikte geistig in den Griff zu bekommen. Wer im Blick hat, daß (wie gesagt) die „gemachte Trostlosigkeit“ von uns allen hergestellt, gefördert und gefestigt wird, kann erkennen, daß Mitarbeiter im Altenbereich notwendigerweise auf beiden Seiten vorkommen: auf der Täter- und auf der Opferseite. Ich behaupte: Eine Diakonie, die Tausende in solche Konflikte schickt und sie dort nicht intensiv begleitet, macht sich der mangelnden Aufsichtspflicht schuldig – oder geistiger Ausbeutung. Auch solche Unterlassungen vergrößern noch einmal die zur Rede stehende Trostlosigkeit.
Bitte erwarten sie jetzt nicht von mir, daß ich die Trostlosigkeit auflösen könnte. Gerade weil sie in hohem Maße von uns allen gemacht ist, wird es kaum möglich sein (es sei denn, wir ändern radikal unser Leben), sie zu beheben. Die Frage muß sein: Wie können wir sie angehen, ohne in ihr unterzugehen. Das erste ist das ehrliche Eingeständnis (ich sage es noch einmal): Ich habe keine Lösung. Ich kann die Trostlosigkeit nicht wegreden. Ich weiß keinen einleuchtenden “Trost“ anzubieten. Und dennoch möchte ich noch weiterreden, weil ich nämlich davon überzeugt bin: Es gibt eine Möglichkeit, die nicht wegzudiskutierende Trostlosigkeit erträglich zu machen, oder vorsichtiger: sie wenigstens ein bißchen erträglicher zu gestalten.
Wenn ich jetzt auf die Kreuzestheologie Luthers zu sprechen komme, dann ist mir jener Tucholsky-Satz nicht etwa ein unbequemes Warnschild; vielmehr sehe ich in ihm eine ausgesprochene Hilfe: Wer Luthers Theologie des Kreuzes liest und sich von vornherein vornimmt, jede Aufspaltung in zwei Überzeugungen (eine für die guten, eine für die schlechten Tage) streng zu vermeiden, der hat bereits eine wichtige Entscheidung Luthers mitvollzogen. Luther sagt (ich möchte es einmal wagen, den Extrakt der Lutherschen Kreuzestheologie in einen einzigen Satz zusammenzupressen), Luther zeigt hin auf das Kreuz von Golgatha und sagt: da bist du selig geworden – oder: da hat Gott für dich gesorgt,
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oder: da ist Gott mit dir und du mit Gott klargekommen. Natürlich ist das eine brauchbare „Überzeugung, wenn’s einem schlecht geht“: Der (ich bleibe beim Thema) altersschwache Mensch darf hören: Du bist okay, denn Christus ist für dich gestorben. Und daß ich nichts mehr arbeiten kann, und nichts mehr behalten, vielleicht auch nichts mehr bei mir behalten kann? Das ist so, aber dadurch bist du kein bißchen weniger okay.
