aus:
Theologische Literaturzeitung 132 (2007), 1235-1237
Bach, Ulrich: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. 512 S. … Geb. EUR 34,90 ISBN 3-7887-2160-X.
Wie verhalten sich Nichtbehinderte und Behinderte in Gesellschaft und Kirche zueinander? Leben Behinderte und Nichtbehinderte definitiv getrennt, in “Apartheid”? Sind Heil und Gesundheit weitgehend identisch? Sind also Behinderte doch weiter enrfernt vom Heil? Wie sind auf dem Hintergrund dieser Fragen die neutestamentlichen Heilungsgeschichten auszulegen? Wie sind die Thesen zum “Wert” von behinderten Menschen, die Peter Singer entfaltet, zu beurteilen? Wirkt heimlich ein “Peter Singer in uns”? Welche Wirkung haben die Möglichkeiten der Medizin, auf die “Akzeptanz” von Behinderten? Wie sind die parlamentarischen und kirchlichen Äußerungen zu Behinderten und zur Bioethik zu bewerten? Diese und weitere Fragen bearbeitet das Buch von B., in dem Arbeiten aus fast 30 Jahren versammelt sind.
Es handelt sich um ein sehr persönliches Buch, Theologie und Biographie sind hier aufs Engste verwoben. Der Autor, Dr. theol. h.c. Ulrich Bach, war Pastor an den Orthopädischen Anstalten Volmarstein, heute: Evangelische Stiftung Volmarstein, einer Einrichtung für Behinderte, und Dozent für Neues Testament und Dogmatik. Seit einer Erkrankung an Kinderlähmung im Jahre 1952, nach dem dritten Semester des Theologiestudiums, ist er selbst auf den Rollstuhl angewiesen. Sein Lebenswerk ist die Arbeit mit Behinderten und die theologische Reflexion über deren Situation in Gesellschaft und Kirche und über das Verhalten von Kirche, Gesellschaft und Theologie gegenüber Behinderten.
Der Untertitel erinnert mit dem Namen „Hadamar“ an die dortige Heilanstalt als einen der Orte, an dem während des nationalsozialistischen Regimes die sog. „Euthanasie“ durch Ermordung von vielen Tausenden Behinderten und psychisch Kranker vollzogen wurde. Thema aller Arbeiten von B. ist das Bemühen um eine Theologie, die die Einstellungen brandmarkt und unmöglich macht, die zur Vernichtung von Behinderten führen konnten, denn Kirche, Theologie und Diakonie sind mitschuldig geworden an den Verbrechen.
Die Hauptthese der Theologie B.s und dieses Buches ist: „Ob ein Mensch Mann ist oder Frau, blind oder sehend, schwarz oder weiß, dynamisch-aktiv oder desorientiert-pflegeabhängig, ist theologisch (von Gott her, im Blick auf Heil oder Unheil) absolut ohne Bedeutung … Das allerdings ist von Bedeutung, denn es entscheidet darüber, ob wir noch ‚dem Alten’ zugehören … oder ob es unter uns ’neue Kreatur‘ gibt: alle allzumal einer in Christus, die Familie Gottes, der Leib Christi, die Gemeinde als Gegenwirklichkeit zur Apartheid'“ (26). Die eschatologische Egalität von Gal 3,28 bietet die Grundlage für eine christologisch orientierte „Theologie nach Hadamar“, die B. entwerfen will. Er versteht sie in Analogie zu einer „Theologie nach Auschwitz“ (377 ff.).
Die sechs Abschnitte des Buches, das mehrheitlich auf schon veröffentlichte Arbeiten B.s zurückgeht, die redigiert und erweitert wurden, aber auch noch unveröffentlichte Aufsätze enthält, kreisen um die zitierte These und bemühen sich, die Trennung, den Riss zwischen Behinderten und Nichtbehinderten im Alltag und in den Köpfen der Menschen aufzudecken und zu überwinden. Die Einführung (Abschnitt I) schildert die persönlichen Erfahrungen B.s mit dem Beginn seiner Behinderung und führt den seit langem von B. benutzten Begriff „Sozialrassismus“ für die Trennung von Behinderten und Gesunden ein. „Theologie nach Hadamar“ ist kontextuelle Theologie, die wie die südamerikanische Befreiungstheologie von unten her, von der Situation der Behinderten aus, ansetzt (Abschnitt II). „Theologie nach Hadamar“ wird als europäische Befreiungs-Theologie thematisiert (Abschnitt III). Abschnitt IV handelt von der Notwendigkeit, Abschnitt V zeichnet Grundzüge einer „Theologie nach Hadamar“. Abschnitt VI behandelt Mk 1 und 2 als Grundtext einer „Theologie nach Hadamar“ und beschäftigt sich mit der Auslegung der Heilungsgeschichten Mk 1,21 bis 2,12. Den Abschluss bildet eine Pfingstpredigt von 1996: „Gemeinde in der Sonderschule Jesu“.
Der gedankliche Aufbau des Buches folgt einer kreisenden oder spiralförmigen Bewegung, in der die zentrale These – in einer kurzen Formulierung gegen Ende des Buches lautet sie: „Behindert-Sein [ist] wie Nicht-Behindert-Sein eine Möglichkeit innerhalb der guten Schöpfung Gottes“ (487) – reflektiert und an der alltäglichen Erfahrung im Umgang mit Behinderten ebenso wie an einer Vielzahl von Äußerungen aus der theologischen und diakoniewissenschaftlichen Literatur überprüft wird.