Nebenbei gesagt: Auch heute wird Luthers Kreuzes-Theologie zuweilen noch immer mißverstanden, als sei sie eine dunkle, nach unten ziehende, den Menschen moralisch fertigmachende Angelegenheit. Das Gegenteil ist richtig. Originalton Luther. „Das ist die Kraft seiner Passion, daß sie kecke Leute macht .. Der Tod des Christus … macht andere Leute mutig“ (Luther EV V, S. 23). In heutigem Deutsch: Luthers Kreuzestheologie trainiert mit uns den „aufrechten Gang“. – Und wenn’s einem nicht schlecht geht? Wenn man sagen kann: ich bin wer, denn ich bin soeben befördert worden; ich bin wer, denn meine Kinder schafften das Abitur; ich bin wer, denn ich laufe die hundert Meter in zehn-sieben? Dann allerdings könnte Luther unpassend kommen: Das ist so, aber dadurch bist du kein bißchen mehr okay. Tu das alles an die Seite, wenn es um deine Lebensbasis geht; denn du bist wer, weil Christus für dich gestorben ist. Tatsächlich verdirbt Luther denen die Laune, die übermütig in ihrem Leben ohne Gott auskommen wollen, die, wenn sie überhaupt von Gott reden, dann von ihm erhoffen, er werde ihren Karriere- und Gesundheits-Rummel fördern und vor Schädigungen bewahren. Solches Götzenbild wird durch Luthers Kreuzes-Theologie allerdings nachhaltig zertrümmert. – Und das ist nicht etwa nur für den sozusagen binnenkirchlichen Bereich wichtig. Nein, was Luther hier zerschlägt, ist das, was unser Miteinander in der Gesellschaft ruiniert: Die Starken brüsten sich mit Stärke, Ansehen und Erfolgen; und für die Ärmsten am Rande bleibt immerhin als Trost der liebe Heiland. Das macht uns kaputt; das macht unsere Gesellschaft zu einer gespaltenen Gesellschaft, zu einer Apartheidsgesellschaft, in der sich die Stärkeren über die Schwächeren erheben, die Jungen über die Alten, die Könner über die Nicht-Angepaßten. Das will Luther verhindern; er will das Getrennte zusammenbringen und versöhnen. Kurzum: Luthers Kreuzestheologie muß endlich begriffen werden in ihrer sozialtherapeutisehen Funktion.
Zu meiner und gewiß auch Ihrer Freude lassen sich diese wichtigen Tatbestände auch wesentlich anschaulicher erzählen. Wir müssen nur von Luther zu Lukas wechseln.
Der dritte Evangelist erzählt vom alten Simeon (Lukas 2, 25-35). Der kommt in den Tempel in dem Augenblick, als auch drei andere dort sind: Maria, Josef, das Kind. Die Eltern wollen für das Baby das Opfer darbringen, wie es damals üblich war. – Da tritt Simeon auf sie zu: Ein alter Mann, ein frommer Mann; darf ich auch sagen: ein geduldiger Mann? Ich weiß es nicht. Simeon wartete wie viele Menschen damals auf das Kommen des verheißenen Retters, des Heilandes. Gott wird ihn senden. Aber wann? Man wartete und hoffte. Simeon – wartete und hoffte. Nur war eine Sache bei ihm anders: Gott hatte ihm versprochen: Du wirst es noch erleben. Noch zu deinen Lebzeiten soll der Messias geboren werden; du wirst ihn leibhaftig sehen. Simeon wartete und hoffte. Sein Bart wurde länger, die Haare wurden weißer. War er geduldig? Wir wissen es nicht. Schon möglich, daß dieser fromme Mann hin und wieder ungeduldig dachte: Nun wird’s aber Zeit!
Jetzt trifft er diese drei: Maria, Josef, das Kind. Simeon weiß: Gottes Versprechen ist erfüllt: Hier ist der Retter. Dieses Kind ist der Heiland. Endlich! Ach, ist das gut! Und er nimmt das Kind auf seine Arme und ist völlig in Einklang mit sich, mit seinem Leben, mit seinem Gott.
Für mich gehört Simeon zu den faszinierendsten Gestalten der biblischen Geschichte. Ich möchte so glauben können wie Simeon. Ich möchte so wie er in Einklang sein gleichzeitig mit mir und mit Gott. Unglaublich schön ist dieses Bild: Der alte Simeon, das Jesuskind auf den Händen: Herr, jetzt ist alles gut. Der freie Simeon: Jetzt habe ich Frieden und brauche auch vor dem Sterben nicht zu erschrecken.
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Ich werde bald sterben – ja und? Ich kann jetzt in Frieden Abschied nehmen. Denn das Wichtigste, was
ein Mensch überhaupt erleben kann, ich habe es erlebt: Ich habe mit meinen Augen deinen Heiland gesehen.
Komme ich ins Schwärmen? Steigere ich mich jetzt hinein in jene zweite Überzeugung für die schlechten, für die alten Tage, also in die religiöse Vertröstung? Ist vielleicht Lukas selbst ein Meister der Vertröstung? So könnte ihn nur der verstehen, der dem Evangelisten nicht weiter zuhört. Denn in seinem Evangelium erzählt er, viel später; noch von einem anderen Mann (Lukas 12, 16-21); auch der hat gesagt: Jetzt habe ich Frieden; jetzt kann mir nichts passieren; ach, ist das gut! Aber dieser andere Mann wird ein „Narr“ genannt. Und ich denke, von Simeon kann ich nur dann glauben lernen, wenn ich auch jenen zweiten Mann im Blick habe. – Landwirt war er, Kornbauer oder besser: reicher Gutsbesitzer. Armut hatte er nie kennengelernt. Aber dann kam ein Jahr – wie aus dem Bilderbuch! Kom und andere Früchte wuchsen, es war eine Lust, die kommende Ernte heranreifen zu sehen. Die Scheunen müssen weg, sind viel zu läppisch. Großsilos müssen her, koste es, was es wolle – die Ernte bringt’s wieder rein. Und richtig: Alle Groß-Scheunen und Silos wurden voll, die Schulden sind bezahlt, unser Gutsbesitzer lehnt sich zurück, kann aufatmen; alle Mühe hat sich gelohnt. Nun habe ich Ruhe und Frieden für viele Jahre. Endlich! Ach, ist das gut!
Ein zweiter Simeon also? Das Gegenteil von Simeon! Der Gutsbesitzer konnte keineswegs in Frieden Abschied nehmen. Die Frage: wenn du heute Nacht sterben mußt, wem wird gehören, was du angesammelt hast?, diese Frage deckte seine Narrheit auf: Sein Lebensziel und sein Lebensinhalt waren volle Taschen; zugegeben: die hatte er. Aber er hatte vergessen: Das Totenhemd hat keine Taschen. – Simeon brauchte keine Taschen. Was ihn froh machte, kann man nicht in die Tasche stecken; es paßt nur in unsere Herzen. Und Simeons Herz war voller Freude und Frieden. Er hält das Gotteskind in den Armen. Er war nicht reich. Er war nicht jung. Er war weder erfolgreich noch konkurrenzfähig. Er war in Einklang mit Gott. Das war besser als alles andere.
Bei Lukas das gleiche wie bei Luther: Der Tod Jesu ist deine Lebensbasisin schlechten und in guten Tagen – oder gar nicht. Das Reich-sein-in-Gott war dem Simeon angeboten und dem Gutsbesitzer, beiden für ein ganzes Leben; wer allerdings in guten Tagen auf volle Scheunen setzt, kann auch, wenn es hart auf hart kommt, nicht in Frieden Abschied nehmen. Der Religions-Kitsch, den Tucholsky mit jenen zwei Überzeugungen bissig ironisiert, ist weder bei Luther noch bei Lukas unterzubringen.
Wer ist mein Vorbild? Simeon oder der Kombauer? Ist Gott mein Freund – dann muß auch die Armut nicht mein Feind sein, auch nicht Krankheit, Behinderung oder Alter. Oder ist die Armut mein Erzfeind, und etwas Schlimmeres ist für mich nicht denkbar? Dann habe ich nichts übrig für Gott. Denn ich kann nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon, dem gekreuzigten Gottessohn und den vollen Scheunen.
So wichtig Trost und innerer Friede sind – indem Lukas von Simeon und vom Kombauern erzählt, sagt er: Friede kann Gift sein. An dem Satz: „Ach, ist das gut, jetzt kann mir nichts mehr passieren!“, können wir Menschen auch verrecken; denn vielleicht ist da gar nichts gut; vielleicht ist da nur Lüge und Verführung. – Was heißt in meinem Leben „Friede“ und „Trost“? Lasse ich mich verführen; lasse ich mir vorlügen, ich könne sorglos und getröstet leben, wenn ich eine neue Stereo-Anlage oder einen schnittigen Wagen habe, wenn ich ohne Rollstuhl auskomme und nicht zu den Arbeitslosengeld-Empfängern gehöre? Oder lerne ich bei Simeon, was Friede in Wahrheit ist: Reich sein in Gott und darum die Kraft haben, wenn’s sein muß, alles andere loszulassen? Herr, jetzt könnte dein Knecht in Frieden sogar sterben, denn ich habe erkannt, daß du mein Freund bist.