B. schreibt keine Behinderten-Theologie, das würde die Behinderten lediglich als Objekte in einer Sonderrolle thematisieren. Aus Sicht der Schöpfungstheologie muss es heißen: „ein behinderter Mensch [ist] ein gutes Geschöpf Gottes“ (73). Im Sinne des Schöpfungsglaubens gehört der Schwerstbehinderte von Anfang an dazu, denn „[d]as Defizitäre gehört mit in die Definition des Humanum“ (46). Das Ideal des Gesundheitskultes und der „Kalokagathia“ wird abgelehnt. Aber darüber hinaus betont B., dass nicht nur der Behinderte, sondern auch die Behinderung in die gute Schöpfung Gottes hineingehöre (75). B. wendet sich gegen den Satz aus der Gemeinsamen Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“: „Gott will auch den Behinderten, er will nicht die Behinderung“ (108). Er begründet das mit dem Willen Gottes, der aber auch in B.s Formulierungen eine unterschiedliche Zielrichtung hat. Einerseits heißt es: „Gott will, daß dieses Leben im Rollstuhl mein Leben ist“ (161. u.ö.), andererseits beruft B. sich auf die Thesen von Walter Groß und Karl-Josef Kuschel („Ich schaffe Finsternis und Unheil“) und notiert: „Daß Gott der Urheber auch der von uns als negativ empfundenen Größen ist, wird in Jes 457 sprachlich sehr bewußt unterstrichen (308). Mit der Begründung der Behinderung durch den verursachenden Willen Gottes ist eine gewagte These ausgesprochen. Gegenüber dem guten Schöpferwillen wird konsequenterweise die Möglichkeit der Theodizee abgelehnt (146 f.). Theologie als kontextuelle, europäische Befreiungstheologie ist nach B. zu verstehen im Anschluss an die südamerikanische Befreiungstheologie und die durchaus differenziert wahrgenommene Feministische Theologie. Sie deckt die Knechtung unter die Gesundheits- und Leistungsideale der Gesellschaft auf (51, vgl. die „Thesen zu einer abendländischen Befreiungstheologie“ von 1987, 182-189). Als Theologie von unten widersteht sie einem Wunschgott und der Glücksmentalität (111 f.).
Die sog. Integration der Behinderten darf nach B. nicht als „Eingliederung“ der Behinderten als Objekte in eine „normale“ Gesellschaft und in die Gemeinden verstanden werden, vielmehr muss es zu einem grundsätzlichen Perspektivenwechsel der Nichtbehinderten kommen. Die Frage im Blick auf Schwerstbehinderte, ob das noch Menschen seien, müsse umgekehrt werden in die Frage Sind wir noch Menschen? (70) Behinderte müssen als Subjekte von Kirche und Gesellschaft erkennbar werden. B. zitiert Bodelschwingh: „[H]ier sitzen die Professoren, die uns deutlich beibringen, was Evangelium und was Gotteskraft zur Seligkeit ist“ (92), und fordert daher für eine diakonische Kirche das Prinzip der Gegenseitigkeit.
Leitgedanke der von B. entwickelten Anthropologie und Soteriologie ist die deutliche Trennung von Heil und Heilung. Entgegen den in der theologischen Diskussion herrschenden Ganzheitlichkeitswünschen stellt B. fest „Gottes Heil kann auch ohne des Menschen Heilung des Menschen volles Heil sein“ (357). Entfaltet wird das vor allem an der Exegese der Heilungsgeschichten Mk 1 und 2 (407-449). Jesus heilt durch Sündenvergebung das Gottesverhältnis, die Heilungen haben jeweils eine andere, oft demonstrative Funktion. Jesu Auftrag und seine Vollmacht war nicht die Heilung, sondern die Verkündigung des Heils. Auch die Kirche hat keinen Heilungsauftrag, der dann ja bei den Behinderten nicht zum Ziel gekommen wäre. Dagegen heißt es: „Gesundheit und Krankheit sind zwei verschiedene, aber in gleicher Weise uns von Gott anvertraute Lebensbedingungen“ (476).
B. entwickelt aufrüttelnde, provozierende theologische Gedanken in oft markanter Sprache. Man kann fragen, ob die Exegese der Heilungsgeschichten nicht doch stärker den weltbildlichen Unterschied zwischen dem Neuen Testament und dem 21. Jh. wird berücksichtigen müssen. Möglicherweise hat das Neue Testament Krankheit doch in größerer Nähe zu dämonischer Besessenheit gesehen, als B. das wahrhaben will. Das Problem könnte mit hermeneutischen Überlegungen geklärt werden, ohne dass B.s Anliegen aufgegeben werden müsste. Auch die Frage nach dem Willen Gottes bedarf weiterer Diskussion. Gleichwohl wird man die Forderungen einer „Theologie nach Hadamar“ nicht mehr aus der Diskussion um eine diakonische Kirche und um das christliche Verständnis der Anthropologie ausklammern dürfen.
Leipzig
Gunda Schneider-Flume