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Zu Beginn dieses Gedankengangs zu Luther und Lukas hatte ich gesagt: Es gibt eine Möglichkeit, die nicht wegzudiskutierende Trostlosigkeit erträglich zu machen, oder sie wenigstens ein bißchen erträglicher: zu gestalten. – Wer könnte sie erträglicher gestalten? Jeder für sich, oder wir miteinander? – Dazu zwei Notizen:
Zunächst grundsätzlich: Ich halte es seit langen Jahren für die zentrale diakonische Aufgabe unserer Kirche (noch vor allem Geldsammeln, Häuser-Bauen und sozialberuflichem Tätigwerden), wieder glauben zu lernen, sich also beispielsweise Simeon schon in jungen Jahren zum Vorbild zu nehmen, oder: die erste Frage des Heidelberger Katechismus, nach der Jesus Christus der einzige Trost ist, schon im „Leben“ zu trainieren und nicht erst, wenn es dem „Sterben“ zugeht. – Darf ich mir für diese Tagung den Vorschlag erlauben, hiermit jetzt zu beginnen: indem wir uns Gedanken machen über den Trost für die „uns anvertrauten Menschen“, sollten wir offen auch davon sprechen, was uns denn „tröstet“ und hält. Leiten wir nur andere zum Schwimmen an, oder lassen wir uns selbst vom gleichen Wasser tragen? Und es kann sogar geschehen, falls ich wirklich mit ins Wasser gehe, daß (ich denke noch einmal an die alte Dame und ihr Pudding-Schälchen) – daß ich zum eigenen Schwimmen neu ermutigt werde, wenn ich sehe, wie sich andere ganz selbstverständlich vom „Wasser“ tragen lassen.
In meiner zweiten Notiz will ich den Versuch machen anzudeuten, wie das im Alltag unserer Einrichtungen aussehen könnte, wenn wir uns miteinander (Bewohner, Mitarbeiter, Leitung) daranmachen, die oft nicht wegzukriegende Trostlosigkeit gemeinsam zu bestehen.
Bei der Gelegenheit ist es für Sie vielleicht nicht uninteressant zu hören, bei welchem Ausdruck in Ihrer Zeitschrift „Johannesruf“ man stutzig werden kann, wenn man 64 Jahre zählt und bereits seit über vierzig Jahren pflegeabhängig ist. Als ich da (‚2/95, S. 14) auf „die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze“ stieß, fiel mir ein, was ich kurz zuvor in einem Bericht eines ZDL-ers gelesen hatte: „Ich kniete mich hin und zwängte meinen Zeigefinger in die engen Zwischenräume seiner rissigen, verwachsenen und brandigen Zehen – und pulte auch dort die Scheiße hervor. Vor zwei Tagen ist der Alte gestorben. Wir sind alle sehr zufrieden darüber“ (Jochen Temsch (Zivi, 23 J.), Das wird schon wieder, in: ZEIT -Punkte 2/95. S. 10). Vorstellbar wird für mich: ich bin demnächst jemand, vor dem einer von Ihnen knien muß, um zwischen meinen Zehen den Kot oder das verschüttete Gemüse herauszupulen. Vorstellbar wird für mich, daß Ihr Arbeitsplatz dadurch nicht gerade attraktiver wird. Vorstellbar also wird für mich: Vielleicht bin ich es. der Ihren ansonsten attraktiven Arbeitsplatz versaut. – Aber ich kann doch nicht dafür. Und auch Ihnen ist kein Vorwurf zu machen; natürlich haben Sie das. Recht auf einen attraktiven Arbeitsplatz, ich denke nicht daran, Ihnen das streitig zu machen. Nur: wie reimt sich beides zusammen? Ich weiß es nicht. Aber mir fällt noch jemand ein, der sich hinkniete und anderen zwischen den Zehen herumpulte. Im Johannes-Evangelium findet sich diese Geschichte, wie Jesus, wie der Gottessohn seinen Jüngern die Füße wäscht (Johannes 13, 1-17). Die hatten zwischen den Zehen vermutlich weder Kot noch Gemüse. mit Sicherheit aber – das ist bei den heißen und staubigen Wegen Palästinas kaum anders vorstellbar – ein unappetitliches Gemisch aus Sand und verkrustetem Fußschweiß. Jesus hatte keinen attraktiven Arbeitsplatz. Und: Er nennt gerade dieses Tun diakonisch.
Aber Vorsicht! Es wäre jetzt ein übler Kurzschluß, wollte ich hier fortfahren: Habt Ihr Mitarbeiter gehört, wie Jesus das machte? Also; stellt euch nicht an, verzichtet auch Ihr auf einen attraktiven Arbeitsplatz; andernfalls kommt Ihr als diakonische Mitarbeiter nicht in Frage. Mit solchen Sätzen hätte ich das heilige Evangelium als Peitsche mißbraucht, mit der ich auf Mitarbeiter eindresche. – Auch wenn ich hier keine Lösung weiß, möchte ich sagen, in welche Richtung ich denke. Meines Erachtens müßte zweierlei zusammenkommen: Auf der einen Seite tatsächlich Menschen. die bereit sind. eine deutliche Un-Attraktivität ihres Arbeitsplatzes mindestens auf Zeit in Kauf zu nehmen (Diakonie nach dem Modell der Fußwaschung). Das würde aber sofort zu einer Ausbeutung der Mitarbeiter führen, wenn das andere nicht hinzukäme: Strukturen, sorgfältigste Vorgesetzten-Auswahl, Bildung von sich
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besonders gut verstehenden Mitarbeiter-Teams und anderes – alles mit dem Ziel, diese Arbeitsplätze gewissermaßen von außen her attraktiv zu machen. – Ich wills konkreter fassen und erinnere an jenen ZDL: „Vor zwei Tagen ist der Alte gestorben. Wir sind alle sehr zufrieden darüber.“ So etwas muß doch zunächst einmal ausgesprochen werden dürfen. Dann aber muß auch etwas anderes legitim sein: Etwa als Mitarbeiter(in) nach einem freien Wochenende auf die Gruppe kommen, und schon im Auto oder noch früher spürte man in sich die Hoffnung, daß „der Alte“ nicht mehr lebt. Man kommt auf die Gruppe – er lebt immer noch! Sind jetzt Kollegen und Vorgesetzte da, denen man das sagen kann: „Ich bin richtig ein bißchen alle, ich hatte gehofft, Herr Meyer ist gestorben, ich kanns bald nicht mehr ertragen“, und von denen man dann nicht zu hören bekommt: stell dich nicht an, du willst ein Christ sein?, du taugst wohl nicht für Diakonie, wenn du so schlapp bist; sondern die dann vielleicht sagen: ich kann dich verstehen, mir ging es auch schon so? – Natürlich ist das sofort eine Frage nach der Personal-Struktur und der Personalmenge, ich weiß. Aber eins ist auch klar: Wenn wir von Mitarbeitern besondere Belastbarkeit erwarten, ohne gleichzeitig durch flankierende strukturelle Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Belastungen einigermaßen erträglich bleiben, dann, haben die Einrichtungen diakonisch versagt, nicht die Mitarbeiter.
Jetzt, ganz zum Schluß, sollte ich doch noch einmal von meiner Rolle reden, in der ich den heutigen Vortrag hielt. Sonst könnten gerade meine letzten Ausführungen klingen wie kluge Ratschläge eines Ober-Diakonikers. Nein, der bin ich nicht; der will ich auch nicht sein: Ich sprach die ganze Zeit als Betroffener: als einer, der in zwei Monaten in Rente geht, als einer, der seit vierzig Jahren keinen Tag ohne Pflege auskommt, als einer, der kürzlich lebensgefährlich erkrankt war. In dieser Rolle muß ich es für möglich halten, daß ich eines Tages auf einer Ihrer Gruppen liege; ja, vielleicht bin ich dann irgendwann der „Herr Meyer“, von dem Sie hoffen, er ist am Wochenende gestorben – aber ich lebe.
noch immer. Mir ist es heute wichtig, solche Situationen in meinem Denken zuzulassen. Und Sie hätten mich richtig verstanden, wenn Sie meine Ausführungen als zweigeteilte Bitte gehört haben:
a) Laßt uns das „diakonische Hauruck“ gar nicht erst versuchen, also die Beteuerung, bei uns ist alles okay, macht bloß die Diakonie nicht schlecht!,
b) laßt uns miteinander aushalten, daß wir keine Ideallösung haben und auch keine Idealmenschen sind, keine Ideal-Alten, keine Ideal-Mitarbeiter, keine Ideal-Leitungen. Der alte Mensch muß wissen dürfen: ich bin (unter Umständen!) eine kaum noch erträgliche Zumutung. Und die Mitarbeiterin muß sagen dürfen: ich habe nicht so viel Geduld, wie sie für diesen „Herrn Meyer“ richtig wäre.
Wenn wir miteinander als unvollkommene, als fehlerhafte, als andere Menschen belastende Menschen Mut füreinander entwickeln, dann ist die Trostlosigkeit nicht einfach weg. Aber sie ist ein Stück weit erträglicher geworden, davon bin ich überzeugt.
—- Kürzel der zitiertenLiteratur—-
Bach Frau N =Ulrich Bach, Wer hat Angst vor Frau N.? Ein Kapitelchen abendländischer Befreiungs-Theologie, in:
Diakonie (DW der EKiD), 4/1987, S. 198-202
Bach Thesen = ders., „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal..5,1) – Thesen zu einer abendländischen Befreiungs-Theologie (ursprünglich: Evangelische DiakonenanstaIt Martineum, Beilage zum Monatsbrief Oktober 1987). Junge Kirche 49. Jg., 1988. S.478ff
Brecht Gedichte = Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, (Suhrkamp) Frankfurt/M. 1981
Feyerabend (u.a.) WN = E. Feyerabend, U. Fuchs, W. Kobusch, J. Paul, Erlaubt wird. was machbar ist. Vom Wahnsinn der
Normalität – die »Bioethik-Konvention«, in: Soziale Psychiatrie 2/94, S. 2-31
Jens-Küng MW = Walter Jens, Hans Küng, Menschenwürdig sterben, Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, Mit Beiträgen
von Dietrich Niethammer und Albin Eser, (Piper) München und Zürich 1995
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Luther Ev V = D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. von E. Mülhaupt, Göttingen; Band V: 2. Aufl 1954
Neruda LW III = Pablo Neruda, Das lyrische Werk. Band 3 (hg. von Karsten Garscha) (Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1986), Büchergilde Gutenberg oJ.
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Schernus HL = Renate Schernus. Heiligkeit des Lebens – ein Märchen von Gestern?, Vortrag auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg, Forum Lebenswert und Lebensrecht am 15.6.1995, Manuskript
Schernus ÜMB = dies., Über-menschliche Barmherzigkeit, Eine Entgegnung auf Walter Jens und Hans Küng, in: Wege zum Menschen (Göttingen), 47. Jg., 1995, Heft 6, S. 362-370
Tucholsky AW II = Kurt Tucholsky, Ausgewählte Werke, Band 2, (Rowohlt) Reinbek bei Hamburg 1965
ZEIT·Punkte 2/95 =Theo Sommer (Hg.), Was darf der Mensch?, ZElT-Punkte 2/1995 (ZEIT-Verlag Hamburg)